9punkt - Die Debattenrundschau

Der Kater meiner Cousine

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.11.2022. Während die taz erzählt, wie russische Propagandisten noch den Rückzug aus Cherson als Erfolg verkaufen, denkt Anne Applebaum in Atlantic darüber nach, wie Russland als Demokratie zu denken wäre: das ginge nur als Nationalstaat, nicht mehr als Imperium.  Innerhalb des russischen Imperiums aber, so Martin Schulze Wessel in Antwort auf Eugen Ruge in der FAZ, dominierte stets der russische Nationalismus. Ebenfalls in der FAZ erinnert Ines Geipel an Werner Schulz. Die SZ macht sich Gedanken über die Kirchen in Deutschland, die nicht mal mehr die Hälfte der Bevölkerung repräsentieren. Und die Welt fragt: Warum liebt die Welt autokratische alte Männer?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.11.2022 finden Sie hier

Europa

Die russischen Propagandisten verkaufen sogar noch den Rückzug aus Cherson als Erfolg und stricken an der Legende, dieser "sei eine militärische Notwendigkeit, um Menschenleben zu retten", berichtet Inna Hartwich in der taz. "'Es war eine schwierige, aber eine richtige Entscheidung', sagte Dmitri Kisseljow, der Leiter der staatsnahen russischen Medienholding Rossija Segodnja, in seinem Wochenrückblick 'Westi Nedeli' am Sonntag. 'Das Nazi-Regime in der Ukraine rührt sich noch, aber unsere Methoden, das Land im Dunkeln zu lassen, funktioniert. Die Zeit spielt für uns', sagte er gewohnt zynisch und ließ Bilder aus dem abendlichen Kiew einblenden, das nicht beleuchtet ist. Sein grobschlächtiger Propagandakollege Wladimir Solowjow wiederholte in seiner Abendsendung bei Rossija 1 die Worte von einer 'schwierigen Prüfung in diesem Krieg des Westens gegen Russland'."

Die russischen Soldaten haben bei ihrem Abzug aus Cherson die gesamte Infrastruktur der Stadt zerstört, meldet Zeit online und erwähnt nebenbei auch, dass seit Kriegsbeginn mindestens 11.000 ukrainische Kinder nach Russland entführt wurden.

Der Historiker Felix Ackermann kommt in der FAZ nochmal auf Harald Welzer im Gespräch mit dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk und Jakob Augstein im Gespräch mit der ukrainischen Autorin Tanja Maljartschuk zurück und analyisert deren totale Empathielosigkeit mit der Ukraine als Symptom der deutschen Russophilie: "Dieser Russlandkomplex ist so sehr Teil des Selbstverständnisses der Bundesrepublik, dass Jakob Augstein 2022 ein Gespräch über den heutigen russischen Krieg führen kann, in dem er die Narbe seines Vaters anführt, ohne mit einer Silbe zu erwähnen, dass dieser selbst in der Ukraine im Einsatz war, wo die Wehrmacht für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich war. (...) Der rhetorische Einsatz der deutschen Narbe ohne die Informationen, wie es eigentlich konkret zu dieser Verwundung gekommen war, folgt der allgemeinen Tendenz, dass viele Deutsche zwar im Bewusstsein leben, Weltmeister in Vergangenheitsbewältigung zu sein, aber in der Regel nicht wissen, in welcher Einheit der Wehrmacht ihre Vorfahren im Einsatz waren."

Ines Geipel erinnert in der FAZ noch einmal an den Bürgerrechtler Werner Schulz, der bei der Gedenkveranstaltung zum 9. November im Schloss Bellevue gestorben ist. Er gehörte zu den wenigen, die sehr früh Kontakt zur russischen Opposition suchten, schreibt sie: "Als Werner Schulz 2009 ins Europaparlament gewählt wurde, setzte er über einen Initiativantrag für 'Memorial' und die Menschenrechtsaktivisten Ljudmila Alexejewa, Sergej Kowaljow und Oleg Orlov den Sacharow-Preis des EU-Parlaments durch. Er kämpfte für den Erhalt der Gedenkstätte der Geschichte politischer Repression 'Perm 36', des einzigen Gulag-Museums in Russland, und war befreundet mit Boris Nemzow, Anna Politkowskaja, den Pussy-Riot-Frauen." Auch Richard Herzinger erinnert in seinem Blog daran: "Als der Kreml-Chef 2001 seine verlogene 'Der-Kalte-Krieg ist vorbei'-Rede im Deutschen Bundestag hielt und dafür vom Plenum mit stehenden Ovationen gefeiert wurde, verließ Schulz, als Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, aus Protest gegen die brutalen Menschenrechtsverletzungen der russischen Armee in Tschetschenien den Saal. Er blieb mit dieser Geste allein."

Fast alle russischen Intellektuellen von Belang sind im Exil oder im Gefängnis. Aber das Exil ist keine neue Erfahrung für russische Intellektuelle, neu ist etwas anderes, schreibt Anne Applebaum in ihrer Atlantic-Kolumne: "In mindestens einer Hinsicht unterscheiden sich alle diese Exilanten des 21. Jahrhunderts von ihren Vorgängern des 20: Sie befinden sich im Ausland oder im Gefängnis wegen eines schrecklichen imperialen Eroberungskrieges. Viele sind daher nicht nur gegen das Regime, sondern auch gegen das Imperium; zum ersten Mal argumentieren einige, dass nicht nur das Regime, sondern auch die Definition der Nation geändert werden sollte. Garri Kasparow ist einer von vielen, die der Meinung sind, dass nur eine militärische Niederlage einen politischen Wandel herbeiführen kann. Er glaubt nun, dass Demokratie erst möglich sein wird, 'wenn die Krim befreit ist und die ukrainische Flagge über Sewastopol weht'."

Schon kurz nach dem Istanbuler Attentat mit sechs Toten wartete die türkische Polizei mit der Meldung auf, die Attentäterin sei gefunden und gehöre der kurdischen PKK an, berichtet taz-Korrespondent Jürgen Gottschlich mit gebotener Skepsis: "Die PKK hat in der Vergangenheit vor allem Anschläge auf Polizei und Militär verübt, allerdings hat sie sich 2016 auch zu einem Anschlag in einem Park in Ankara bekannt, bei dem etliche ZivilistInnen getötet wurden.Die PKK ist nicht nur in der Türkei, sondern auch in Europa und den USA als Terrororganisation gelistet. Auffällig ist, wie konsequent die türkische Regierung ihre Informations- und Deutungshoheit über den Anschlag durchgesetzt hat." Die PKK hat sich sofort von dem Anschlag distanziert.

Tayyip Erdogan steht im Juni vor Neuwahlen. Sein Land ist wirtschaftlich marode. Rainer Hermann skizziert in der FAZ ein entstehendes Bündnis zwischen dem Nato-Mitglied Türkei und Russland: "Mit einer Überweisung von fünf Milliarden Dollar hat der Kreml die türkische Leistungsbilanz entlastet. Mit den Mitteln sollen türkische Unternehmen die Produkte einkaufen, die für die Fertigstellung des russischen Atomkraftwerks in Akkuyu an der türkischen Mittelmeerküste benötigt werden. Die Kapitalspritzen aus Russland und der russische Markt könnten für Erdogan überlebenswichtig werden."
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Geschichte

Eugen Ruge warnte vor eine Woche, nicht die Russen als verantwortlich für den Stalinismus und später für den Ukraine-Krieg anzusehen (unser Resümee). Man solle keine nationalen Schemata über das Geschehen legen. Gerd Koenen widersprach schon (unser Resümee). Heute schreibt der Historiker Martin Schulze Wessel, dass die Russen selbst diesen Nationalismus produzierten. Ja, der Holodomor war kein Ereignis, das nur die Ukraine betraf, räumt er gegenüber Ruge ein. "Nur ist das Narrativ der allgemein sowjetischen Hungerkatastrophe aus ukrainischer Sicht nicht die ganze Geschichte. Denn der von Stalin ausgelöste Hunger wurde im Falle der Ukraine willentlich verschärft, um vermutetem Widerstand zuvorzukommen - eine konstruierte Geschichte, ähnlich der Rechtfertigung des Terrors gegen die sowjetischen Polen. Gleichzeitig mit der Beschlagnahmung von Getreide auf dem Land verhaftete die Sowjetmacht in den Städten ukrainische Schriftsteller und Künstler, die in ihrer Sprache schrieben und ihre Nationalkultur pflegten. Auch hier setzte der Stalinismus russische Traditionen fort."
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Ideen

In der Welt staunt Dirk Schümer, dass ausgerechnet im noch ganz frischen, von großen Umbrüchen geprägten 21. Jahrhundert so gern alte Männer gewählt oder zumindest geduldet werden: Trump, Berlusconi, Lula da Silva, Narendra Modi, Putin und Xiping. "Womöglich zeugen die wahren oder angedrohten Comebacks von Lula, Trump, Berlusconi von einer zartbitteren Versuchung der Diktatur, welcher sich immer größere Wählergruppen freiheitlicher Länder genussvoll hingeben. Die alten Volkstribunen stehen heute für 'radical chic'. An den Rändern pöbeln und rumoren die selbsternannten Retter in grellen Farben, wo hingegen in der Mitte die Unterhändler und Versöhner ihrem grauen politischen Tagwerk nachgehen. Die Komplexität der globalisierten Welt, bei der nicht wenige schuldlos unter die Räder kommen, empfinden immer mehr Menschen eben nicht als Verheißung, sondern als Invasion, gegen die ihnen ein bewährter Vereinfacher - möglichst mit Geld, Ego und Erfahrung - als letzte Rettung hinter nationalen oder nationalreligiösen Zäunen erscheint." Dagegen helfen würde nur "die Falsifizierbarkeit von Politik. Widerlegte Vorhersagen, Angstbotschaften ans Zwerchfell der Wählerschaft oder glatte Lügen müssten an den Urnen abgestraft werden. Aber gibt es das noch in der Ära der zähen Opis?"

Außerdem: In der NZZ wirft der Historiker Jürgen Grosse einen kritischen Blick auf die linken Bobos und ihre "moralische Weltinnenpolitik für Klima, Frauen, Unterprivilegierte aller Art". Auf Zeit online will Georg Diez von linker Cancel Culture nichts wissen: Seiner Ansicht nach gibt es nur rechte.
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Politik

Die taz bringt eine kleine Beilage zu den Unruhen im Iran. Die kanadisch-iranische Anthropologin Homa Hoodfar erklärt im Gespräch mit Lisa Schneider, eine wie lange Tradition die Proteste der Frauen im Iran haben - denn sie waren die ersten Opfer der Revolution von 1979 und waren auch von Linken verraten worden, denen an den Mullahs als Bündnispartner lag: "Am Tag nachdem Chomeini verkündete, dass die Verschleierung nun Pflicht sei - am 8. März 1979, dem Internationalen Frauentag - fand in Teheran eine spontane Demonstration statt. Normalerweise hätte das kaum Beachtung gefunden, außer bei einigen elitären, gebildeten Feministinnen. Aber diese Demonstration wurde riesig. Viele männliche Linke und Liberale verweigerten ihre Unterstützung. Frauen waren die erste Gruppe, die sich der Islamischen Republik entgegenstellte, gegen sie protestierte - und das zu einem Zeitpunkt, als das Regime offiziell noch gar nicht die Macht ergriffen hatte. Sie verstanden: Wenn ein Regime genau den Frauen, die für seine Existenz gekämpft haben, grundlegende Entscheidungen über sich selbst versagt, ist das keine gute Nachricht - und es werden Schlimmere folgen. Genau das geschah auch."

So sieht die Revolte aus, für die die Todesstrafe droht:

Wie schwierig es geworden ist, selbst mit den engsten Angehörigen im Iran zu kommunizieren, erzählt im Zeit-Blog die Journalistin Nikta Vahid-Moghtada: "Die Cyber-Armee des Ajatollah Chomeini betreibt nicht nur Regierungs- oder Militärspionage, sie überwacht auch die rund 84 Millionen Iranerinnen und Iraner minutiös - und auch all jene, mit denen diese in Kontakt stehen. Sie will den Menschen das wertvollste nehmen: die Gedanken, die per Messenger, E-Mail, Telefon geteilt werden. Und so bewegen sich auch die Gespräche mit meiner Familie stets im Bereich des Banalen, der sie nicht gefährdet. Man kommuniziert in Chiffren aus Smileys, vagen Aussagen und Katzenbildern. Zumindest dem Kater meiner Cousine scheint es blendend zu gehen."
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Gesellschaft

Der Extremismusforscher Wolfgang Kraushaar hat zwar einen eher kritischen Blick auf die Aktivisten der "Letzten Generation", aber Anzeichen für eine "Klima-RAF" kann er im Gespräch mit Diana Pieper von der Welt nicht erkenmnen: "Der Logik der 'Letzten Generation' liegt die Denkfigur einer Finalisierung zugrunde, wonach es keine Rettung vor der Klima-Katastrophe geben kann, wenn nicht radikale Maßnahmen ergriffen werden. Das heißt aber nicht, dass man sie mit einer terroristischen Organisation gleichsetzen kann. Denn bislang hat die Gruppierung keine Gewalt gegen Menschen angewandt. Sie beruft sich auf die Traditionen des zivilen Ungehorsams, auf Mahatma Gandhi statt Che Guevara."

Sonderlich hilfreich fürs Klima ist der Aktivismus aber auch nicht, meint im Gespräch mit der FR Knut Cordsen, der gerade ein Buch zur Geschichte des Aktivismus veröffentlicht hat. Und die durch nichts zu erschütternde Überzeugung, mit ihren Aktionen im Recht zu sein, ist auch nicht ohne, meint er: "Das ist wirklich ein kleiner Treppenwitz der Geschichte. Die 68er-Aktivisten haben gegen die damals geplanten Notstandsgesetze gekämpft. Sie hatten Angst, dass der Staat viel zu viel in den Griff nimmt, und wehrten sich dagegen. Heute passiert das komplette Gegenteil. Originalzitat der 'Letzten Generation': 'Wir haben Angst, dass der Staat das nicht im Griff hat.' Der Staat soll radikal eingreifen, auch gegen die Mehrheit der Bevölkerung. Dieses Denken zeigt sich in der Geschichte des Aktivismus immer wieder: Man selber glaubt sich auf dem richtigen Weg, und die anderen sind einfach zu blöd, das zu kapieren. Deshalb sollen demokratische Verfahren ausgehebelt werden."

Immer mehr Deutsche verabschieden sich aus der Kirche, berichtet Annette Zoch in der SZ: Im vergangenen Jahr 359.338 Katholiken und 288.000 Protestanten. Weniger als die Hälfte der Deutschen gehört noch einer der beiden großen Kirchen an. Inzwischen "geht zunehmend die Kernklientel von der Stange. Manche hängen bewusst und aus Protest die Mitgliedschaft in der Körperschaft des öffentlichen Rechts an den Nagel, als Christen sehen sie sich weiterhin ganz selbstverständlich. Fragt sich nur, wie lange das Gefühlschristentum trägt, so ganz ohne Glaubensgemeinschaft. Zunehmend ist der Austritt sogar eine Gewissensfrage geworden: Kann ich in dieser Institution überhaupt noch Mitglied sein? Skandale, das ist ein zentrales Ergebnis der Kirchenaustrittsstudie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, haben besonders bei den vormals Katholischen zur Austrittsspitze 2019 beigetragen." Viele Protestanten hingegen "haben ihrer Kirche in erster Linie aus einem Gefühl der Indifferenz den Rücken gekehrt: wie bei der ungenutzten Fitnessstudio-Mitgliedschaft, die man schon viel zu lange mitschleppt und irgendwann, wenn man sowieso gerade die Steuererklärung macht, endlich kündigt."
Archiv: Gesellschaft