9punkt - Die Debattenrundschau

Erhöht und neugebaut

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.11.2022. "Unfassbar scheinheilig" ist die Geschichte um die "One Love"-Binde, und dies von allen Seiten her betrachtet, finden SZ, Guardian und die taz. Die FAZ erzählt, wie der staatlich bestellte "Sunnitische Rat" in Baden-Württemberg liberale Theologen drangsaliert. Das Bundeskanzleramt ist zwar jetzt schon zehnmal so groß wie Downing Street Nummer 10 in London, aber es soll nochmal verdoppelt werden, staunt ebenfalls die FAZ. Und Dissent berichtet über den Streik an den kalifornischen Unis - den größten in der Geschichte amerikanischer Universitäten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.11.2022 finden Sie hier

Gesellschaft

Dass die Fußballspielball die One-Love-Binde nicht tragen, findet Nele Pollatschek in der SZ in Ordnung. Alles andere wäre "wirklich unfassbar scheinheilig und opportunistisch", erklärt sie. "Man hat sich dazu entschieden - die Fifa, der DFB, das Fernsehen, die Werbeträger und die Spieler -, an einer WM teilzunehmen, für die in einem brütend heißen Wüstenstaat vollklimatisierte Stadien gebaut werden, von Lohnzwangsarbeitern, die unter immer menschenverachtenden und vielfach tödlichen Bedingungen gearbeitet haben, in einem Land, in dem Homosexuellen tatsächlich die Todesstrafe droht, in dem Frauen gefoltert werden. Man hat sich dafür entschieden, weil einem Fußball und Geld wichtiger sind als moralische Fragen. Und dann möchte man mit 'One Love'-Binden auflaufen? Ist das noch empörend oder schon rührend, dass es Menschen nicht reicht, Millionen und Milliarden zu verdienen, bejubelt zu werden und ein weltweites Publikum zu begeistern, dass man bei alldem immer auch noch als guter Mensch gelten will?"

"Heuchlerisch ist das 'Diversity'-Bekenntnis auch deshalb, weil in den hiesigen Ligen des Profifußballs noch kein einziger aktiver Spieler ein Coming-Out als Schwuler gewagt hat", beobachtet Jan Feddersen in der taz. "Allein das dürfte ausreichen als Beweis für die unverändert homophobe Atmosphäre in den Vereinen."

Auch Marina Hyde kann im Guardian der One-Love-Binde wenig abgewinnen, hofft aber immer noch auf ein stärkeres Engagement: "Das Ganze fühlt sich so seltsam und vorsichtig vage an wie die Bestellungen von Figuren einer Soap Opera, die in die Kneipe gehen und einfach nach 'einem Pint' fragen. Ein Pint von was? OneLove von was?", ärgert sich Hyde, die darauf hinweist, dass echter Aktivismus meist mit einem persönlichen Opfer verbunden ist, wie man gerade im Iran sehen könne: "Niemand behauptet im Entferntesten, dass die englischen Spieler auf die Straße gehen und ihr Leben für eine Sache riskieren müssen, an die sie angeblich wirklich glauben. Aber eine gelbe Karte zu riskieren, ist wohl machbar - und wenn das wirklich nicht der Fall ist, dann sollte man sich gar nicht erst die Mühe machen. Es ist eine Beleidigung für diejenigen, die sich ernsthaft engagieren. ... England und alle anderen Nationen, die wirklich Stellung beziehen wollen, könnten sich bei dieser Weltmeisterschaft immer noch eine bessere Form des Protests einfallen lassen. Es ist noch viel Zeit für kreatives kollektives Handeln - aber gibt es wirklich den Willen dazu?"

An den staatlichen Unis in Kalifornien findet gerade der größte Streik in der Geschichte amerikanischer Universitäten statt, berichtet Nelson Lichtenstein bei Dissent. Der Streik geht vor allem von studentischen Hilfskräften und dem Mittelbau aus. "An der Spitze ihrer gemeinsamen Forderung steht mehr Geld - viel mehr. Graduierte Lehrassistenten verdienen etwa 24.000 Dollar im Jahr, aber sie wollen bis zu 54.000 Dollar, mehr als doppelt so viel wie jetzt. Postdocs wollen mindestens 70.000 Dollar. Und alle Streikenden fordern Krankenversicherungsschutz für Angehörige und die Erstattung von Kinderbetreuungskosten. All dies, so die Streikenden, sei unerlässlich, um sich die kalifornischen Wohnkosten leisten zu können, die inzwischen mehr als die Hälfte ihres Einkommens auffressen, und um die Inflation zu bewältigen, die ihr Gehalt in den letzten Jahren aufgezehrt hat."
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Religion

Ob es gut ist, Theologie - also eine Dogmatik, die mit Wissenschaft nichts zu tun hat - an staatlichen Hochschulen zu lehren, mag dahingestellt sein. Das Land Baden-Württemberg hat einen "Sunnitischen Rat" geschaffen, der über die Bestallung muslimischer Religionslehrer wachen soll und dadurch auffällt, dass er liberale Theologen durch komplizierte Intrigen von den Hochschulen fernhalten zu wollen scheint, berichtet Thomas Thiel in der FAZ. Bekannt war schon der Fall Abdel-Hakim Ourghi. Nun wurde auch dem Theologen Abdel-Hafiez Massud die Lehrerlaubnis verweigert. Und dann erklärte der Rat, dass diese Lehrerlaubnis gar nicht notwendig sei - dabei war er genau dafür gegründet worden. "Das Prozedere hat für Massud einen weiteren Pferdefuß: Solange er keine Lehrerlaubnis hat, darf er auch an anderen Hochschulen des Landes sein Fach nicht lehren. Sollte der Sunnitische Schulrat den entstandenen Schaden bis Ende November nicht regeln können, will sich Massud an die Gerichte wenden."
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Politik

Die iranischen Aufstände sind auch ein Protest von Jugendlichen gegen eine Gerontokratie, die kurz vor dem Ende der letzten Präsidentschaft (und, wie zu hoffen steht, der eigenen Mumifizierung) "die zweite Etappe der Revolution" ausgerufen hatte und die Jugend seitdem noch intensiver mit ihrer finsteren Ideologie bombardiert, schreibt Ali Sadrzadeh in der FAZ: "Um die iranische Gesellschaft vollständig zu islamisieren, werden Schulbücher und Lehrpläne an den Universitäten überarbeitet. Mindestens 30.000 Mullahs wurden zusätzlich als Lehrer an die Schulen entsandt. Auch dass die Machtbefugnisse der Sittenpolizei gestärkt wurden, ist Teil dieses Plans."
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Ideen

Der Althistoriker Stefan Rebenich klagt in der FAZ, dass in  gesellschaftlichen Debatten immer weniger Bezug auf das klassische Altertum oder das frühe Christentum genommen wird: "Ohne Not wird eine intellektuelle und kulturelle Tradition marginalisiert, die Antworten auf drängende Fragen geben könnte. Auf der linken Seite sind es präsentistische - und mithin ahistorische - Anathemata, die das antike Erbe delegitimieren; im rechten Spektrum fürchtet man möglicherweise den Vorwurf, die Rede vom christlichen Abendland passe nicht mehr zu einem weltoffenen Konservativismus. Man fragt sich indes, wie ein identitätsstiftendes Projekt für Deutschland und Europa gelingen soll, wenn wir uns nicht unserer Anfänge vergewissern."
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Stichwörter: Rebenich, Stefan, Christentum

Europa

Immer mehr russische Mütter und Frauen von eingezogenen Soldaten protestieren in Russland mit Eingaben an den Präsidenten Putin und die Behörden. Aus diesen zaghaften Protesten entsteht ein "typisches Bild", schreibt FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt: "Rekruten werden an einen Ort der Front im Donbass gefahren und müssen sich dort 'eingraben'. Es sind viel zu wenige Schaufeln da. Außerdem zu wenig oder gar kein Essen und Trinken - und kaum Waffen jenseits von Sturmgewehren. Die Kommandeure lassen die Rekruten im Stich und sind nicht zu erreichen. Der Feind schießt mit Artillerie. In manchen Appellen sprechen Frauen von Toten und Verwundeten. Die Angaben lassen sich schwer überprüfen, das Gesamtbild dagegen wird klar. Es ist düster."

Und der Krieg geht weiter:
Das Bundeskanzleramt ist zwar jetzt schon "dreimal so groß wie der Elysée-Palast in Paris, achtmal so groß wie das Weiße Haus in Washington und zehnmal so groß wie Downing Street Nummer 10 in London", schreibt Eva Ladipo in der FAZ, aber der Bundesregierung ist es zu klein. Es soll erweitert werden, "genauer gesagt: auf rund 50.000 Quadratmeter verdoppelt. Der Hubschrauberlandeplatz wird versetzt, erhöht und neugebaut. Die bisherigen dreizehn Wintergärten werden um neun weitere ergänzt, die jeweils über fünf Stockwerke reichen. 400 neue Büros werden entstehen, Dachgärten, eine Kita, ein Logistikzentrum, Tunnels, eine neue Brücke, eine weitere Wohnung für den Kanzler oder die Kanzlerin. Noch im Dezember sollen die ersten Bäume gefällt werden, im Frühjahr beginnen dann die Bauarbeiten."  Und Ladipo, die in London beheimatet ist, wundert sich doch sehr: "Die Tatsache, dass Boris Johnson seine Wohnung für 88.000 Pfund renovieren ließ, sorgte in Großbritannien für einen Skandal."

Die Bundesregierung stellt ihre Pläne hier dar.
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Internet

Twitter mag nicht ideal gewesen sein, aber ein Zusammenbruch von Twitter wäre ein weiterer Schaden an jener neuen Öffentlichkeit, die erst durch das Internet entstanden ist, schreibt Goerg Diez in seiner taz-Kolumne: "Die alte Macht, Verlage, Fernsehsender, aber auch Parteien, Regierungen, Staaten bis zu autokratischen Regimen, standen einer neuen Macht gegenüber, die schwer zu definieren war und sich erst nach und nach fand: Da waren Menschen, die Revolutionen antrieben, da waren Stimmen, die eine Reichweite bekamen, die größer war als alle traditionellen Medien im jeweiligen Land zusammen. Es geriet etwas, buchstäblich, in Bewegung: Seit etwa 2010 war das Zeitalter der sozialen Medien auch das Zeitalter der sozialen Bewegungen, vom Arabischen Frühling 2011 über #MeToo 2017 bis zu #BlackLivesMatter 2013 und vor allem seit 2020 nach dem Tod von George Floyd."
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