9punkt - Die Debattenrundschau

Sichtbarkeitsfilterung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.12.2022. Die schlimmste Niederlage für Putin wäre eine Ukraine, in der die Rechte aller Menschen geschützt sind, sagt die Regisseurin Hanna Kopylova in Zeit online, und das gilt besonders für die Rechte der Frauen. Die Ukraine selbst wurde vom Westen lange Zeit wie eine Frau behandelt, deren Kampf um Souveränität nicht ernstgenommen wurde, schreibt die Historikerin Olesya Khromeychuk im New Statesman. Trump mag geschwächt sein, der Trumpismus ist es nicht, warnt  der Historiker Thomas Zimmer in der NZZ. Die Zeitungen freuen sich, dass erste Benin-Bronzen an Nigeria zurückgegeben wurden, auch wenn ihr weiteres Schicksal unklar ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.12.2022 finden Sie hier

Europa

Der Blick des Westens auf die Ukraine ähnelte lange frappierend dem Blick, den etwa Professoren auf junge Forscherinnen werfen, die sich anmaßen, eine Expertise in Militärfragen zu besitzen, schreibt die Historikerin Olesya Khromeychuk in einem kleinen Essay für den New Statesman: "Der historische Kampf der Ukrainer für ihr Recht auf Souveränität hätte als ausreichender Beweis dafür gelten können, dass sie sich in diesem neuen Kolonialkrieg wehren würden, wenn er denn als solcher anerkannt worden wäre. Doch traditionell wurden die eigenen Erzählungen der Ukraine über ihre Vergangenheit zugunsten der verzerrten Version eines benachbarten Diktators verworfen, der die Existenz des Landes leugnete. Diese Version wurde uns dann als Mansplaining - beziehungsweise 'Westsplaining' - von Talking Heads in den westlichen Medien, die trotz ihres geringen Fachwissens in diesem Bereich als maßgebend anerkannt wurden, in aufgewärmter Version neu aufgetischt."

Die Regisseurin Hanna Kopylova hat eine Doku über die Rolle von Frauen im Ukraine-Krieg gedreht, "Oh, Sister!", in der auch die Friedensnobelpreisträgerin und Menschenrechtsanwältin Oleksandra Matwijtschuk interviewt wird. Im Gespräch der beiden mit Zeit online schwingt das Kriegsgeschehen immer mit, auch wenn sie über die Justizreform in der Ukraine sprechen, die Matwijtschuk 2014 angestoßen hatte, wie sie erzählt: "Wir dürfen die demokratische Transformation unseres Landes aber nicht anhalten, das wäre völlig falsch. Es stimmt, es ist schwierig, während eines Kriegs etwa die Reform des Justizapparats voranzutreiben. Aber wir arbeiten weiter daran. Die Ukraine ist nun auch EU-Beitragskandidatin, ihr bleibt also gar nichts anderes übrig, sie muss den entsprechenden EU-Gremien Resultate vorweisen. Und wofür führen wir diesen Krieg? Für unsere Freiheit, und die besteht nicht nur in der staatlichen Integrität der Ukraine. Russland ist im Jahr 2014 auch deshalb in die Krim einmarschiert, um die Demokratisierung der Ukraine zu stoppen. Wladimir Putin hat Angst davor, dass die Idee der Freiheit näher an die russischen Grenzen heranrückt. Darum bestünde der Sieg der Ukraine in diesem Krieg auch nicht allein darin, die russischen Truppen aus dem Land zu werfen und alle Territorien zurückzuerobern. Die schlimmste Niederlage für Putin wäre eine Ukraine, in der die Rechte aller Menschen geschützt sind. In der die Justiz unabhängig ist und Studierende, die gegen was auch immer demonstrieren, nicht von Polizisten niedergeknüppelt werden."

Und hier Hanna Kopylovas Dokumentarfilm "Oh, Sister!":

Archiv: Europa

Politik

Die Trump-Anhänger haben bei den letzten Wahlen zumeist verloren. Aber die amerikanische Demokratie ist damit noch nicht gerettet, meint der in Georgetown unterrichtende Historiker Thomas Zimmer in der NZZ: Erstens seien hunderte Wahlleugner "in Machtpositionen eingezogen". Zweitens sei Donald Trump noch lange nicht aus dem Spiel und ein sehr erfolgreicher Nachfolger - Ron deSantis - stehe auch bereit. Und drittens seien die USA immer noch geteilt, wie man in den republikanisch kontrollierten Staaten sehen könne: "Abtreibungsverbote sind auch hier unbeliebt - aber ein erheblicher Anteil derer, die sie ablehnen, hat dennoch republikanisch gewählt. Für diese Menschen war die Wahl vor allem eine antiliberale Entscheidung: Sie lehnen die Vision einer egalitären, pluralistischen, multiethnischen Gesellschaft ab. Hier treffen unvereinbare Vorstellungen davon, was 'Amerika' sein soll, aufeinander. Dieser Konflikt lässt sich nicht wegdiskutieren, es wird nicht gelingen, einen Konsens herzustellen, und die radikalen Kräfte, die in der Republikanischen Partei an der Macht sind, lehnen jeden Kompromiss aggressiv ab."

In Afghanistan haben die Taliban Frauen die Universitätsbildung verboten, egal ob an privaten oder öffentlichen Universitäten, meldet Zeit online. Sie dürfen außerdem seit Monaten öffentliche Parks und Fitnessstudios nicht mehr betreten.
Archiv: Politik

Geschichte

In der FR erinnert Arno Widmann an das Segelschiff "Santa Anna", das vor 500 Jahren in Nizza vom Stapel gelassen wurde. Sie soll das größte Segelschiff gewesen sein, das bis dahin in Europa gebaut worden war..
Archiv: Geschichte

Internet

Die Tatsache, das Elon Musk wie ein Berserker mit Twitter umspringt, bedeutet nicht, dass die vorherige Führungsmannschaft harmlos war. Die Welt übernimmt einen Artikel von Bari Weiss von ihrem Blog The Free Press, der zeigt, mit welchen Tools Twitter bestimmte Positionen fördern oder boykottieren konnte, eine davon ist das sogenannte "Shadow Banning", das die Sichtbarkeit eines Nutzers für andere einschränkt, ohne dass ihm dies klar wird. Weiss bezieht sich auf interne Twitter-Dokumente: "Es überrascht nicht, dass wir bei der Suche nach Beweisen für Shadow Banning nichts in den Twitter-Dateien gefunden haben. Das ist hauptsächlich eine Frage der Wortwahl. Die Twitter-Führungskräfte bevorzugen den Begriff 'Sichtbarkeitsfilterung' oder 'VF' (visibility filtering), was in den Dateien überall zu finden ist. Mehrere hochrangige Quellen bei Twitter haben die Bedeutung dieser Begriffe bestätigt. 'Betrachten Sie die Sichtbarkeitsfilterung als eine Möglichkeit für uns, das, was die Leute sehen, auf verschiedenen Ebenen zu unterdrücken. Es ist ein sehr mächtiges Werkzeug', sagt uns ein leitender Twitter-Mitarbeiter. Tatsächlich handelt es sich um eine Reihe von Tools, die unter anderem dazu dienen, Nutzer aus der Suche auszuschließen und zu verhindern, dass die Tweets einiger Nutzer als trending angezeigt werden - worüber unzählige andere Nutzer erfahren, was auf Twitter beliebt ist oder worüber gerade gesprochen wird."

Musk hat inzwischen angekündigt, als Twitter-Chef zurücktreten zu wollen, allerdings erst, "sobald ich jemanden finde, der dumm genug ist, den Job zu übernehmen", meldet unter anderem Spiegel online.
Archiv: Internet

Kulturpolitik

Katrin Gänsler freut sich in der taz sehr, dass Außenministerin Baerbock persönlich die Benin-Bronzen nach Nigeria zurückgebracht hat. Es handelt sich nicht nur um die Rückgabe von Kulturgut, die Bronzen haben auch eine symbolische Dimension (unser Resümee), erläutert sie: "Anders als im Globalen Norden oft angenommen wird, sind die Bronzen nicht nur enorm kostbare Kunstwerke. Sie haben bis heute eine kulturelle und religiöse Bedeutung für zahlreiche Menschen. Diese lässt sich in Europa und in den USA kaum ermessen. Meist wird vergessen, dass die Bronzen bis zu ihrem Raub 1897 keine Museumsobjekte in Glasvitrinen waren, sondern Teil des täglichen Lebens und zentral für Zeremonien" - bei denen oft Kriegsgefangene hingerichtet wurden, wie man vielleicht auch nicht vergessen sollte (mehr hier).

Es gibt auch einen anderen Grund zur Freude, schreibt Gänsler in ihrem Bericht über die Übergabe, für den sich auch mit der Beninerin Doris Ogbeifun gesprochen hat: "Endlich steht Nigeria einmal nicht im üblicherweise schlechten Licht da. Bis vor einigen Jahren die Debatte über die unschätzbar wertvollen Bronzen einen Platz in der breiteren Öffentlichkeit in Europa fand, war Nigeria Synonym für Umweltverschmutzung im ölreichen Nigerdelta, die Terrorgruppe Boko Haram, die Tausende Mädchen und Frauen entführte, sowie Internetkriminalität. Benin City galt zudem als Drehscheibe des nigerianischen Menschenhandels. Es sei gut, dass die Stadt endlich mit etwas anderem in Verbindung gebracht werde, so Ogbeifun." Außerdem erzählt Susanne Mermania in der taz die lange Geschichte der verweigerten Rückgabe.

Wo (und ob) die zurückgegebenen Bronzen in Nigeria ausgestellt werden, soll die deutsche Politik nicht mehr kümmern, berichtet Bernd Dörries in der SZ: "Auch unter Vermittlung des damaligen Kulturbeauftragten des Auswärtigen Amtes, Andreas Görgen, entstand die Idee des Edo Museum of West African Art (EMOWAA), das mit einem deutschen Beitrag, aber auch Geld aus Nigeria gebaut und zu einer Attraktion in Benin-Stadt werden soll. Mittlerweile plant aber auch der heutige Oba sein eigenes Museum. Die Diskussion über die Museen spielte bei der Rückgabe keine große Rolle mehr. Der nigerianische Außenminister Geoffrey Onyeama sagte, man solle sich keine Sorgen machen, Nigeria habe auf die Masken jahrhundertelang ganz gut aufgepasst, bevor sie gestohlen wurden."

Die Gleichschaltung in Moskau geht weiter. Moskauer Bibliotheken haben Listen mit Büchern erhalten, die sie im Zeichen der neuen Anti-LGBT-Gesetzgebung nicht mehr anbieten sollen, meldet Kerstin Holm in der FAZ: "Zu den Werken, die auf dieser Liste stehen, gehören solche von Haruki Murakami, von dem britischen Humoristen Stephen Fry, dem irischen Bestsellerautor John Boyne, dem Amerikaner Michael Cunningham, der russischen feministischen Dichterin Oksana Wasjakina, aber auch von dem imperialistisch gesinnten Begründer der Nationalbolschewistischen Partei Eduard Limonow. Entfernt werden müssen ferner der Roman 'Besessen' von Antonia Susan Byatt sowie Lehrbücher in Sexualkunde."
Archiv: Kulturpolitik