9punkt - Die Debattenrundschau

Warum sitzt ihr nur rum?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.12.2022. Silvester 2022: Im Iran gehen die Menschen nach wie vor auf die Straße, auch wenn das Interesse der hiesigen Medien erlahmt. In der taz bekennt die  Aktivistin Sanaz Azimipour ihre Enttäuschung über deutsche Linke, die sich mit den Frauen im Iran nicht solidarisieren. In der New York Times erklärt Anshel Pfeffer, wie die neue israelische Regierung das Judentum weltweit spaltet. FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube ist sehr böse auf Claudia Roth, die die Stiftung Preußischer Kulturbesitz umbenennen will. Die Berliner Linken-Politikerin Saraya Gomis geht im Tagesspiegel noch weiter und will die Nofretete zurückgeben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.12.2022 finden Sie hier

Politik

Dass die Medien kaum mehr über den Iran berichten, bedeutet nicht, dass nichts geschieht:

Die in Berlin lebende iranische Aktivistin Sanaz Azimipour bekennt im Gespräch mit Susanne Mermania ihre tiefe Enttäuschung über die deutsche Linke, die sich mit den iranischen Frauen nicht solidarisiert: "Sie sagen: 'Die Rechten von AfD bis CDU instrumentalisieren die iranische Revolution für ihre eigene rassistische und antimuslimische Agenda.' Ja, klar, wenn ihr nichts macht?! Warum sitzt ihr nur rum und diskutiert, ob diese Revolution zu euren antiimperialen Ansätzen von 1960 passt? Ob die Revolution jetzt pro Westen oder gegen ihn ist? Diese ganzen banalen Dualitäten westlicher Linker gehen mir auf den Geist."

Mehrere Ministerien in der neuen israelische Regierung befinden sich in der Obhut radikaler Parteien und befassen sich mit jüdischer Identität, die sie sehr viel enger fassen wollen. Diese Parteien drohen das gesamte Judentum zu spalten, schreibt der Ha'aretz-Redakteur und Netanjahu-Biograf  Anshel Pfeffer in der New York Times: "All diese Parteien... weigern sich zu akzeptieren, dass das Judentum in seiner heutigen Form mehrere Strömungen des Glaubens, der Glaubenspraxis und der -repräsentation umfasst. Dieser ausgrenzende Ansatz unterscheidet diese Parteien von liberaleren jüdischen Gruppen und säkularen und modern-orthodoxen Israelis sowie von der überwältigenden Mehrheit der amerikanischen Juden und anderer jüdischer Gemeinschaften auf der ganzen Welt. Er bringt sie auf Kollisionskurs mit liberalen Juden in Israel und Amerika und bringt das jüdische Volk weltweit näher an den Rand einer religiösen Spaltung als in den letzten drei Jahrhunderten, seit die Anhänger des falschen Messias Sabbatai Zvi die jüdischen Gemeinden in Osteuropa und im Osmanischen Reich spalteten."
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Kulturpolitik

Sehr böse schimpft FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube im Leitartikel auf Seite 1 der FAZ auf Claudia Roth, die zwar ihre Hausaufgaben zur Neuorganisierung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz nicht gemacht hat, dafür aber "Preußen" aus dem Namen der Stiftung tilgen will: "Vergangenheit, zu der ihr keine schlichte Geste einfällt, interessiert sie nicht. Erinnerung ist genau so lange gut, solange sie moralisch eindeutig ist. Aber Geschichte ist niemals moralisch eindeutig. Preußen ist Roth unangenehm, weil sie so viel Ungutes darüber gehört hat. Dass zu Preußen auch Kant und Humboldt, das Allgemeine Landrecht und die Schulpflicht, Schinkel und Menzel, Voltaire, E.T.A. Hoffmann und Fontane, ja Heiner Müller gehören, bremst ihren Affekt nicht."

Wäre die Linkspartei außerhalb der Stadt Berlin noch eine relevante politische Kraft, würde sie vielleicht die Berliner Staatssekretärin für Vielfalt und Antidiskriminierung Saraya Gomis zur Kulturministerin küren, die noch ganz andere Ideen hat als Claudia Roth: "Aus einer Antidiskriminierungsperspektive muss man sagen: All die Kulturgüter aus anderen Weltregionen gehören nicht uns, sie sind unrechtmäßig hier", sagt sie im Gespräch mit Anna Thewalt vom Tagesspiegel. "Ja, ich persönlich bin dafür, dass der Pergamonaltar und die Nofretete-Büste zurückgegeben werden. Aber darüber zu befinden und zu entscheiden haben andere."
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Gesellschaft

Männer sterben früher als Frauen, in Deutschland beträgt der Unterschied im Schnitt 4,8 Jahre, schreibt der Geschlechterforscher Thomas Gesterkamp  in der taz. Das ist aber kein Naturgesetz, wie etwa eine Studie unter Mönchen und Nonnen gezeigt habe, wo der Unterschied nur bei einem Jahr liegt. Der Unterschied erkläre sich sozial: "Viele Männer ignorieren Schmerz, Trauer, Krankheiten und körperliche Symptome. Sie arbeiten und leben ungesund, gehen selten zum Arzt, ernähren sich falsch, nehmen mehr Drogen als Frauen. Und sie haben die gefährlicheren Jobs: 95 Prozent der Verunglückten bei Arbeitsunfällen mit Todesfolge sind männlich. Dennoch sind die Folgen rigider Anforderungen und riskanten Verhaltens erst seit ein paar Jahren Gegenstand gründlicher empirischer Forschung. Auch in politischen Debatten hatte das Thema lange keine Bedeutung."
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Europa

der Historiker Andreas Kappeler erklärt im taz-Interview von Thomas Gerlach und Hannes Koch das jahrhundertealte russische Expansionsstreben und das durch die Geschichte lädierte russische Selbstbild. Die Nato-Osterweiterung sieht er allerdings nicht als Erklärung für das russische Agieren: "Damit lässt sich eine Aggression nicht rechtfertigen. Die Nato wie die EU haben ja immer sehr zögerlich agiert. In der Ukraine tun sie das bis heute, es gibt kein Nato-Beitrittsversprechen für Kiew. Die Initiative für den Beitritt zur Nato ging von der Bevölkerung fast des gesamten ehemaligen Ostblocks aus - nicht zuletzt aus Angst vor Russland. Wie wir heute sehen, ist diese Angst berechtigt."

Ähnlich sieht es Ian Kershaw im Gespräch mit Christof Münger von der SZ: "Kiew will in die EU und in die Nato, was Putin persönlich tief getroffen hat. Bis heute ist sie jedoch weder im einen noch im anderen Bündnis. Gleichzeitig zeigt Putins Angriff auf die Ukraine, dass jene Länder, die der Nato angehören, viel sicherer sind. Denn wird es Putin wagen, ein Nato-Land anzugreifen? Eher nicht. Das ist ein gutes Argument dafür, Länder wie die Ukraine in die Nato aufzunehmen."

Auch anderswo sehnt man sich nach einem verlorenen Reich - etwa in der Türkei, wo vor genau hundert Jahren die Herrschaft der Osmanen kollabierte. Der Bezug auf die Herrlichkeit dieses Reiches ist bis heute für Erdogan zentral, schreibt der Historiker Rasim Marz in der NZZ: "So ist es nicht verwunderlich, dass der türkische Staatspräsident die Wahl von 2023 als den neuen goldenen Apfel bezeichnet, den es zu erobern gilt. Diese Eroberungsmetaphorik des goldenen Apfels verwendeten die Osmanen für wichtige strategische Ziele, wie etwa für Rom oder Wien. Und seine Botschaft kommt an. Denn die Furcht vor einem Machtverlust und einem radikalen Systemwechsel ist unter den konservativen Schichten um Erdogan groß."
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Ideen

Die taz-Wirtschaftsexpertin Ulrike Herrmann sitzt oft in Talkshows und erklärt mit wissendem Lächeln, was zu tun ist. Ihre Vision legt sie heute in einem Essay dar: Die Reichen emittieren wesentlich mehr CO2 als die Armen, Herrmann will darum um des Klimas willen eine Art Sozialismus installieren, der die Reichen auf das Maß der Armen zwingt: "Es käme einer sozialen Revolution gleich - die es in Deutschland noch nie gegeben hat.. Wenn es weitgehend gerecht zugehen soll, müssen die wichtigen Basisgüter rationiert und zugeteilt werden - also Wohnraum, Bahnfahrten und so aufwendige Lebensmittel wie Fleisch. Der Sozialstaat, wie wir ihn heute kennen, würde sich weitgehend erübrigen. Es gäbe keine großen Unterschiede mehr zwischen Renten oder einer Arbeitslosenversicherung. Die Rationen wären für alle gleich."

Etwas pragmatischer spricht der SPD-Politiker und Autor Yannick Haan im taz-Gespräch mit Sascha Lübbe über das Erben, das heute gerade in Deutschland wesentlich mehr zu Ungleichheit beiträgt als einfach nur das Einkommen, Haan schlägt darum ein "Grunderbe"für alle vor (unser Resümee). In Deutschland sind zwei Drittel der großen Vermögen gererbt worden, in Amerika dagegen st Recihtum zu zwei Dritteln self made. Das liege an der Wirtschaftsstruktur so Haan: "ie ist in Deutschland stark von Familienunternehmen geprägt. Die sind oftmals sehr vermögend und geben ihr Vermögen von Generation zu Generation weiter. Der zweite Grund ist die geringe Besteuerung von Vermögen in Deutschland, etwa über die Erbschaftsteuer. Dass Superreiche vor allem übers Erben reich werden, stellt übrigens auch unser Mantra der individuellen Leistung infrage; dieses Versprechen, dass man es mit Leistung finanziell zu etwas bringen kann. Das hat mit der Realität nichts mehr zu tun."
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