9punkt - Die Debattenrundschau

Verdächtige politische Tendenzen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.04.2024. Auf Spon fordern Politiker aus Brasilien, Südafrika, Spanien und Deutschland eine Globalsteuer für Milliardäre, die sich vor der Einkommenssteuer drücken können. Die SZ fürchtet mit der Teil-Legalisierung von Cannabis kriminelle Zustände wie in den Niederlanden. In der Welt hat der Philosoph Philipp Hübl die Nase voll vom großen Moralspektakel in Debatten. Ähnlich geht es dem Pädagogen Bernd Ahrbeck, der in der FAZ die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr sieht. Im Tagesspiegel erklärt Berlins Kultursenator Joe Chialo, wie er den deutschen Kolonialismus mehr in unsere Erinnerungskultur rücken möchte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.04.2024 finden Sie hier

Europa

In den Niederlanden blickt man gerade etwas verdutzt auf Deutschland, das die Teil-Legalisierung von Cannabis vorantreibt, ohne die organisierte Kriminalität auf dem Schirm zu haben, konstatiert Thomas Kirchner in der SZ. "Experimente sollten gut durchdacht und vorbereitet sein. Keinesfalls sollte man mögliche Folgen einfach ausblenden, nur weil sie nicht ins Konzept passen. Die Kriminalität, die mit dem Drogen-Business einhergeht, ist mehr als ein Randphänomen. In den Niederlanden brutalisiert und zersetzt sie die Gesellschaft. Das muss in Deutschland nicht so kommen. Aber dafür braucht es eine Reform der Reform. Schon bald. Nicht erst, wenn es zu spät ist."

In der NZZ skizziert die russisch-deutsche Schriftstellerin Sonja Margolina die Geschichte der Abtreibungspolitik und der sexuellen Aufklärung in der Sowjetunion. Dabei scheint Putin auch in diesem Punkt eher bei Stalin zu liegen, der das Abtreibungsrecht 1936 aufhob. "Es ist zwar unwahrscheinlich, dass Abtreibung komplett verboten wird. Doch jetzt schon wird ein bürokratisches Karussell aufgebaut, das eine rechtzeitige Unterbrechung der Schwangerschaft unmöglich macht. Die reproduktive Gewalt ist Bestandteil der neuen Familienpolitik in Russland. Dass diese zur Stärkung der Familie führen wird, glauben selbst diejenigen nicht, die sich in Loyalität gegenüber Putin ergehen."
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Ideen

Warum ist der Rechtsnationalismus gerade weltweit so erfolgreich, fragt sich in der Zeit Maximilian Probst. Seine Antwort ist recht ungemütlich: "Es ist schlicht und einfach die Tatsache, dass autoritäre Systeme heute mit den liberal-demokratischen ernsthaft konkurrieren können. Und manchmal sogar überlegen wirken, oder schlimmer noch: gelegentlich sogar überlegen sind. Das ist ein gruseliger Satz, gerade in Deutschland, wo die Geschichte davon zu künden scheint, welche Gefahren drohen, wenn man der autoritären Verlockung folgt. Doch könnte es eben auch eine Gefahr sein, ihre Leistungsfähigkeit zu verkennen." Heute könne es jedoch sein, "dass man einem Land wie China sogar ein Stück weit dankbar sein muss, dass es nicht den Weg in die liberale Demokratie gewählt hat. Das beste Beispiel für diesen provozierenden Gedanken betrifft die Klimakrise. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das 2-Grad-Ziel (von 1,5 Grad muss man nicht mehr reden) nur deshalb überhaupt noch erreicht werden kann, weil China in den letzten Jahren in rasantem Tempo die Solarindustrie entwickelt und ausgebaut hat."

Der Philosoph Philipp Hübl konstatiert im Welt-Interview mit Anna Schneider einen hohen Grad an Selbstdarstellung in moralischen Debatten, der besonders in der westlichen Welt verbreitet sei und den Debattenraum einschränke: "Das kann man Moralspektakel nennen. Man könnte auch Effekthascherei sagen. Mit Forderungen oder Aussagen, die offensichtlich extrem utopistisch, übertrieben, auch manchmal grundlos sind, möchte man zeigen, dass man zu einer bestimmten moralischen Gruppe gehört. Und das kann jede moralische Gruppe sein, von konservativ bis progressiv. Diese Verlockung ist neu in unserer heutigen Zeit."
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Wissenschaft

"Die Freiheit der Wissenschaft ist in Gefahr. Das ist keine überzogene Befürchtung ängstlicher Standesvertreter, die sich vor Kritik scheuen, sondern eine Tatsache", konstatiert in der FAZ Bernd Ahrbeck, der selbst Psychoanalytische Pädagogik in Berlin lehrt. Bestätigt fühlt er sich durch den ersten Band des Jahrbuchs des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit, das dies exemplarisch belege. Ahrbeck nennt u.a. das Beispiel einer gesprengten Lehrveranstaltung in Leipzig, auf der das von den Demonstranten als transfeindlich eingestufte Buch von Christoph Türcke ("Natur und Gender") Thema sein sollte. "Die protestierenden Leipziger Studenten erklärten allen Ernstes, sie verteidigten damit die Wissenschaftsfreiheit. Der Protest richte sich nicht gegen Wissenschaftsfreiheit, die von den Studierenden für unerlässlich gehalten werde. Beanspruchten aber 'Demagog*innen' diese Freiheit, handele es sich bloß um einen rhetorischen Trick. Erkenntnis werde nämlich gar nicht angestrebt." So gesehen wird Wissenschaftsfreiheit erst wiederhergestellt, wenn das inkriminierte Buch aus der Bibliothek entfernt ist. Gefährlich findet Ahrbeck diese Haltung: "Verfassungsmäßig verbriefte Rechte dürfen unter keinen moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werden. Vor einer Subjektivierung des Rechtsempfindens, wie es der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier beklagt, kann deshalb nur gewarnt werden."
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Politik

"Tax the rich", fordern in mehreren Medien, unter anderem im Spiegel und dem Guardian, die Politiker Carlos Cuerpo, Enoch Godongwana, Fernando Haddad und Svenja Schulze. Genauer: Sie fordern eine globale Steuer auf Milliardenvermögen: "Es ist an der Zeit, dass die internationale Gemeinschaft mit dem Kampf gegen Ungleichheit Ernst macht. ... Und genau mit diesen Zielen hat Brasilien als Mitglied der Gruppe der 20 (G20) zum ersten Mal einen Vorschlag für eine globale Mindestbesteuerung von Milliardären eingebracht. Sie stellt eine notwendige dritte Säule dar, um die Verhandlungen über die Besteuerung der Digitalwirtschaft und die globale Mindeststeuer von 15 Prozent für multinationale Unternehmen zu ergänzen. Der renommierte Ökonom Gabriel Zucman hat dargelegt, wie diese funktionieren könnte. Weltweit gibt es derzeit ungefähr 3.000 Milliardäre. Die Steuer könnte als Mindestabgabe in Höhe von zwei Prozent auf das Vermögen von Superreichen erhoben werden. Sie würde nicht für Milliardäre gelten, die bereits einen angemessenen Beitrag bei der Einkommenssteuer entrichten. All jene aber, denen es gelingt, Einkommenssteuern zu umgehen, würden so verpflichtet werden, mehr zum Gemeinwohl beizutragen."
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Geschichte

In der Weimarer Republik wurde ein Verbotsverfahren gegen die NSDAP von der preußischen Regierung unter Otto Braun eingeleitet, schreibt Pitt von Bebenburg in der FR. "Die Reichsregierung und Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrum) lehnten es jedoch ab, gegen die Nazi-Partei und ihre Anführer vorzugehen. Monatelang antworteten sie auf Nachfragen der preußischen Regierung, dass die Frage noch geprüft werden. Dann ließen sie die Angelegenheit im Sande verlaufen. 'Die Ermittlungsverfahren gegen Hitler, Goebbels und die NSDAP wegen Verletzung der Strafbestimmungen über Hochverrat, staatsfeindliche Organisationen etc. wurden dadurch abgeschlossen, dass die Oberreichsanwaltschaft sie in Übereinstimmung mit dem Reichsjustizministerium im Juni 1932 einstellte', fasste einer der Autoren der Denkschrift zusammen: der preußische Jurist Robert Kempner, der nach dem Zweiten Weltkrieg zu den US-Anklägern in den Nürnberger Prozessen zählte (...). Die Entscheidung war ein gravierender Fehler mit schwerwiegenden Folgen, wie Kempner ausführte. 'Adolf Hitler und seine Nazi-Partei wären nie an die Macht gekommen, das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg hätte es nie gegeben', war er überzeugt."
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Kulturpolitik

Im Tagesspiegel-Interview mit Rüdiger Schaper erklärt der Berliner Kultursenator Joe Chialo, dass er den deutschen Kolonialismus mehr in die deutsche Erinnerungskultur rücken möchte. "'Opferkonkurrenz' ist immer wieder ein Problem, sie bringt uns aber nicht weiter. Erinnerung ist kein Nullsummenspiel. Deutschland muss seine koloniale Vergangenheit aufarbeiten und die Opfer würdigen. Es muss auch die Frage stellen, was damals die Beweggründe waren, in Afrika Kolonien zu erobern... Und nach wie vor beeinflussen die damals aufgezwungenen Strukturen unser Verhältnis zu Afrika und anderen ehemaligen Kolonien sowie unser Denken und unser Handeln." Chialo nimmt außerdem die postkoloniale Bewegung - teilweise - vor dem Vorwurf des Antisemitismus in Schutz: "Es gibt auch bei uns eine starke postkoloniale Bewegung. Wir erleben, dass punktuell postkoloniale Positionen und antisemitische Positionen zusammenfallen. Aber es ist mir wichtig, dass hier nicht ganze Teile der Bevölkerung unter Generalverdacht gestellt werden. Viele Menschen aus dem afrikanischen und arabischen Raum schauen anders auf die israelisch-palästinensische Geschichte und den Nahost-Konflikt als wir das traditionell in Deutschland tun."

Berliner Stadtschloss, die 1.583ste. In seinem Beitrag in der FAZ wünscht sich der Schriftsteller Friedrich Dieckmann, man könnte statt über die politische mal über die städtebauliche Bedeutung der viel kritisierten Kuppel sprechen: "Sie ist evident, sie fällt ins Auge, und so tut es die städtebauliche Bedeutung des wiedergewonnenen Schrägblicks auf die Nordfassade des Baus, deren außerordentliche Schönheit die immer noch laut werdenden Gegenstimmen gegen die Schlüter-Eosander-Erneuerung längst hätte entkräften müssen. So viel Gelungensein, Differenzierung im Kleinen und Maßgerechtheit im Großen, haben wir nicht verdient, scheint der Chorus der Widerstrebenden sagen zu wollen, aber das traut er sich nicht, sondern spricht von verdächtigen politischen Tendenzen, die sich hinter dem Bau verbergen könnten, gerade so, als wäre der Deutsche Bundestag, der ihn in den Volumina des Schlosses und mit seinen barocken Fassaden mit überparteilicher Mehrheit beschlossen hat, eine von rechten Kräften unterwanderte Institution gewesen." Und die "verschrobene" Inschrift? Hätte man gar nicht lesen können, hätte man auf das wenig denkmalsgerechte Restaurant in der Kuppel verzichtet.
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