9punkt - Die Debattenrundschau

Kindliche Torheit in politicis

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.07.2014. In der FAZ schreibt Jürgen Habermas zum Tod seines Jugendfreunds Hans-Ulrich Wehler, der die Kultur ohne apokalyptisches Händeringen (so die SZ) bettete, wohin sie gehört: ins Soziale. In der New Republic ist man alles in allem froh, dass die USA in den Ersten Weltkrieg eingriffen (sonst müsste man ja die Geschichte umschreiben!) Soziologe Wolfgang Sofsky findet es naiv, dass die Deutschen nicht ständig mit CIA-Spionen in Bundestagsausschüssen rechnen. Und wann ist eigentlich diese öde WM zu Ende?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.07.2014 finden Sie hier

Politik

Drei der Mörder eines palästinensischen Jungen haben gestanden. Ynetnews will den Politikern der Rechten in Israel ihre Betroffenheit über den Mord an einem palästinensischen Jungen durchaus abnehmen, aber das reicht dem Online-Magazin nicht aus: "Verurteilt nicht nur, speit aus! Übertrefft Euch nicht in den Flüchen, mit denen ihr die Mörder belegt. Sondern befasst euch mit den Anstiftern in den eigenen Reihen, jenen, die mitverantwortlich sind für die entfesselten Reaktionen nach der Entführung und Ermordung der drei jüdischen Teenager in Gusch Etzion. Speit sie aus. Denn dieser Mord ist nicht in einem Vakuum entstanden."

Dass die irakische Isis in ihrer verstärkt betriebenen Propaganda nicht nur mit Gewalt zu schockieren und beeindrucken versucht, sondern gleichfalls bemüht ist das Bild einer neuen Ordnung zu streuen, zeigt Joseph Croitoru in der NZZ auf: "Im Dschihad-Staat, so die Botschaft, herrscht Ordnung. Und die bedeutet vor allem eines: Unterwerfung und Gehorsam gegenüber dem "Islam" - in der Isis-Version, versteht sich. Beliebtes Motiv im Siegesalbum der islamistischen Eroberer ist das Ritual der "Baia", des Treueschwurs, den angeblich immer mehr Iraker dem jüngst ausgerufenen Kalifat leisten."
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Geschichte

In der FAZ schreibt Jürgen Habermas zum Tod seines Freundes, des Historikers Hans-Ulrich Wehler: "Seine prononcierte Hinwendung zur Sozialgeschichte, also die aufklärende Einbettung der politischen und kulturellen Geschichte in ökonomische und gesellschaftliche Kontexte, hat Hans-Ulrich Wehler zu einem der international anerkanntesten und einflussreichsten deutschen Historiker gemacht. Zugleich hat er damit eine nachhaltige Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der alten Bundesrepublik gewonnen. "

In der SZ schreibt Gustav Seibst den Nachruf: "Die Grundmelodie der "Sachlichkeit" unterschied Hans-Ulrich Wehler wohltuend vom apokalyptischen Händeringen, wie es sich in Deutschland zumal seit dem Abtreten der "skeptischen Generation" in den Nachrüstungsdebatten der Achtzigerjahre verbreitete." In der taz bemerkt Stefan Reinecke, dass der große Sozialhistoriker aus der Generation der Hitlerjugend am Ende keine Antennen für Themen wie Migration, Gender, Postmaterialismus und den Abschied von der Industriegesellschaft hatte: "Der Historiker der Bundesrepubik hat am Ende die Republik nicht mehr verstanden." In der FR schreibt außerdem Dirk Pilz, in der Welt würdigt Sven-Felix Kellerhoff den Historiker als "Bahnbrecher der Moderne". Der Bayerische Rundfunk hat ein Gespräch mit Wehler aus seinen Archiven online gestellt.

Die Historiker John M. Cooper und Michael Kazin diskutieren in der New Republic ausführlich über die Rolle der USA im Ersten Weltkrieg - und zeigen nebenbei, wie absurd die in den USA so beliebten "Was-wäre-Wenn"-Fragen sein können. Was wäre geschehen, wenn die USA nicht in den Krieg eingegriffen hätten und die Deutschen den Krieg gewonnen hätten, fragt Cooper im neuesten Artikel: "Eine wahrscheinliche Folge wäre eine Niederlage der Bolschewiki gewesen, aber bevor wir diese Perspektive auskosten, sollten wir uns überlegen, welche Konsequenzen dies für spätere antikoloniale Bewegungen gehabt hätte." Und dann erst für den Mauerfall!

Außerdem: Jürgen Vogt korrigiert in der taz das Bild der 1977 von argentinischen Militärs ermordeten Deutschen Elisabeth Käsemann. Sie war keine Pazifistin, sondern auch an bewaffneten Aktionen wie der Befreiung politischer Gefangener beteiligt. Aber selbstverständlich hätte ihr die Bundesregierung dennoch helfen müssen.
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Medien

Stefan Niggemeier attackiert die Scheinabstimmungen, zu denen ZDF seine Zuschauer über "Deutschlands Beste" aufgefordert hat. "Im Nachhinein stellt der Sender das Online-Voting nun nicht mehr als Abstimmung dar, sondern als "sendungsbegleitendes Angebot mit Gewinnspiel"." In etwas gehässigem Ton stellt Daniel Bouhs in der taz das gemeinnnützige Rechercheteam Correctiv vor.
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Überwachung

Der Soziologe und Blogger Wolfgang Sofsky gehört zur erlesenen Gruppe derer, die immer schon alles wussten, und kann die Empörung über den CIA-Spion, der den NSA-Ausschuss ausspionierte, nicht nachvollziehen. "Man fragt sich, worüber man sich mehr wundern soll: über die deutsche Naivität, was die Arbeit von Geheimdiensten anlangt, über die Unfähigkeit der eigenen Dienste, über die kindliche Torheit in politicis, über die Vertrauensseligkeit der Entrüsteten, über das plötzliche Erwachen aus dem langen Schlaf der Illusion?"

Auch Welt-Kommentator Richard Herzinger fühlt sich durch die Enthüllungen gestört: "Der Dauerbeschuss unserer Öffentlichkeit mit Schreckensberichten über die Machenschaften von US-Diensten spielt denen in die Karten, die - über den zwingenden Aufklärungsbedarf angesichts aus dem Ruder laufender Ausspähpraktiken hinaus - gegen die transatlantischen Beziehungen Stimmung machen."

Den Amerikanern geht es aber auch nicht besser als uns: Bartion Gellman und Kollegen enthüllen in der Washington Post, dass die NSA bei der Inlandüberwachung "wesentlich mehr Daten von Nicht-Betroffenen als von anvisierten Ausländern speichert." Patrick Beuth erläutert diese Erkenntnisse bei Zeit online: "Sexbeichten, Fotos von Frauen, die in Unterwäsche posieren, ärztliche Unterlagen, Babyfotos - all das hat die NSA im Rahmen ihrer Überwachung von Kommunikationsinhalten nach Sektion 702 des Fisa-Ergänzungsgesetzes abgefangen und gespeichert" - bei amerikanischen Bürgern, die gar nicht gemeint sind.
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Gesellschaft

Ganz schön öde diese WM, stellt Friedhart Teufel fest, der auf Zeit Online recht vergeblich nach ein bisschen Fußballzauber gesucht hat: "Bis zum Halbfinale gab es keines von beidem, weder das landesweite Fest noch höchste Fußballkunst. Ein solches Spiel der Erwartungen kann man aber auch nur verlieren. Der Zauber des Neuen ist nun einmal verflogen. "Man ertappt sich beim kleinlichen Fähnchenzählen an vorbeifahrenden Autos, um sagen zu können: War schon mal mehr los im Schland."
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