9punkt - Die Debattenrundschau

Sie weint

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.01.2016. In Cicero hofft Chantal Louis auf eine Reform des Sexualstrafrechts. Auf Zeit online sekundiert Strafverteidigerin Christina Clemm: Das Umzingeln und Begrapschen von Frauen ist derzeit nicht strafbar. Die Berliner Zeitung weiß nicht mehr, wann die Herkunft von Tätern wichtig ist und wann nicht. Die Welt weiß nicht mehr, wann sie gegen das Urheberrecht verstößt. Die positive Nachricht: Es wächst eine Zinnie im All.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.01.2016 finden Sie hier

Gesellschaft

Wenn die "Silvesternacht-Katastrophe" ein Gutes hatte, dann, dass endlich eine Reform des Sexualstrafrechts angekündigt wurde, schreibt Emma-Autorin Chantal Louis bei Cicero. Nach hiesigem Strafrecht könne nämlich jeder Mann davon ausgehen, dass eine Frau sexuellen Kontakt mit ihm möchte, selbst wenn die Frau klar und deutlich "Nein" gesagt habe: "Der Bundesverband der Frauennotrufe und Frauenberatungsstellen hat rund 100 Vergewaltigungsfälle dokumentiert, in denen die Täter freigesprochen oder gar nicht erst ein Verfahren eröffnet wurde. Die Begründungen verschlagen einem bisweilen den Atem. Allen voran die des Bundesgerichtshofs, der 2006 einen Freispruch wie folgt erklärte: Dass 'der Angeklagte der Nebenklägerin die Kleidung vom Körper gerissen und gegen deren ausdrücklich erklärten Willen den Geschlechtsverkehr durchgeführt hat', belege 'nicht die Nötigung des Opfers durch Gewalt'. Andere Richter folgen dem höchstrichterlichen Vorbild."

Die Strafverteidigerin Christina Clemm präzisiert das auf Zeit online im Gespräch mit der Soziologin Sabine Hark noch einmal: "Eine Frau, die sich in einer Menschenmenge befindet, wird plötzlich am Busen, am Hintern, zwischen den Beinen, ja sogar unterhalb der Kleidung an der Scheide angefasst - das ist heute nicht strafbar. Keine Gewalt, keine Drohung, keine schutzlose Lage. Die Frau wird dann von mehreren Personen umringt. Sie sagt, dass das nicht lustig sei, sie weint, doch die Angreifer lachen und führen sexuelle Handlungen an ihr durch. Wenn die Angreifer keine darüber hinausgehende Gewalt anwenden, wenn sie die angegriffene Frau also nicht festhalten oder schlagen, wenn sie ihr nicht sagen, dass sie sie töten oder schlagen werden, wenn sie theoretisch gehen könnte und sie sich dennoch - etwa aus Angst - nicht wehrt, nicht geht, dann ist das heute in Deutschland nicht strafbar."

In La Règle du jeu attackiert David Isaac Haziza all jene wohlmeinenden Linken, die die Kölner Ereignisse nicht mit der Herkunft und "Kultur" der Täter in Verbindung bringen wollen - "Eines Tage werden wir wählen müssen, ja, ich fürchte sogar kämpfen müssen um unsere Lebensart zu verteidigen, die nun mal, ob man will oder nicht, jenen Sitten auf dem Platz Tahrir und jenen Ländern, wo vergewaltigte Frauen ihre Vergewaltiger heiraten müssen, überlegen ist... Mit Ahmed Aboutaleb, dem Bürgermeister von Rotterdam, der marokkanischer Herkunft ist, möchte ich rufen: 'Wenn ihr unsere Freiheiten nicht liebt, dann packt eure Koffer!'"

Weiteres: In der Berliner Zeitung kann Christian Bommarius auch nicht mehr so eindeutig sagen, wann die Polizei die Herkunft von Tätern nennen soll und wann nicht. Den Runderlass des Düsseldorfer Innenministeriums von 2008, an dem sich Köln Oberbürgermeister Albers orientiert hat, nennt er "de facto einen Schweigebefehl". Für ein Missverständnis hält in der SZ Heribert Prantl die Regel, "im Zweifel lieber nicht zu schreiben, aus welchem Land der Verdächtige kommt". Und im Interview mit dem TagesAnzeiger präzisiert Slavoj Zizek seine Überlegungen zu den Übergriffen in Köln: "Europa muss auch von den ankommenden Muslimen verlangen, dass diese die europäischen Werte respektieren. Die Rechte der Frauen zum Beispiel stehen nicht zur Disposition. Und wir haben das Recht und die Pflicht, dem Islamismus Grenzen zu setzen."

Andere Themen: Praktisch diese neuen Trennungs-Apps, doch Andrea Köhler ist in der NZZ schon ein bisschen erschrocken über den Erfolg von Binder oder BreakupText: "Mit einem Wisch nach rechts schickt die Break-up-App eine SMS, etwa des Stils 'It's not me, it's definitely you'. Sollte 'Binder' - frei nach 'binned her', 'habe sie weggeworfen' - laut den Erfindern auch bloß ein Dummer-Jungen-Scherz sein, so war das Resultat für manche wohl nur begrenzt amüsant. Am Tag nach der Einführung dieser digitalen Müll-Deponie hatten über sechstausend User die Wisch-und-weg-App genutzt."
Archiv: Gesellschaft

Internet

Ein rauer Ton herrschte auf der einst so visionären Digitalkonferenz DLD in München, stellt Andrian Kreye in der SZ fest, anstelle intellektueller Diskurse sind Gefechte um die Ökonomie getreten: "Gegen den transatlantischen Konflikt, der sich da abzeichnet, wird die Debatte um den Irakkrieg aus dem vergangenen Jahrzehnt schon bald verblassen. Auch im Silicon Valley stehen hinter den Weltverbesserungsparolen längst nur noch Pläne zum Gewinn von Vormachtstellungen, Marktanteilen. Es geht um die Geschwindigkeit, mit der man der Zukunft den Weg ebnen und dann am besten gleich Wegezoll verlangen kann. Kein Wunder also, dass die Debatten der sogenannten Digerati und die Ideen der Visionäre leise geworden sind. Dass die Aktivisten, die fordern, die Welt der Daten müsse für die Allgemeinheit zurückerobert werden, sich oft sehr alleine fühlen."
Archiv: Internet

Europa

Der neue polnische Kulturminister hatte in Breslau kein Heimspiel, als er dort am Wochenden die Feiern der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas besuchte, berichtet Uwe Rada in der taz: "Die Breslauer, das haben sie an diesem Wochenende klargemacht, wollen europäisch bleiben. Als Gliński am Ende seiner Rede sagte, Polen sei eine 'stabile Demokratie', ging Gelächter durch das Publikum, einige riefen 'Propaganda'. Doch dann brauste im gleichen Moment tosender Beifall auf. Ja, Polen, ist eine stabile Demokratie, und die lassen wir uns von Warschau nicht kaputtmachen, lautete die Botschaft. Breslau ist mit einer klaren Ansage ins Kulturhauptstadtjahr gestartet."
Archiv: Europa
Stichwörter: Breslau, Kulturhauptstadt

Urheberrecht

Gregor Dotzauer las für den Tagesspiegel die aktuelle Neue Rundschau, die in 34 Beiträgen Überlegungen zu einem neuen Urheberrecht anstellt. Eins vor allem lernt er dabei: "Es scheint fast unmöglich, alle Anwendungsfälle über den Kamm eines einzigen Urheberrechts zu scheren." Besonders interessant findet er darum den Vorschlag des Anwalts Till Kreutzer, "die Interessengruppen künftig in Urheber, Verwerter, Nutzer und Vermittler mit je eigenen Rechten und Pflichten aufzuteilen, die sich bei Kollisionen klarer miteinander vermitteln lassen als bisher. Dazu müssten alle in der Ernährungskette jedoch einsehen, dass ihnen mit einer - unwahrscheinlichen - Grundsatznovelle mehr geholfen wäre als im modernisierenden Herumschrauben an einem aus der Gerechtigkeitsbalance geratenen Gesetz."

Hanns-Georg Rodek erzählt in der Welt von den völlig irren Fallstricken, die das Urheberrecht bereitstellen kann. Etwa für das Muster einer Tapete, die in einem Film verwendet wird: "Szenenbildner haben einen wiederkehrenden Albtraum. Darin statten sie eine Kulisse mit Gemälden, Möbeln oder Tapeten aus - und werden dann vom Rechteinhaber verklagt. Immer noch steht in vielen Arbeitsverträgen, dass der Ausstatter für Schadenersatzansprüche haftet, nicht der Produzent. Und die Grauzone ist enorm. Handelt es sich um 'unwesentliches Beiwerk' oder ist es wichtig für die Handlung? Darf man eine Filmfigur hinter einen Computer setzen, der als Apple erkennbar ist? Darf der kleine Junge einen unzweideutigen Mars-Riegel verzehren?" Dazu passen die von Irights.info zusammengestellten "Fünf unfassbaren Dinge, die Lehrende nach geltendem Urheberrecht nicht tun dürfen".
Archiv: Urheberrecht

Wissenschaft

Uwe Justus Wenzel berichtet in der NZZ von einer Freiburger Tagung zu Heidegger und seinem Denken "im Zwielicht der Zweideutigkeit" in Freiburg: "Die Frage, die, ausgesprochen oder nicht, das Gravitationszentrum einer differenzierenden Heidegger-Interpretation bildet, lautet: Worin unterscheidet sich Philosophie von einer Weltanschauung oder einer Ideologie?"

Der amerikanische Astronaut Scott Kelly hat auf der Raumstation ISS die erste Blume gezüchtet, eine orangefarbene Zinnie, meldet Heise. "Die nun frisch erblühte Zinnie sei zwar nicht perfekt gewachsen, aber das Experiment habe trotzdem wertvolle Erkenntnisse über Pflanzen im All geliefert, teilte Nasa-Veggie-Expertin Gioia Massa mit. So sei die Zinnie ein gutes Lehrstück, um etwa den Anbau von Tomatenpflanzen vorzubereiten."


Archiv: Wissenschaft
Stichwörter: ISS, Heidegger, Martin, Nasa, Pflanzen