Efeu - Die Kulturrundschau

Aus Erbauungswitz wird Demontagehumor

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19.01.2016. Warum ist und bleibt Gustav Mahler so populär?, fragt die NZZ. Der New Yorker berichtet sehr kritisch über die Netflix-Dokuserie "Making a Murderer", die die Unschuld eines Angeklagten nachweisen will. Wenn Dauerwellen und Bärte sich innig veschränken, dann ist das Pop, und Dolly Parton wird siebzig, informiert die FAZ. Die SZ zweifelt am Gelb-Ocker-Ton der Innenwände der renovierten  Kathedrale von Chartres. Für die Kritiker ist  Eugène Labiches "Die Affäre Rue de Lourcine" am Deutschen Theater Musik. Die Literaturwelt trauert um Michel Tournier.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.01.2016 finden Sie hier

Film


"Making a Murderer", Szenenbild. Quelle: Netflix.

Heftig diskutiert wird in den USA die Netflix-Doku "Making a Murderer", die die Unschuld eines Angeklagten namens Steven Avery nachweisen will - und tatsächlich eine Menge Missstände im amerikanischen Justizsystem aufdeckt. Kathryn Schulz schreibt totzdem im New Yorker sehr kritisch darüber, weil der Film die Gegenseite vorschnell verurteile. Wie viele Prozesse auch rechtfertige die die extrem populäre Dokumentarserie die Mittel mit dem Zweck: "Die Leute mögen glauben, dass sie auf der reichtigen Seite stehen, entscheidend ist aber, wie sie handeln. Der Sinn einer gründlichen Recherche liegt darin, dass am Ende alles triftig ist - egal ob man einen Mann verurteilen oder freisprechen will. Die Filmemacherinnen Laura Ricciardi and Moira Demos zinken ihre Karten, um Avery zu unterstützten und machen sich am Ende Spiegelbild der Zustände, die sie kritisieren."

Weitere Themen: Spike Lee wird die kommende Oscarverleihung wegen der mangelnden Diversität der Nominierungen boykottieren, meldet der Guardian. Sherlock Holmes erfreut sich bester Konjunktur in Film und TV, schreibt Tobias Rüther in seinem online nachgereichten FAS-Artikel.
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Literatur

Zeit.de meldet (mit Agenturmaterial), dass der einst auch in Deutschland sehr bekannte französische Autor Michel Tournier in Paris im Alter von 91 Jahren gestorben ist: Sein berühmtestes Buch ist der populäre, in der Nazizeit spielende Roman 'Erlkönig", der von Volker Schlöndorff verfilmt wurde.

Weiteres: SZler Lothar Müller gratuliert dem Schriftsteller Julian Barnes zum Siebzigsten, in der NZZ stimmt Stefana Sabin ein. Besprochen werden zwei Hörbuch-Versionen von Jewgenij Zamjatins "Wir" (FR), Peter Wohllebens Bestseller "Das geheime Leben der Bäume" (ZeitOnline), Mai Jias Thriller "Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong" (SZ) und Jürgen Beckers "Jetzt die Gegend damals" (FAZ).

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Kunst



Ilpost.it bringt eine fantastische Fotostrecke des 1987 geborenen französischen Fotografen Laurent Kronental, der einige, inzwischen recht betagte, Pioniereinwohner der Cités in den Pariser Banlieues porträtiert. Bis zum 7. Febrauar werden Kronentals Fotos in der Bibliothèque nationale de France ausgestellt.

Für den Tagesspiegel hat Rüdiger Schaper die neu zusammengestellte Dauerausstellung zu Europa ab 1600 des Victoria & Albert Museums in London besucht. Religion gerät dabei historisch ins Hintertreffen, "der Säkularismus breitet sich aus, die Kultur des Individuums. Inneneinrichtung und die Gestaltung von Gärten und Parks, die Ausbildung von persönlichem Geschmack: Man wandert umher und entdeckt die Welt, aus der man kommt, zu der man gehört, neu. Waffen findet man auch, aber sie bleiben am Rand. Auch fast nichts von Krankheit, Seuchen, Tod, Armut und sozialem Elend. Das V & A zeigt Europa als Utopie der schönen, nützlichen, erlesenen Dinge, ein Europa der Kultur, des Luxus und der Moden."

Besprochen wird Miriam Paeslacks Bildband "Berlin im 19. Jahrhundert" (Tagesspiegel).
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Musik

Hoch interessiert bespricht Jörg Rothkamm in der NZZ den von Lena-Lisa Wüstendörfer herausgegebenen Band Mahler-Interpretation heute, der unter anderem nach der Ursache für Gustav Mahlers anhaltende Popuarität fragt: "Die Herausgeberin selbst erweitert die bekannten Argumente zur Popularität Mahlers durch stichhaltige Thesen, etwa, indem sie die Attraktivität Mahlers für die Pop-Kultur auf die hohe Schnittfrequenz heterogener Materialien und Stile in seiner Musik zurückführt, vergleichbar ähnlichen Tendenzen im Film." Rothkamm erzählt auch, dass immer öfter eine "historisch informierte" Aufführungspraxis für Mahler-Sinfonien mit historischen Insturmenten und einer anderen Sitzordnung des Orchesters gefordert werde, wie sie hier Roger Norrington mit Mahlers Neunter vorführt.



Bei den teils martialischen Klängen und kultur- wie musikwissenschaftlich unterfütterten Debatten beim Berliner Festival "Krieg singen" ließ es sich bestens über den Stand der Dinge im Verhältnis zwischen Musik, Gewalt und Agitation nachdenken, schreibt Philipp Rhensius in der FAZ: Denn "wenn das Nachdenken über Musik und Gewalt eines lehrt, dann ist es, die Dialektik der Welt zu erkennen: Alles vermeintlich Schöne und Wahre kann hässlich und falsch sein. Die Aussage des Medientheoretikers Friedrich Kittler, nach der Diskotheken 'die Jugend auf einen Krieg vorbereiten', ist längst Wirklichkeit geworden. Das ist beängstigend, könnte aber gerade heutzutage dabei helfen, achtsamer zu sein." Für die taz war Robert Miessner bei der Veranstaltung. Für die Jungle World hat sich Oliver Koch mit dem Co-Kurator, dem Musikologen Holger Schulze, unterhalten.

Weiteres: In der SZ schreibt Jan Kedves zum Tod des Rappers Blowfly. Die Agenturen melden, dass Eagles-Gitarrist Glenn Frey gestorben ist. Besprochen werden ein Konzert von Teodor Currentzis und seinem Ensemble MusicAeterna (Tagesspiegel) sowie Ausstellungen in New York, Stuttgart und Berlin über Kunst und Jazz (SZ).

Und Dolly Parton wird siebzig. Dietmar Dath gratuliert in der FAZ und findet folgende Definition für Pop: "Pop ist, wenn Bärte und Dauerwellen sich ineinander verheddern." Wie in dieser Version von "Islands in the Stream" mit Kenny Rogers zu verifizieren ist.

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Architektur

Wenn alles nach Plan läuft, wird in diesem Jahr die aufwändige Restauration der mittelalterlichen Kathedrale von Chartres abgeschlossen werden, erklärt Willibald Sauerländer in der SZ. Trotz allem Staunen über den damit verbundenen Aufwand, meldet er dennoch leise Skepsis an: "Ihr farbiger Grundton lag zwischen Ocker und Gelb, Michler hat ihre Spur aufgespürt, aber nie als ein Kontinuum. Die Restaurierung seit 2009 hat dagegen alle freiliegenden Wände und Flächen mit diesem Gelb-Ocker-Ton übertüncht: von den Pfeilern bis zu den Gewölben. Diese Tünchung ist von einer sorgfältigen Gleichmäßigkeit. Ihre das dämmrige Innere der Kathedrale auflichtende Wirkung ist unbestreitbar und kann nur von dunkelsüchtigen Träumern beklagt werden. Wir stehen staunend vor einem verwandelten Chartres. ... So möchte man bei aller Bewunderung für ihren Eifer den Verantwortlichen für die Restaurierung in Chartres zurufen 'Cautius! Behutsam!'"

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Bühne



Auf dem Bild Camill Jammal, Wiebke Mollenhauer, Christoph Franken. Foto: Arno Declair. Deutsches Theater

Trotz ausgiebiger Flatulenzen gibt es in Karin Henkels rasanter Inszenierung von Eugène Labiches "Die Affäre Rue de Lourcine" am Deutschen Theater in Berlin auch "hohe Schauspielkunst" zu sehen, versichert uns Ulrich Seidler in der FR. Die um Husten, Schnarchen und Rülpsen fortlaufend ergänzte Darmwind-Revue um Morde und Seitensprünge, die womöglich gar nicht stattgefunden haben, verschwurbelt sich allem Anschein nach sehr fröhlich, erfährt man außerdem: "Dass das Könnte-Sein auf der Bühne stets zum gleichberechtigten Ist wird, macht das Theater zu einem Teufelswerk." Die Tagesspiegel-Kritikerin Christine Wahl indes wühlt "unter der Humorschicht" der Inszenierung und stößt dabei auf "nichts Geringeres als die Grundfrage der Philosophie: Wer bin ich?" Doch "aus Erbauungswitz wird Demontagehumor", der "nicht uneingeschränkt unterhaltsam" sei, aber immerhin "konsequent". Katrin Bettina Müller von der taz hält den Abend unterm Strich, "der tollen Besetzung und dem witzigen Spiel zum Trotz", für eine Spur zu dürftig. eine Weitere Besprechung in der Welt.

Weiteres: Für die taz spricht Robert Matthies mit Joachim Lux, Regisseur und Dramaturg am Hamburger Thalia Theater, über die politischen Aufgaben und Ansprüche des Theaters.

Besprochen weden Milo Raus "Mitleid" an der Berliner Schaubühne (SZ, taz, NZZ, mehr im gestrigen Efeu), Lorenzo Fioronis "Rigoletto"-Inszenierung in Mainz (FR), eine Saarbrückener Aufführung von Jean-Philippe Rameaus Oper "Platée" (FAZ), neue Choreografien am Ballett am Rhein (FAZ), die von den Tiger Lillies am Theater Oberhausen umgesetzte Musical-Version von Frank Wedekinds "Lulu" (FAZ) und eine Nürnberger Aufführung von Fromental Halévys Oper "La Juive" (SZ).
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