9punkt - Die Debattenrundschau

Die Berechenbarkeit der Aufmerksamkeitszyklen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.06.2016. Libération hofft auf den Brexit - aber nicht im Interesse der Briten. Gerade die Sozialdemokraten müssten Interesse an einer geringeren Zuwanderung haben, meint der  britische Publizist David Goodhart in der Zeit. Politico.eu untersucht die engen Beziehungen zwischen Podemos und dem Venzuela des Hugo Chavez. Statt eines Islamunterrichts schlägt Evelyn Finger in der Zeit einen bekenntnisübergreifenden Religionsunterricht in den Schulen vor.  Es ist heuchlerisch, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen, wenn man nicht auch den Völkermord an den Herero als solchen benennt, meint die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.06.2016 finden Sie hier

Europa

Jean Quatremer von Libération hofft sehr auf einen Brexit, der zwar nicht im Interesse der Briten, wohl aber im Interesse der EU sei: "Wenn ihr bleibt, könntet ihr uns das Leben versauern wie nie zuvor. David Cameron wäre der einzige europäische Spitzenpolitiker, der ein Europa-Referendum durchgestanden hätte und wird im Spiel der Gemeinschaft also eine zentrale Rolle bekommen. Er und seine Nachfolger werden Konzession um Konzession aushandeln, um den föderalen europäischen Traum der Väter der EU endgültig zu beerdigen und den Kontinent in eine immer laschere Freihandelszone zu verwandeln. Jede Hoffnung auf einen europäischen Neuanfang wäre dahin."

Diego Torres geht in politico.eu der Frage nach, wie nahe die spanische Podemos-Partei dem Venezuela des Hugo Chavez stand: "Im April veröffentlichte die Tageszeitung ABC ein von Chavez signiertes Dokument, das dem (von Podemos-Parteiführer Pablo Iglesias geleiteten) thinktank CEPS 7 Millionen Euro zuwies - mit dem ausdrücklichen Ziel 'in Zusammenarbeit mit der Regierung Boliviens politischen Wandel in Spanien durchzusetzen'. Podemos bestritt die Echtheit des Dokuments, aber sein Autor, ein ehemaliger Chavez-Minister, der jetzt im amerikanischen Exil lebt, beteuert seine Echtheit." Iglesias hatte noch 2013 seine Bewunderung für den Caudillo bekannt.

Der britische Publizist David Goodhart plädiert im Interview mit der Zeit dringend für eine Beschränkung der massenhaften Zuwanderung nach Europa, die besonders die Sozialdemokratie beschädige: "Was glauben Sie, wie lange es das deutsche Kindergeld in dieser Höhe noch gibt, wenn die Einwanderung auf dem Niveau von 2015 bleibt? Viele Sozialdemokraten verstehen nicht, dass Gesellschaften empfindliche Zusammenhänge sind, dass Vertrauen verschwindet, wenn Nachbarschaften nicht mehr dieselbe Sprache sprechen. Deshalb müssten gerade Linke für einen besseren Schutz von Grenzen eintreten. [...] Historisch war die Linke für die Durchsetzung ihrer Forderungen nach besserer sozialer Absicherung immer auf einen starken Nationalstaat angewiesen. Ich staune, dass sie jetzt in dieser Frage sich dem alten Thatcher-Diktum annähert: There is no such thing as society. Doch, es gibt eine Gesellschaft."
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Kulturpolitik

Lothar Müller berichtet in der SZ von der in Berlin veranstalteten internationalen Syrien-Konferenz von Archäologen und Denkmalschützern (siehe Hermann Parzingers gestrigen Artikel in der FAZ, der jetzt online steht, unser Resümee) und sieht sie als Ausdruck der Hoffnung, "dass der internationalen Gelehrtenrepublik in ihrer Sphäre gelingen kann, woran die politische Diplomatie auf ihren Treffen so häufig scheitert".
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Gesellschaft

In der NZZ beklagt Cora Stephan die ihrer Ansicht nach fortdauernde Verwechslung des Literarischen, Persönlichen mit dem Politischen, Allgemeinen. "Liberalkonservative Skeptiker" können aufatmen, meint Ijoma Mangold im Aufmacher des Zeit-Feuilletons: Ab sofort könne man ihre Grundsätze nicht mehr mit denen der AfD, deren Rassismus nach Alexander Gaulands Bemerkung zu Boateng offenkundig sei, verwechseln.
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Medien

Die Frage, wie seriös die FAS mit dem berühmten Zitat Alexander Gaulands über Jérôme Boateng verfahren ist, wird langsam zu einer Glaubensangelegenheit. Stefan Niggemeier hatte in uebermedien allerdings schon vorgestern geschrieben: "Die reflexhafte Reaktion, das sofortige 'Wie kann der sowas sagen?' verhindert aber die Debatte über eine Frage: Hat Gauland womöglich recht? Ist jemand, der ein Problem damit hätte, wenn bei ihm nebenan ein Mann mit schwarzer Hautfarbe einzöge, wirklich ein solch absurd unwahrscheinlicher Einzelfall, wie es die Reaktionen auf Gauland wirken lassen?" Niggemeier hat auch herausgefunden, dass die FAS die Zuschreibung eines Zitats über "verrottete Kirchenfunktionäre", das sie dem AfD-Rechtsaußen Björn Höcke in den Mund gelegt hatte, korrigieren musste - statt den Fehler aber einzugestehen und zu korrigieren hat sie sich online "dazu entschieden, einfach eckige Klammern mit Punkten einzufügen".

Sascha Lobo tritt in seiner Spiegel-Online-Kolumne einen Schritt zurück und analysiert die immergleiche und schematische Dramaturgie solcher Medien-Aufgeregtheiten: "Der Diskursnährwert dieser Drehbuchdebatten ist allenfalls homöopathisch vorhanden. Denn niemand scheint irgendetwas daraus zu lernen, und wenn doch, geschieht es in erschütternder Antiproportionalität: Je schneller und heftiger die Diskussion, desto langsamer und seichter die Erkenntnis." Und formuliert ein Naturgesetz: "Die Berechenbarkeit der Aufmerksamkeitszyklen ist in jedem Fall ein Geschenk für populistische Manipulation."
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Religion

Kürzlich hat der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford Strohm, vorgeschlagen, einen staatlichen, "flächendeckenden Islamunterricht" für Muslime an deutschen Schulen einzuführen. In der Zeit macht Evelyn Finger einen Gegenvorschlag: flächendeckender, nicht bekenntnisorientierter Religionsunterricht für alle Kinder: "Es wäre Zeit, sie gemeinsam über Religion zu unterrichten. Dann würden die Christen etwas über den Islam lernen, die Muslime etwas über das Christentum, die Atheisten etwas über den Glauben - und alle gemeinsam Toleranz."
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Geschichte

Die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern ist nicht glaubhaft, wenn die Deutschen nicht auch den Völkermord an den Herero und Nama benennen, mahnt der Historiker Jürgen Zimmerer in der taz: "Die türkischen Interessenverbände möchten mit politischem Sperrfeuer die Anerkennung seitens des Bundestags verhindern. Aber sie hätten es mit ihrem Argument, das Ganze besäße eine antitürkische Komponente, weit schwerer, wenn sich der Deutsche Bundestag in Fragen der Anerkennung genozidaler Verbrechen nicht selbst derart inkonsequent verhalten hätte."
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