9punkt - Die Debattenrundschau

Schon stürzen sich die Reinen auf die Sündhaften

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.09.2016. Der Rollback in der Türkei bedeutet auch und vor allem, dass Frauenrechte eingeschränkt werden, schreibt Elif Shafak in der NZZ. In der FAS fragt Justus Haucap nach der Legitimation der öffentlich-rechtlichen Sender in Zeiten der Informationsflut. Auch in Frankreich wird über die öffentlichen Sender diskutiert. Keine Regierung hat mehr Whistleblower als Verräter in den Knast gesteckt als die Regierung Obama, stellt die taz fest. Die Washington Post fordert unterdessen "keine Gnade" für ihre einstige Quelle Edward Snowden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.09.2016 finden Sie hier

Gesellschaft

Weibliche Lust ist nur in einer freien Gesellschaft möglich, sagt Peter Sloterdijk, dessen neuer Roman von Sex handelt, im Gespräch mit drei SZ-Redakteuren (das Interview wurde bereits am Samstag publiziert). Gefährdet sei sie auch durchs Netz: "Der digitale Puritanismus kommt heute im Gewand der allgemeinen gegenseitigen Überwachung an die Macht. Die in den sozialen Medien tonangebende Korrektheit uniformiert die Ihren jetzt mehr als seinerzeit jeder Mao-Kragen. Ein loses Wort, und schon stürzen sich die Reinen auf die Sündhaften. Die müssen sich dann vor der versammelten Gemeinde entschuldigen, ganz so wie in protestantischen Überwachungskommunen üblich."

Naja, so schlimm ist es mit dem Puritanismus noch nicht. Französische Wissenschaftler haben gerade ein 3-D-Modell einer Klitoris vorgestellt, das in der Schule im Sexualkunde-Unterricht verwendet werden soll, berichtet im Guardian Minna Salami, zufrieden, dass so mit einigen Mythen aufgeräumt wird: "For one, it refutes the dictionary/textbook education that wrongly asserts the clitoris is the size of 'a fingertip', a 'pea' or that it is small. We can now clearly see that the clitoris includes two shafts (crura) which are actually about 10 cm long. Not only can we visualise that the clitoris is more than what the eye perceives; with the visual model we can also now get a mental image of how it encircles the vagina, making penetrative sex potentially orgasmic. This means that a demystified discussion about the female orgasm is possible at long last."
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Europa

In der NZZ fürchtet die Autorin Elif Shafak, dass die türkische Regierung die Demokratie unterminiert - und damit auch die Frauenrechte: "In der AKP-Regierung wollen männliche Politiker den Frauen vorschreiben, wie viele Kinder sie bekommen sollen, dass sie in der Öffentlichkeit nicht laut lachen sollen, dass Abtreibung gleichzusetzen ist mit Massenmord. Ich habe noch nie gehört, dass eine türkische Politikerin den Männern erklärt, wie sie sich kleiden müssen oder ob sie einen Schnurrbart tragen dürfen oder nicht. In der Frage der Frauenrechte hat es einen Rückschritt gegeben. Häusliche Gewalt nimmt zu, der Anstieg bei Morden an Frauen ist alarmierend."
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Internet

In der FAZ sprechen sich die Juristen Friedrich Graf von Westphalen und Christiane Wendehorst für eine neue, EU-weite Datenschutz-Grundverordnung aus, die gewährleisten soll, dass die Verarbeitung von Kundendaten nicht mehr so einfach im Kleingedruckten versteckt werden kann: "Werden personenbezogene Daten des Verbrauchers letztlich zu kommerziellen Zwecken verarbeitet, sind sie als 'Entgelt' zu qualifizieren und müssten den gleichen vertragsrechtlichen Regeln unterfallen wie eine in Geld zu entrichtende Gegenleistung: Auf sie müsste deutlich hingewiesen werden; und an das Einverständnis des Verbrauchers müssten die gleichen, kürzlich durch die Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU massiv verschärften Anforderungen gestellt werden."
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Überwachung

Keine amerikanische Regierung hat mehr Whistleblower als Verräter in den Knast gesteckt als die Regierung Obama, schreibt die Amerika-Korrespondentin Dorothea Hahn in einem Artikel über Oliver Stones Snowden-Film: "Am schwersten traf es Chelsea Manning, die 2013 zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil sie - damals noch als Bradley Manning - militärische und diplomatische Geheimdokumente an Wikileaks weitergegeben hatte. Auch vor dem Hintergrund dieser Erfahrung glauben nur wenige, dass Obama tatsächlich die 'Lame Duck'-Periode - also die Zeit nach der Wahl deR NachfolgerIn im November vor der Amtsübergabe im Januar - nutzen wird, um Snowden zu begnadigen. "

Die Washington Post brilliert unterdessen mit einem redaktionellen Editorial, in dem sie "keine Gnade für Snowden" fordert - also keine Gnade für ihre einstige Quelle! Constanze Kurz zählt in ihrer FAZ-Kolumne unterdessen auf, was Snowden so alles als "Landesverrat" vorgehalten wird - etwa dass die USA die NSA zur Wirtschaftsspionage nutzen.
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Medien

So abwegig findet der Ökonom Justus Haucap in der FAS Horst Seehofers Vorschlag einer Zusammenlegung von ARD und ZDF nicht, denn die Öffentlich-Rechtlichen gleichen für ihn keinen Mangel mehr aus: "Die Legitimation für ein öffentlich-rechtliches Rundfunkangebot stammt im Wesentlichen aus den Zeiten des Schwarzweißfernsehens, als es nur einen, dann zwei oder auch drei Sender gab. Weil die Frequenzen knapp waren, konnte es - technologisch bedingt - nur wenige Sender geben. Die Befürchtung, dass es zu einem Meinungsmonopol oder starker Meinungsmacht hätte kommen können, war also sicher nicht unberechtigt. Nur ist die Situation heute eine völlig andere: Neue technologische Möglichkeiten stellen ein äußerst umfangreiches Programmangebot bereit - mit etwa 400 TV-Programmen in Deutschland, zahlreichen Video-on-Demand-Angeboten und neuen Kommunikationskanälen im Internet."

Auch in Frankreich wird über die Öffentlich-Rechtlichen diskutiert - die dort allerdings direkt ein Staatsfernsehen sind. Die Problematik ist aber die gleiche. Der Ökonom Olivier Babeau, Autor eines viel attackierten Papiers über die französischen Staatssender, verteidigt in Le Monde seinen Standpunkt, dass sich die Sender auf ihre "eigentliche Aufgabe", die Kultur, konzentrieren sollten: "Malraux' Traum war es, Bedingungen für eine Demokratisierung der Hochkultur zu schaffen. Diese Vision ist niemals Realität geworden, wie zahlreiche Studien und Berichte belegen. Hin- und hergerissen zwischen der Notwendigkeit, ein immer größeres Publikum zu suchen, und jener, den kulturellen Anspruch hochzuhalten, haben die großen Sender des öffentlichen Fernsehens in den meisten Fällen die zweite Forderung der ersten geopfert. Durch seine Quotenvorgaben hat France 2 das ursprüngliche Ziel, 'anspruchsvolle' Kultur zu verbreiten, in Wirklichkeit total aufgegeben, es sei denn sie wird heuchlerisch mitten in die Nacht verschoben."
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