9punkt - Die Debattenrundschau

Der Weg über den Westen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.04.2017. Die taz fragt sich, ob ein "Nein" im türkischen Referendum nicht genau  so unheimlich ist wie ein "Ja".  Backchannel fragt: Was ist eigentlich aus Google Books geworden? Die FAZ schildert die Schwierigkeit des Gedenkens an die Oktoberrevolution in Russland.  Facebook hat einen Weg zur Bekämpfung von Fake News gefunden: Ganzseitige Anzeigen in Zeitungen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.04.2017 finden Sie hier

Europa

Die Angst vor einem "Nein" beim türkischen Referendum am Sonntag ist fast genau so groß wie die vor einem "Ja", schreibt Jürgen Gottschlich in der taz und erinnert an Erdogans Reaktion auf seine Wahlniederlage vor zwei Jahren: "Erdogan wollte das nicht akzeptieren. Er verhinderte eine Koalitionsregierung und setzte Neuwahlen für den November 2015 durch. Was folgte, war einer der blutigsten Wahlkämpfe der türkischen Geschichte, bei dem durch Terroranschläge, die angeblich alle auf das Konto des IS gingen, die kurdisch-linke HDP mehr als 200 Mitglieder und Anhänger verlor. Für Erdoğan wäre ein Nein auch jetzt nur der Start zu einem neuen Anlauf."

Susanne Memarnia unterhält sich in der taz mit Dervis Hizarci, der in Kreuzberg eine Initiative gegen Antisemitismus leitet und mit türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen arbeitet. "Die meisten unserer Jugendlichen 'teamen' an Schulen, leiten Workshops oder initiieren eigene Projekte bei anderen Trägern. Viele haben ihre Präsentationsprüfung im Abitur zu dem Thema gehalten, einer hat seine MSA-Prüfung dazu gemacht, eine andere ist jetzt Guide am Jüdischen Museum. Als der Rabbiner Alter überfallen wurde, sind zwei der Jugendlichen nach Friedenau gefahren zu einer Kundgebung, haben dem Rabbi ihre Trauer, ihr Mitgefühl ausgedrückt. Auch wenn die Jugendlichen damit ein gewisses Risiko auf sich nehmen: Sie beziehen Position, privat wie öffentlich, auf der Straße wie online."
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Internet

Höchst interessant erzählt Scott Rosenberg bei Backchannel von den zwei Toden des Google Book Search-Projekts. Den ersten starb es, nachdem gegen Google Books geklagt wurde. Den zweiten starb es, nachdem Google vor Gericht gesiegt hatte. Denn trotzdem wird das Projekt offenbar nur noch höchst halbherzig weitergeführt, und Rosenberg erzählt, wie schwer es überhaupt ist, jemand im Konzern darüber zu Auskünften zu bewegen: "Die Google-Books-'History'-Seite reißt im Jahr 2007 ab, und das Google-Books-Blog stoppte im Jahr 2012, nach dem es in das allgemeine Google-Search-Blog integriert wurde, wo Informationen über Bücher fast nicht zu finden sind. Als laufender und nützlicher Service blieb Google Books ein Anliegen. Aber als ein lebendiges Projekt mit Plänen, Ankündigungen und institutioneller Sichtbarkeit hatte es sich in Luft aufgelöst. Das fühlte sich angesichts des juristischen Siegs seltsam an."
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Stichwörter: Google Books, Sichtbarkeit

Geschichte

Kerstin Holm erzählt in der FAZ, wie paradox es um die Gedenkfeiern zur Oktoberrevolution in Russland steht: "Einerseits wird mit der Geschichte der Sowjetunion ein nostalgischer Kult betrieben, also müsse man die Revolution als deren Geburtsstunde würdigen, sagt der Stalinismusforscher Oleg Chlewnjuk; andererseits sei der Zusammenbruch des Zarenreichs vor hundert Jahren nur für die Kommunisten ein Grund zum Feiern."

Auf einen interessanten Aspekt von Revolutionen in weit entfernten Ländern macht Sonja Zekri in der SZ aufmerksam: "Die Rückkehr des Revolutionärs aus der Fremde ist ein historisches Motiv, dessen dynamische Wucht gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Lenins Ankunft im revolutionären Petrograd vor hundert Jahren war dafür ein frühes Beispiel, Khomeinis Rückkehr ein späteres. Dabei ist der Moment der Ankunft nicht denkbar ohne die Jahre davor, ohne das Exil, den Umweg über das Ausland. Viele radikale Geister, die später in ihren Ländern Umstürze, Revolutionen, Diktaturen oder militante Bewegungen inspirierten oder ins Werk setzten, nahmen den Weg über den Westen, der als eine Art politischer Inkubator, als ideologischer Teilchenbeschleuniger wirkte. Oft war es Frankreich."
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Medien

Ob man Fake News tatsächlich mit ganzseitigen Anzeigen in Zeitungen bekämpfen kann - wie heute zum Beispiel in der SZ? Glücklich macht man damit allenfalls die Anzeigenchefs der Zeitungen - und lenkt zugleich von der Tatsache ab, dass Google und Facebook heutzutage den allergrößten Teil des Online-Werbemarkts abgreifen!
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Stichwörter: Fake News

Religion

Schlimm sind Religionskritiker, die Beschneidung bei kleinen Jungen nicht gutheißen, findet die Religionswissenschafterin Franziska Holzfurtner bei den Salonkolumnisten: "Die Eltern nehmen die Beschneidung beziehungsweise Taufe und religiöse Erziehung nicht als Vorsorge dafür wahr, dass die Kinder linientreu zurechtgebogen werden (oder -geschnitten, wie Antisemiten sich gelegentlich auszudrücken pflegen), sondern die Eltern erfüllen das natürliche Recht ihres Kindes darauf, Teil ihrer Religion zu sein. In einer pluralistischen, gewissensfreien Gesellschaft muss und darf von den Eltern natürlich erwartet werden, dass sie es akzeptieren, wenn das religionsmündige Kind diese Gemeinschaft selbst verlässt." Und seine Beschneidung rückgängig macht?
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Politik

Selbst Hitler hätte kein Gas gegen seine Feinde eingesetzt, hat Trumps Sprecher Sean Spicer auf einer Pressekonferenz gesagt. Timothy Snyder greift im Guardian diese Bemerkung auf und beobachtet, dass diese Art der Ignoranz oft mit inflationären Hitler-Vergleichen einhergeht: "Trivialisierung ist ein Schritt zur Verleugnung, und Leugnung ist der Markstein für Wiederholung. Wer Hitler zum Comic-Bösewicht des Moments macht, verhindert eine ernsthafte Reflexion darüber, welche Art von Politik Massentötungen möglich macht. Die beginnt, wenn politische Autoritäten uns auffordern, Nachbarn aus der Community auszuschließen, indem man sie mit eine globalen Bedrohung identifiziert." In der gestrigen NZZ verwahrte sich der Historiker Caspar Hirschi auch gegen den Vergleich Donald Trumps mit Hitler.

Richard Herzinger bezweifelt in der Welt, dass aus Donald Trumps Militärschlag gegen eine syrische Militärbasis insgesamt eine dezidiertere Politik gegenüber Assad und seinem Partner Putin erwächst. Misslich sei auch, "dass Trump - wie vor ihm Obama - den Militäreinsatz nur mit dem Einsatz von Giftgas begründet hat und nicht insgesamt mit den systematischen Terrorbombardements des Regimes sowie der russischen Luftwaffe gegen die Zivilbevölkerung, die unvermindert weitergehen. Auffällig ist überhaupt, dass Trump nicht ausdrücklich Russland für Assads Chemiewaffeneinsatz mitverantwortlich gemacht hat."
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