9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn nötig, Unverständnis

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.01.2019. Timothy Garton Ash hofft im Guardian auf einen Triumph der Demokratie: Das Unterhaus soll die Regie übernehmen, eine Denkpause einlegen und sich zu einem zweiten Referendum über den Brexit entschließen. In der NZZ wirft die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko einen spöttischen Blick auf Russland. Die SZ sucht nach dem Unterschied zwischen einer Relotius-Reportage  und einer literarischen Reportage, die den Namen verdient.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.01.2019 finden Sie hier

Europa

Könnte es sein, dass der Brexit noch zum Triumph der Demokratie wird? Theresa Mays Regierung hängt fest. Man bereitet erhöhte Sicherheitsvorkehrungen vor, falls es beim No-Deal-Brexit zu Hamsterkäufen kommt (mehr bei politico.eu). Der britische Industrieverband warnt vor riesigen Verlusten an Arbeitsstellen (mehr im Guardian). Timothy Garton Ash sieht das Land im Guardian vor "einem blindwütigen Brexit oder einer Denkpause". Da angesichts der gelähmten Regierung "das Parlament die Kontrolle übernimmt, müssen sich die Labour-Abgeordneten aus der ersten Reihe Parlamentariern aller Parteien anschließen, um die Denkpause durchzusetzen. Unter Denkpause verstehe ich eine Periode demokratischer Debatte, die zu einem zweiten Referendum führt, in welchem wir auf der Grundlage unserer heutigen Kenntnisse entscheiden, wie wir die realen Probleme angehen, die zu der Breixit-Abstimmung führten, welches Land wir sein wollen und ob wir es lieber innerhalb oder außerhalb der EU sind."

Der Krieg hat geholfen, die gespaltene Ukraine zu einen, sagt im NZZ-Interview mit Ulrich M. Schmid die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko. Die Aufgabe der Ukrainer sei es nun die offene Gesellschaft weiter zu verteidigen und sich von Russland abzugrenzen: "Die Situation in Russland gleicht heute der fröhlichen Apokalypse in Österreich vor dem Ersten Weltkrieg. Wir sehen einen neuen Totalitarismus, der sich als eine Synthese von Lubjanka und Hollywood präsentiert. Das vom Geheimdienst gesteuerte Russland ist eine Neuauflage von Orwells Dystopie. Die öffentliche Sphäre ist nachhaltig beschädigt. In Russland leben nun bereits vier Generationen unter der Herrschaft des Geheimdienstes. Genauso wie jedes Haus eine Toilette benötigt, braucht auch jeder Staat einen Geheimdienst. Problematisch wird es, wenn die Toilette das ganze Haus dominiert."
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Kulturmarkt

Die Buchhandelskette Thalia gehörte vor nicht allzulanger Zeit dem Kosmetik- und Handelskonzern Douglas. Nun kehrt sie geradezu symbolisch in den Schoß von Buchhändlerfamilien zurück und fusioniert mit einer weiteren Familienbuchhandlung, der Mayerschen, schreibt Hannes Hintermeier in der FAZ. Da ist einerseits die Familie Herder, die heute bei Thalia das Wort führt. Und "die Gründerfamilie Kreke hält einen Minderheitenanteil, weitere die Familie Göritz und der langjährige Thalia-Geschäftsführer Michael Busch. Nun betritt mit der Familie Falter ein fünfter Gesellschafter die Brücke, denn Hartmut Falter soll von der Zentrale der Mayerschen in Aachen aus und unter Fortführung des dortigen Stammhauses die Integration der beiden Unternehmen leiten." Was alles nicht heißt, dass Thalia nicht weiter weiter in den Städten kleineren Buchhändlern schärfste Konkurrenz macht. Mehr über den "Konzentrationshammer" beim Buchreport.
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Stichwörter: Buchhandel, Integration, Kosmetik

Medien

Felix Stephan versucht für die SZ den Unterschied zwischen einer literarischen Reportage, die den Namen verdient, und jenem weltanschaulichen Gefühlsjournalismus, der Claas Relotius einen solchen Erfolg sei seinen Kollegen und Vorgesetzten brachte, herauszuarbeiten. Die einen "formulieren die eigene Voreingenommenheit, stellen erkenntnisstiftend ihre eigene Ratlosigkeit aus, ihr Staunen und, wenn nötig, Unverständnis. Bei Relotius hingegen passt immer alles zusammen, eins führt zum anderen, alles fügt sich zu einem Ganzen, als hätte es die vergangenen 150 Jahre Erzähl- und Erkenntnistheorie nicht gegeben."

Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sieht die Kritik am Twitter-Ausstieg des Grünen-Politikers Robert Habeck als Symptom einer hysterisierten Öffentlichkeit, in der die Medien nicht unbedingt die Heldenrolle spielen. Die oft hämische Kritik an Habeck  sei "Ausdruck einer fatalen Neigung zur Sofort-Skandalisierung von Stilfehlern. Und es wird offenbar, dass Dauerkommunikation und Ad-hoc-Erreichbarkeit inzwischen als politische Kernkompetenzen gelten - frei nach dem Motto: 'Nur wer rund um die Uhr auf Sendung ist, erfüllt die Anforderungen der neuen Zeit. Aber wer mal daneben liegt, den machen wir so richtig fertig!'"

Das sind auch so Medienmeldungen. Der ehemalige MDR-Chefredakteur Wolfgang Kenntemich geht zum russischen Propagandasender RT Deutsch, berichtet turi2 unter Bezug auf eine nicht online stehende Bild-Meldung: "Bild-Chefreporter Peter Tiede zitiert aus einer Mail Kenntemichs: Demnach sei er im Auftrag einer Anwaltskanzlei dabei, einen Beirat für RT Deutsch zu bilden. Deutschen Verhandlungspartnern biete er an, Russland könne Repressalien gegen die Deutsche Welle lockern, falls die Sendelizenz erteilt wird. Kenntemich, der früher selbst für Bild schrieb, äußert sich nicht."

Nachdem die Branche bei Claas Relotius nicht so genau hinsah und ihn lieber mit Preisen überhäufte, fragt sie beim Schriftsteller Robert Menasse um so dringender nach. Kann es sein, dass er noch irgendwo ungenau zitiert hat? Martin Reeh hat für die taz nun recherchiert , dass ein Jean-Monnet-Zitat Menasses nicht aufzufinden ist.
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Gesellschaft

Stefan Reinecke legt in der taz ein Wort für die israelkritische Organisation "Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost" ein, der von einer Bank, die nichts mit Antisemitismus zu tun haben will, skandalöser Weise ein Konto gestrichen wurde. Als Gewährsmann für die tiefsinnige Erkenntnis, dass Antizionismus nicht gleich Antisemitismus sei, interviewt Jannis Hagmann dann noch den Autor Moshe Zimmermann: "Es gibt in der BDS-Bewegung viele Leute, die antisemitisch argumentieren. Aber nicht jeder BDS-Unterstützer ist zwangsläufig Antisemit. Auf der anderen Seite ist nicht jeder, der einen Boykott der Siedlungen im palästinensischen Westjordanland unterstützt, automatisch BDS-Mitglied. Diese Behauptung ist eine Technik des Mundtotmachens: In einem ersten Schritt wird jemand als BDS-Unterstützer bezeichnet, in einem zweiten Schritt wird BDS mit Antisemitismus identifiziert."
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Internet

Nach dem gegenwärtigen Stand der Verhandlungen sieht es so aus, dass die Uploadfilter kommen werden - das Internet wird sich zu seinem Nachteil verändern, warnt die EU-Abgeordnete Julia Reda in ihrem Blog: "Dies wird die Plattformen zu drastischen Maßnahmen zwingen, da sie nie mit Sicherheit sagen können, welche unserer Beiträge oder Uploads sie einer kostspieligen Haftung aussetzen werden. Sie müssen möglicherweise einschränken, wer überhaupt Inhalte posten/hochladen darf, von den Uploadern eine persönliche Identifizierung verlangen und/oder die meisten Uploads mit zu strengen Filtern blockieren, um auf der sicheren Seite zu sein." Bis in den März soll das Gesetz laut Reda durchgepaukt werden.
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Stichwörter: Uploadfilter, Reda, Julia

Kulturpolitik

Der Alleinerbe des Architekten Hans Schwippert sowie der Bildhauer Hubertus Förster sind mit ihrer Klage gegen die denkmalrechtliche Genehmigung des millionenteuren Umbaus der Berliner Hedwigs-Kathedrale durch das Berliner Erzbistum vor dem Verwaltungsgericht gescheitert, meldet Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung: "Es ginge nicht um das Urheberrecht, sondern um das Denkmalschutzgesetz, das 'in erster Linie dem allgemeinen kulturstaatlichen Interesse, nicht aber den Interessen der am Bau beteiligten Künstler' diene, teilte das Gericht (…) mit. Die Erben und auch Förster seien nicht persönlich betroffen genug, um ein über das Interesse der Eigentümer - also des Erzbistums - hinaus reichendes Interesse begründen zu können." Im Tagesspiegel ergänzt Fatina Keilani: "Wie berichtet, besagt die Rechtslage, dass der Eigentümer eines Kunstwerkes dieses zwar zerstören, aber nicht entstellen darf. Daraus folgt, das der Umbau des Innenraums der Kathedrale mit der völligen Beseitigung des Schwippertschen Entwurfs einhergehen muss, um rechtlich zulässig zu sein."

Peter Richter schildert den Streit um die Hedwigskathedrale in der SZ als Auseinandersetzung zwischen jenen, die die Innengestaltung des Nachkriegsarchitekten Hans Schwippert (eines Wessis, der auch den Bundestag in Bonn machte) und Nostalgikern ganz anderer Art, diesmal in Gestalt der Katholischen Kirche: "Wie die Stadtschloss-Wiederaufbauer nebenan ist auch die Kirche zur Repreussifizierung zuungunsten der Zeitschicht 'DDR' entschlossen."
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