9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Faust musste die Wahrheit umschließen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.05.2019. Politico.eu schildert das Wirken der Bertelsmann-Stiftung, das (besonders auch für Bertelsmann) so segensreich ist. In der taz erzählen die schwulen Kulturaktivisten Tomasz Kitlinski und Pawel Leszkowicz, wie Polen kulturell gleichgeschaltet wird. Die FAZ teilt das Unbehagen der CDU über die 55-minütige Philippika des Youtube-Influencers Rezo mit dem Titel "Die Zerstörung der CDU". Die EU-Urheberrechtsreform dürfte vor allem bei jüngeren Bürgern eine Frustration hinterlassen haben, die sich am Sonntag bei den Wahlen ausdrücken könnte, vermutet golem.de.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.05.2019 finden Sie hier

Europa

Die Bertelsmann-Stiftung mag moralisch unzweifelhafte politische Ziele verfechten, sie ist doch engstens mit dem Bertelsmann-Konzern und seinen Interessen verflochten, schreibt Matthew Karnitschnig in einer sehr interessanten Recherche über das segensreiche Wirken der Stiftung, die sich stets nur der "Beratung" der höchsten politischen Sphären weiht. Wie stark der Einfluss der Stiftung etwa in Debatten um das Urheberrecht ist, schlüsselt Karnitschnig nicht auf (politico.eu gehört auch dem anderen großen Lobbyisten, nämlich Springer). Aber der Hauptgewinn für Bertelsmann aus der Sitftung ist laut Karnitschnig nicht von der Hand zu weisen: Man hat Zugang in die allerhöchsten Etagen, man besetzt sie ja geradezu: "Das prominenteste Beispiel ist Martin Selmayr (bis letztes Jahr Kabinettschef des EU-Kommissionspräsidenten Juncker, d.Red.), der in Brüssel Cheflobbyist von Bertelsmann war, bevor er in die Kommission ging. Sein Mentor war Elmar Brok, langgedienter Abgeordneter der EVP, der jahrzehntelang als Bertelsmann-Angestellter und Unternehmensberater arbeitete, selbst als er Abgeordneter war. Broks enger Freund Jean-Claude Juncker ist bei Bertelsmann ebenfalls kein Fremder. RTL wurde in Luxemburg gegründet und verbleibt dort, wo Juncker viele Jahre als Premier wirkte."

Die Zeit erzählt, wie das FPÖ-Video an SZ und den Spiegel geriet: Der Wiener Anwalt, von dem gestern schon die Rede war (unser Resümee), spielte offenbar tatsächlich eine entscheidende Rolle. Der Anwalt und seine Hintermänner hätten das Video produziert und für eine siebenstellige Summe verkaufen wollen. Durch die Indiskretion Jan Böhmermanns hätten sie sich zur Eile gedrängt gesehen und das Video kostenlos bei SZ und Spiegel abgegeben. Lösungen sind doch immer weniger interessant als Rätsel!

In Warschau hatte der neue Chef des Nationalmuseums, Jerzy Miziolek, der von der PiS-Partei eingesetzt wurde, das Werk "Konsumentenkunst" (1972-1974) von Natalia LL. abgehängt, einen Klassiker des Feminismus, das Junge Polinnen zeigt, die damals sehr begehrte Bananen essen. Tomasz Kitlinski und Pawel Leszkowicz, schwule Kulturaktivisten, erzählen in der taz von den Protesten, die folgten: "Tausende fanden sich vor Museen und Galerien zusammen und aßen öffentlich und lasziv Bananen. So demonstrierten sie für freie Kunst und Sexualität. Der Druck wurde so groß, dass Museumsdirektor Miziolek die entfernten feministischen Kunstwerke wieder aufhängen musste. Der Kulturminister sah sich zur Erklärung genötigt, diese Intervention sei nicht von ihm angeordnet worden. Stattdessen soll nun die gesamte Ausstellung neu konzipiert werden, ohne 'Genderthemen' und mit der Absicht, die Größe polnischer Malerei zu feiern."

Im Tagesspiegel warnt Max Tholl davor, Populisten allein durch den Skandal zu bekämpfen: "Für viele Wähler der Rechtspopulisten fallen Skandale und Affären kaum ins Gewicht. Viel mehr noch, der Skandal ist ein inhärenter Teil der populistischen Logik. Durch den Tabubruch erweitern sie ihren Handlungsrahmen. Trump prahlte nicht umsonst, er könne jemanden auf der Fifth Avenue erschießen und ungeschoren davonkommen." Bei aller verständlichen Empörung über das Video heiligt auch in diesem Fall der Zweck keineswegs die Mittel, entgegnet in der Welt der ehemalige Hamburger Bürgermeister und CDU-Politiker Ole von Beust jenen, die er einer "moralischen Hinrichtung" bezichtigt.

Erwartbar einfallslos begehen die Zeitungen den siebzigsten Geburtstag des Grundgesetzes: Für die Welt hat sich Sascha Lehnartz zum Plaudern mit Heuss-Enkel Ludwig Theodor Heuss getroffen. Ebenfalls in der Welt steht Monika Grütters im großen Gespräch über Presse- und Meinungsfreiheit vor der "schier unlösbaren Aufgabe" die "Grenzen des Sagbaren" im Netz abzustecken. Im Feuilleton-Aufmacher der SZ haben sich der Rechtswissenschaftler Holger Grefrath und der Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase derweil die Urschrift des Grundgesetzes angesehen. Die FAZ bringt eine vierseitige Beilage zum Grundgesetz. Besonderes Interesse wurde dem Grundgesetz auch kurz nach seiner Entstehung nicht zuteil, erinnert Welt-Redakteur Thomas Schmid in seinem Blog Schmids Welt: "In der Zeit etwa figurierte das Ereignis recht bedeutungslos unter den Meldungen der Woche."

Nicht die Beseitigung der demokratischen Verfassung ist heute das Ziel autoritärer Parteien, sondern sich diese zu Diensten zu machen, schreibt Maximilian Steinbeis, Gründer des Verfassungsblogs und Autor von "Mit Rechten reden" in der FR mit Blick nach Polen und Ungarn, wo Orban und Kaczynski die Verfassung so weit zersetzt haben, dass sie ihnen nicht mehr "in die Quere kommt". Wie wenig unwahrscheinlich auch in Deutschland eine Manipulation der Verfassung bei einem Wahlsieg der AfD wäre, legt Steinbeis umfangreich dar und fordert, "den Regelbestand des deutschen Verfassungsrechts kritisch daraufhin zu überprüfen, ob es den politischen Normalbetrieb hinreichend schützt. Ein Beispiel, wo mir dies evident nicht der Fall zu sein scheint, ist das Bundesverfassungsgerichtsgesetz."

Die FAZ hat gleich zwei Reporter auf das Internet-Phänomen dieser Tage angesetzt. Justus Bender und Eckart Lohse teilen das Unbehagen der CDU über die 55-minütige Philippika des Youtube-Influencers Rezo mit dem Titel, ähem, "Die Zerstörung der CDU". "Rezo spricht ganz im Stile der Youtube-Szene. Pausen zwischen Sätzen sind weggeschnitten, das Video ist schnell, die Sprache dramatisch und voll hämischer Pointen." Rezo spricht auch über Arm und Reich, den Klimawandel, EU-Urheberrechtsreform. Und rät am Ende zu Kleinparteien wie Volt.
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Urheberrecht

Demnächst stehen die Europawahlen an. Die Scharmützel um die Urheberrrechtsreform sind keineswegs vergessen, schreibt Stefan Krempl bei golem.de, der sich auf eine (allerdings vom Lobbyverband Bitkom erstellte) Umfrage bezieht: "Mit immerhin 18 Prozent gibt fast jeder fünfte Erwachsene hierzulande an, dass er wegen der Debatte über das EU-Urheberrecht wählen gehen wird. Dies hat eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Digitalverbands Bitkom unter rund 1.000 Personen ab 18 Jahren ergeben. Für 16 Prozent ist die Novelle auch der Grund, für eine andere Partei als sonst zu stimmen." Krempl gibt in seinem Artikel einen nützlichen Überblick über die digitalpolitischen Positionen der größeren Parteien.
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Gesellschaft

Zeit-Redakteur Thomas E. Schmidt schreibt einen kritischen Artikel an die Adresse der eigenen Leserschaft: Das Milieu, das grün wählt und das er offenbar noch als Avantgarde ansieht: "Politische Avantgarden haben immer so funktioniert: Was ihnen inneren Halt gab, war das Misstrauen anderen und sich selbst gegenüber. Eine Faust musste die Wahrheit umschließen, sonst drohte die zu entwischen. Aus Verzicht musste Sinn werden, und die Emanzipation ließ sich nur durch Unterwerfung erreichen. Im grünen Fall heißt das: Die technische Naturbeherrschung kann nur überwunden werden, indem man die eigene innere Natur beherrscht."

Die "Glauben und Zweifeln"-Seite der Zeit lässt zum Kopftuch diskutieren. Nurhan Soykan vom Zentralrat der Muslime und die Theologin Johanna Rahner sind gegen ein Verbot des Kopftuchs für Mädchen. Abdel Hakim Ourghi, von der Initiative Säkularer Islam aber mahnt: "Kein kleines Mädchen käme vor der Pubertät von allein auf die Idee, dass es seinen Körper verschleiern oder seine Haare mit einem Tuch bedecken müsste - damit sein Körper nicht zum Objekt der Begierde wird. Ein Mädchen aber, das mit Kopftuch in den Kindergarten oder in die Grundschule geht, hat gelernt, warum es sich verhüllen muss. Seine Freiheit wird früh unterdrückt, damit sie später nicht vermisst werden kann." Susanne Schröter unterstützt seinen Standpunkt. Und die Redakteurin Evelyn Finger beobachtet: "Es ist .. seit einiger Zeit Mode geworden, den Islam gegen Kritik zu immunisieren, indem man seine Kritiker ächtet: als islamfeindlich, rassistisch, religionsfeindlich, diskriminierend, rechts und was man sonst an K.-o.-Wörtern entsichern kann. Und wenn einem gar nichts mehr einfällt, dann halt menschenverachtend."

Auf Zeit Online fordert der an einem Gymnasium im Ruhrgebiet unterrichtende islamische Religionslehrer Mansur Seddiqzai, eine Abschaffung, zumindest aber eine Reform der "Idschaza" - also jenes islamischen Beirats, in dem aktuell noch im Probelauf vor allem Vertreter von Islamverbänden zusammenkommen, um angehenden Religionslehrern eine gewissensbasierte Lehrerlaubnis zu erteilen. Mit dem Professor für islamische Theologie Mouhanad Khorchide habe der Beirat nur einen liberalen Vertreter: "Nach dem Verzicht der Ditib auf ihren Sitz im Beirat in Folge der Spitzelvorwürfe steht er im Beirat nun sechs Mitgliedern gegenüber, die eher dem konservativem Spektrum zuzuordnen sind. (…) Immerhin fünf der derzeit sieben Beiratsmitglieder sind Frauen. Eine fortschrittliche Frauenquote. Aber alle tragen sie Kopftuch. Damit repräsentieren sie nur gut 30 Prozent der muslimischen Frauen in NRW. Einige meiner Mitbewerberinnen haben mir erzählt, dass sie deshalb untereinander diskutierten, ob sie für das Idschaza-Gespräch ein Kopftuch aufziehen sollten, obwohl sie im Alltag keines tragen."

Für die NZZ ist der marokkanische Schriftsteller Kacem El Ghazzali nach Kairo ins Merit-Verlagshaus gereist, um dort in einer den Pariser Aufklärungssalons ähnelnden Atmosphäre über Freiheit und Religionskritik zu diskutieren und Frauen zu beobachten, die ihren Schleier bei Betreten von Merit wie "Müll" auf den Boden werfen. Merit sei das Gegenteil amerikanischer "Safe Spaces", meint er: "Merit, die Frauen Irans, die liberalen Aktivisten Saudiarabiens und alle Freunde der Freiheit in der muslimischen Welt konfrontieren uns mit einem beunruhigenden Paradox: Wir leben in einer Zeit, in der die Stimmen der westlichen sogenannten Progressiven immer lauter werden, um Kunst und Literatur zu zensieren. Sie tun dies mit dem Vorwand, dies habe aus Respekt vor den Einstellungen und Gefühlen sensibler Menschen zu geschehen. Derweil melden sich in der islamischen Welt immer mehr mutige Stimmen, die sich sämtlichen Formen der Zensur, Schikane und der Überwachung entgegenstellen."

Weiteres: Ebenfalls in der NZZ schildert Marc Neumann, wie sich die University of the Arts in Philadelphia hinter ihre streitbare feministische und als Trans auftretende Professorin Camille Paglia stellt, der nach einer Vorlesung von Trans-Aktivisten Transfeindlichkeit vorgeworfen wird.
Archiv: Gesellschaft