9punkt - Die Debattenrundschau

Zu viel Wind, zu viel Schmäh

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.05.2019. Im Tagesspiegel informiert Robert Menasse die Deutschen über die Österreicher: "Das versteht ihr Deutschen so schwer. Dass wir in Österreich zwei Faschismen hatten." Dabei wollte sich sogar Robert Musil den Deutschen anschließen, erinnert Thomas Schmid in der Welt. "In Österreich ist alles immer am schlimmsten gewesen," seufzt die NZZ mit Thomas Bernhard. Aber jetzt haben die Deutschen ja Rezo. Die FAZ stellt sich seinem wilden Dribbling zu fünft entgegen. Aber verhindert sie das Tor?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.05.2019 finden Sie hier

Europa

Die taz mokiert sich über die Antwort, die die CDU auf den Youtube-Influencer Rezo mit seinen fünf Millionen Besuchern ("Die Zerstörung der CDU", unser Resümee) nicht gefunden hat. "Rezo hat ein Land ratlos gemacht. Vielen Dank dafür!" Und Lilly Schlagnitweit kommentiert: "Bemerkenswert ist an Rezos Video vor allem, dass er seine Reichweite nutzt, um viele junge Menschen über Politik zu informieren, dass er dafür Komplexes manchmal vereinfacht, aber auf zwölf Seiten seine Quellen darlegt. Ein Beispiel für das meinungsbildende Potenzial neuer Medien."

Die FAZ fährt eine halbe Fußballmannschaft auf, um Rezos Video einem Faktencheck zu unterziehen. Interessant, weil sich diese Zeitung hier auch erstmals zu einigen der auch von ihr verbreiteten Fehlinformationen während der Debatte um das EU-Urheberrecht äußert. Ebenfalls in der FAZ setzt Jasper von Altenbockum zum Gegenschlag an ("Jeder Like für diese Suada ist ein Armutszeugnis"), während Constanze von Bullion in der SZ meint: "Was für politischen Nachwuchs kann sich eine Demokratie eigentlich wünschen, wenn nicht solchen?"

Markus Beckedahl stört in Netzpolitik die salbungsvolle Stimmung beim Thema 70 Jahre Grundgesetz: "Das Grundgesetz kommt unter die Räder, wenn Regierungen immer an die 'Grenze des verfassungsmäßig Machbaren' und über diese hinaus gehen. Es darf nicht sein, dass das Bundesverfassungsgericht das Grundgesetz gegen ein permanentes Gesetze-Dauerfeuer von Bundes- und Landesregierungen verteidigen muss... Vorratsdatenspeicherung, Anti-Terror-Pakete, Staatstrojaner, die Schleifung des Grundrechts auf Asyl, Gesichtserkennung, neue Polizeigesetze, Videoüberwachung, der Ausbau der Befugnisse von Geheimdiensten oder die jüngsten Angriffe des Sicherheitsstaates auf die Freiheit der Kunst sind nur ein paar Felder, die klar machen: Das Grundgesetz ist in Gefahr."  In der taz schreibt Elio Adler von der "WerteInitiative - jüdisch-deutsche Positionen" zum Thema Grundgesetz.

Nicht allzu viele Wähler werden sich nach dem Skandal wohl von der FPÖ abwenden, befürchtet Robert Menasse im Tagesspiegel-Interview über Europa, in dem er den Deutschen unter anderem den Austrofaschismus erklärt: "Das versteht ihr Deutschen so schwer. Dass wir in Österreich zwei Faschismen hatten: den hausgemachten Austrofaschismus und den Nationalsozialismus. Der faschistische österreichische Kanzler Dollfuß gilt als Patriot, weil er gegen Hitler war. Als wäre ein konkurrierender Faschismus gleich Antifaschismus. Nach dem Krieg hat man in Österreich entnazifiziert, aber nie die Distanzierung zum Austrofaschismus hergestellt. Das erklärt bis heute die konservative Politik, eben auch diese Regierung, die wir bis gerade hatten. Man kann in Österreich Faschist sein ohne schlechtes Gewissen, man ist ja kein Nazi - man ist Patriot. Deswegen sind die österreichischen Rechten, Rechtsextremen und das Bürgertum mit seinen faschistoiden Tendenzen entrüstet, wenn man sie Nazis nennt. Sie sind auch wirklich keine. Sie sind Austrofaschisten - und das ist schlimm genug."

Indes erinnert Thomas Schmid in einem großen Welt-Essay daran, wie sich Robert Musil nach dem Zusammenbruch der k.u.k-Monarchie der sozialdemokratischen Forderung nach einer "Fusion" Österreichs mit Deutschland anschloss: "Während Wiens Sozialdemokraten Österreichs Verschmelzung mit Deutschland stets auch aus nationalistischen Motiven forderten, begründet Musil sein Anschlussplädoyer keineswegs nur politisch. Sondern vor allem kulturell. Die Gegner des Anschlusses behaupteten, dieser würde die hochgeschätzte, im Barock wurzelnde Kultur Österreichs tödlich bedrohen. Und das so geschichts- und mehlspeisengesättigte Land an die traditions- und gottlosen Piefkes ausliefern. Dagegen zieht Musil mit Verve und Sarkasmus zu Felde. Es gebe, sagt er, überhaupt keine österreichische Kultur, sondern nur 'einen Überschuss an Denkern, Dichtern, Schauspielern, Kellnern und Friseuren'. Soll heißen: zu viel Wind, zu viel Schmäh, zu viel selbstverliebtes Getue und zu wenig Ernst, Substanz, Zielstrebigkeit."

"In Österreich ist alles immer am schlimmsten gewesen", schrieb schon Thomas Bernhard in seinem Stück "Heldenplatz", erinnert Paul Jandl in der NZZ - und meint: Österreich ist sich bis heute treu geblieben. "Noch schlimmer als Bernhards Wut ist sein Mitleid. Jeder Versuch, die eigenen Landsleute wieder aufzurichten, ist eine Hinrichtung für sich. Mit dem Mut der Verzweiflung können Bernhards Landsleute jetzt der näheren politischen Zukunft entgegenschauen: 'Der Österreicher findet sich mit jeder Tatsache ab, oder er geht zugrunde, wenn er nicht dadurch längst zugrunde gegangen ist, dass er sich abgefunden hat.'"

Europa ist das "Schwarze Loch" aller politischen Probleme, schreibt auf Zeit Online der Soziologie Armin Nassehi, der Differenzen zwischen europäischen und nationalstaatlichen Politikebenen vermisst: "Es geht in diesem inhaltsleeren Wahlkampf offensichtlich nicht um politische Lösungen für Probleme und Herausforderungen in Europa, also im Geltungsbereich der Europäischen Union. Es geht um die Geltung des Geltungsbereichs selbst, also um Europa, das in der politischen Semantik die Konzentration auf den angesichts der Größe der Probleme viel zu kleinen Nationalstaat (so heißt es stets) wettmachen soll. Und obwohl tatsächlich die Entscheidungsebene der EU eine operativ außerordentlich wichtige und vor allem wirksame ist, will es nicht gelingen, die politische Arbeit des zu wählenden Parlaments selbst jenseits der aus nationalen Wahlkämpfen und politischen Konfliktlinien bekannten Gegnerschaften zu führen." Und weiter: Europa "ist immer nur die andere Seite des Nationalstaates, statt eine Entität eigenen Rechts zu sein."

Nachdem Bazon Brock vor zwei Wochen in der Welt den Niedergang Europas beschwor und die Verfechter einer grenzenlosen Gesellschaft verdammte (unser Resümee),  skizziert er heute an gleicher Stelle in einem wuchtigen Essay mit dem Titel "Europa bleibt",  seine "Utopie" für Europa: "Die geschichtslos Identitären vergessen, dass das Zusammenleben der Kulturen nur nach Regeln gesichert werden kann, die keiner dieser Kulturen entstammen, sondern transkulturell, international, universell formiert werden müssen. Die Kämpfer der kulturellen Identität gegen die europäische Einheit vergessen den Kampf der Kulturen untereinander, solange deren Verhältnisse eben nicht über eine zivilisatorische Brücke vermittelt werden. Erst die Verpflichtung auf eine universelle Zivilisation garantiert die Existenz der verschiedenen Kulturen, die sich sonst in permanentem Kriegszustand befänden. Genau diese Einsicht wird den Identitären durch die Krise der EU zugemutet."

"Salvini sieht bereits seinen eigenen Abspann laufen", sagt im SZ-Interview mit Oliver Meiler Italiens Ex-Premier Matteo Renzi: "Im Herbst, wenn die Regierung den Haushalt für das nächste Jahr machen muss und den Italienern in die Tasche greift, ist es schnell vorbei. Die Rechnung der Populisten geht nicht auf, die Zahlen der Wirtschaft sind desaströs, sie haben das Land heruntergewirtschaftet. Populismus funktioniert eben nur in der Opposition. Die Italiener sind ja ein wunderbares Volk, reich an Werten, verliebt in die Schönheit der Dinge, der Kunst und der Kultur. Für die Politik interessieren sie sich aber vor allem, wenn es um ihr Geld geht, und dann sind sie sehr pragmatisch und empfindlich."
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Geschichte

In der NZZ erzählt Marc Neumann die Geschichte der Underground Railroad - jenes geheimen Netzwerks, das bis zu 100.000 Schwarzen die Flucht aus der Sklaverei in die Freiheit der amerikanischen Nordstaaten und Kanadas ermöglichte.
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Internet

Die CDU hat ihre Youtube-Videos mit Material aus ARD und ZDF gespickt - meist geht es um Politikeraussagen. Damit hat sie wohl Urheberrechtsbrüche begangen, ähnliches Material dürfte demnächst in Uploadfiltern hängenbleiben. Boris Rosenkranz spießt das in den Uebermedien auf. Leonhard Dobusch fragt sich allerdings in seiner Netzpolitik-Kolumne über seine Tätigkeit im Fernsehrat des ZDF, "wer etwas davon hat, wenn politische Parteien ihre YouTube-Channels säubern und künftig auf Ausschnitte öffentlich-rechtlicher Sendungen verzichten müssen? Es gibt dadurch nicht mehr Einkommen für Sender oder Redaktionen. Die öffentliche Auseinandersetzung mit politischen Inhalten wird erschwert. Und es trifft ja nicht nur die Parteien selbst: auch eine kritische Auseinandersetzung durch Dritte leidet darunter, weil längst nicht jede Nutzung vom Zitatrecht gedeckt ist oder weil Videos im Uploadfilter hängen bleiben."
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Ideen

Jürg Altwegg porträtiert in der FAZ den Autor Hervé Juvin, der wohl den Front (neumodisch: rassemblement) national intellektuell salonfähig machen soll - Altwegg hat sich jedenfalls bestens mit ihm unterhalten: "'Wenn sich England von Europa abwendet und Deutschland seine Übermacht ausspielt, ist es für Frankreich nie gut ausgegangen', sagt er: Die EU als 'Negation der Nation' sei darauf angelegt, den 'fragil gewordenen' Zentralstaat Frankreich zu zersetzen. 'Wir sind allein, Macron hat uns isoliert'" Juvin glaubt an Frankreichs Bestimmung, in einem 'Europa der Nationen' und Populisten die Führung zu übernehmen."
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Politik

Gegen Julian Assange werden in den USA so viele Klagen vorbereitet, dass er bei einer Verurteilung nie mehr aus dem Gefängnis käme, berichtet unter anderem Florian Rötzer in Telepolis: "Wenn Assange verurteilt würde, müsse er nach dem US-Justizministerium pro Anklage mit einer Höchststrafe von zehn Jahren Gefängnis rechnen, nur für die erste Anklage der Verschwörung zum Eindringen in ein Computersystem wäre die Höchststrafe fünf Jahre. Das würde bedeuten, dass Assange zwar nicht zum Tode verurteilt, aber bis zum Tod in einem amerikanischen Gefängnis festgehalten würde." Aussagen hätte man gern von Chelsea Manning, die in Beugehaft ist: "Über die Beugehaft hinaus muss sie nach dem Richter ab dem 30. Tag, an dem sie nicht aussagt, pro Tag 500 US-Dollar zusätzlich an Strafe zahlen. Nach 60 Tagen wird die Strafe auf 1000 US-Dollar pro Tag erhöht."

Die Meldung ist auch (Online-)Aufmacher bei der New York Times. Die Anklagen gegen Assange sind ein Anschlag auf den Ersten Verfassungszusatz der USA, der freie Rede garantiert, schreibt die Times in ihrem Editorial: "Die neuen Anklagen beziehen sich auf die Beschaffung und Publikation von geheimen Regierungsdokumenten. Das Journalisten aber immer wieder. So war es bei den 'Pentagon Papers' und unzähligen anderen Fällen, in denen es der Öffentlichkeit nützte zu erfahren, was hinter geschlossenen Türen geschah, auch wenn manche Quellen Gesetze gebrochen haben mögen."

Die SZ überlässt den Feuilleton-Aufmacher heute den Fridays-for-Future-AktivistInnen um Greta Thunberg, die zu einem weltweiten Streik am Freitag, den 20. September aufrufen, um eine Aktionswoche für das Klima zu beginnen. Zu den Unterstützern gehören unter anderem Noam Chomsky, Margaret Atwood, Bruno Latour und Rebecca Solnit.
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