9punkt - Die Debattenrundschau

Wellenbrecher der Demokratie

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.06.2019. Der Guardian schreibt wieder schwarze Zahlen, und die SZ gibt daran Chefredakteurin Katharine Viner die Schuld, die nicht nur mutig, sondern auch sympathisch sei. Im Guardian selbst bemerkt Jonathan Freedland, dass Britannien keine konservative Partei mehr hat. Heinz Bude empfiehlt in der Welt den deutschen Sozialdemokraten, auch in Gerechtigkeitsfragen weniger Ich und mehr Wir. Die NZZ stutzt: Kann es sein, dass der Kapitalismus keinen Begriff von Profit hat? 25 Jahre nach dem Völkermord kennt Ruanda keine Tutsi und Hutu mehr, weiß die taz, sondern nur noch Sopecya, Dubai und Tingi Tingi.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.06.2019 finden Sie hier

Europa

Konservatismus setzt auf behutsamen Wandel, auf Institutionen, auf das Bekannte, nicht auf das Hinwegwischen des Alten, hat Jonathan Freedland bei Edmund Burke und Michael Oakeshott gelernt. Weswegen er jetzt im Guardian zu dem Schluss kommt, dass Britannien eigentlich keine konservative Partei mehr hat: "Stattdessen gibt es auf der Rechten zwei revolutionäre Parteien, die sich fest einem nationalistischen oder populistischen Weg verschrieben haben. Aber das ist dezidiert nicht konservativ. Jetzt sind sie in einem Kampf gefangen, der die ältere, größere Partei immer weiter von den Werten entfernt, die sie eigentlich vorgeben soll."

In der Welt empfiehlt der Soziologe Heinz Bude der SPD, wieder mehr Zukunft zu formulieren und den Neoliberalismus mit seinem vulgären Reichtum nach vorne zu überwinden: "Die SPD hatte sich unter dem Eindruck ihres Wahlerfolgs in der 'neuen Mitte' dazu entschieden, auf den Begriff der Gerechtigkeit zu setzen. Es ging um eine Politik individueller Anrechte, nicht mehr kollektiver Verpflichtung. Heute sollte die SPD zu ihrem Ursprungsbegriff zurückkehren. Das ist der Begriff der Solidarität, die ein Wir anspricht, das sich nicht auf eine Ansammlung von Ichs reduzieren lässt."

In der SZ verströmt Stefan Kornelius beim Rundumblick über Europa Optimismus und erkennt allenthalben einen Wunsch nach einer gemäßigten Mitte: "Allen Parteien ist gemeinsam, dass sie in einer hocherregten und von Kommunikation übersättigten Öffentlichkeit bestehen müssen, wo sich Wähler so blitzartig wie ein Kabeljauschwarm neu ausrichten - aber genauso verlässlich bald wieder in alten Bahnen schwimmen. Dieses Spiel mit den Stimmungen gelingt den Populisten besser als den Gemäßigten. Aber auch sie scheitern früher oder später an den Wellenbrechern der Demokratie."

Nach dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke weiß niemand weiter, stellen Christoph Schmidt-Lunau und Korand Litschko in der taz fest: Die Polizei hat keine Spur, auch die Politik ist ratlos, nur in Online-Foren tobt sich der Hass aus: "Gegen einzelne Kommentatoren wird nun ermittelt."
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Medien

Der Guardian schreibt wieder schwarze Zahlen, freut sich Cathrin Kahlweit in der SZ und betont, dass dies der mutigen Chefredakteurin Katharine Viner zu verdanken sei, die nicht nur erfolgreich, sondern auch sympathisch sei und statt auf Paywalls auf Spenden und Mitgliedschaft setzte: "Unter jedem Artikel stand anfangs, sinngemäß: Wir brauchen Hilfe. Wenn Ihnen gefallen hat, was Sie gelesen haben, spenden Sie. 'Das war eine dramatische Botschaft', weiß Viner, 'aber ziemlich erfolgreich'. Jetzt habe man die Message geändert: 'Jetzt sagen wir, dass wir weitermachen wollen. Und dass wir mit unserer investigativen Arbeit auch für die kostenlos und zugänglich bleiben wollen, die es sich vielleicht nicht leisten können. Das läuft übrigens noch besser.'"

In der NZZ meldet Felix Simon, dass laut einer Studie der Universität Oxford mittlerweile 69 Prozent aller Zeitungen auf Paywalls setzen.
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Ideen

In der NZZ stellt Urs Hafner die Wirtschaftshistorikerin Mary O'Sullivan vor, die den Wirtschaftswissenschaften eine peinliche Leerstelle attestiert: "'Wenn wir den Anfang des Kapitalismus bestimmen wollen, müssen wir wissen, wann das Streben nach Profit die wichtigste Motivation der Ökonomie wurde.' Nur, mit dem Profit gibt es ein Problem: 'Wir wissen noch immer nicht, was Profit ist, woher er kommt und kam: von der Produktionsinnovation, der Arbeitsausbeutung, vom Markt?' In den Wirtschaftswissenschaften seien die Profite des Kapitalismus ein Tabu: Man tue noch immer so, als ob es sie nicht gebe, auch wenn sie in den letzten Jahren explodiert seien."

Marc Neumann erklärt in der NZZ jene superkonservativen amerikanischen Theoretiker wie John Marini und Mike Anton, die im administrativen Staat das größte aller Übel sehen: "Marini erkennt im administrativen Staat das Symptom einer politischen Kaste, die ihre Autorität weitgehend an Spezialisten in Ausschüssen, Fachidioten in Kommissionen oder gar Ministerien der Exekutive abgetreten hat. Der administrative Staat ist aus dieser Sicht der Inbegriff einer Parallelherrschaft von Büro- und Technokraten, die den Auftrag des Kongresses, im Sinne des öffentlichen Gemeinwohls Gesetze zu schreiben, unterwandert."
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Kulturpolitik

Frankfurt muss sein Schauspielhaus sanieren. Dafür wurden erst neunhundert Millionen veranschlagt, jetzt nur noch fünfhundert. Hubert Spiegel (FAZ) möchte der Kulturpolitik der Stadt gern glauben, dass nur das "unbedingt Nötige" ausgegeben wird, hat aber trotzdem Einwände: "Denn dass eine Theatersanierung eine halbe Milliarde Euro oder sogar deutlich mehr kosten soll, will dem Frankfurter von heute und vermutlich auch dem von morgen nicht so ohne weiteres in den Kopf. Da tut sich ein gewaltiges Akzeptanzproblem auf, das sich allein mit technischen, durchaus triftigen Argumenten wie Brandschutz, Klimatechnik und dem Wust von immer komplizierteren Bauvorschriften nicht vertreiben lässt. Wenn die öffentliche Hand Ausgaben in dieser Größenordnung tätigt, bedarf es einer Legitimation ganz anderer Art."
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Internet

Kai Biermann und Daniel Müller legen sich auf ZeitOnline ins Zeug, Meldungen zu dementieren, nach denen neue Gesetze geplant seien, damit Behörden Geräte wie Alexa abhören können. Gar nichts sei geplant, nur Klärungsbedarf angemeldet, und überhaupt: Eine Gesetzesänderung scheint gar nicht nötig: "Die bestehenden Gesetze reichen aus, damit die Strafverfolger Daten von Alexa oder von einem smarten Kühlschrank beschlagnahmen, wenn sie solche Geräte bei Ermittlungen finden."
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Geschichte

25 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda kann taz-Reporter Francois Misser das Land kaum wiederekennen. In der einst völlig verwüsteten Hauptstadt Kigali prägen jetzt todschicke Hotels und Kongresszentren die Skyline, berichtet Misser, aber auch die menschliche Landschaft habe sich verändert: "Früher, bis 1994, sprach man von Hutu, Tutsi und Twa als ethnischen Identitäten, festgeschrieben auf den Personalausweisen, was die systematische Jagd auf Tutsi während des Völkermordes einfach machte. Unter der neuen RPF-Regierung wurden diese Begrifflichkeiten amtlich abgeschafft. Umgangssprachlich hielten neue Kategorien Einzug: 'Sopecya', die Tutsi-Überlebenden; 'Dubai', die aus der Diaspora zurückgekehrten Tutsi-Exilanten; 'Tingi Tingi', die aus dem Kongo zurückkehrenden Hutu-Flüchtlinge. Auch das ist längst obsolet. Fast 60 Prozent der heutigen Bevölkerung Ruandas wurde überhaupt erst nach dem Völkermord geboren."
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