9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Überdosis an Seriosität

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.06.2019. Die taz feiert Istancool. In der FR attestiert Eva Illouz der Linken in Sachen Israelkritik eine fundamentale Verwirrung.  In der SZ verurteilen die Historiker Tobias Rupprecht und Dora Vargha die feindliche Übernahme des ungarischen 1956-Instituts durch das Veritas-Institut. Im Guardian wirft Boris Johnsons früherer Chefredakteur Max Hastings seinem einstigen Brüssel-Korresponten Verachtung der Wahrheit vor. Die NZZ revidiert unser Bild indianischer Amerikaner. Und Netzpolitik weiß: Seit der Europawahl spielt die Musik auf Instagram.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.06.2019 finden Sie hier

Europa

In der taz schildert Jürgen Gottschlich die Freude und die Erschöpfung, die Ekrem İmamoğlus Anhänger nach den nervenaufreibenden Monaten in der Nacht seines großen Wahlsiegs empfanden. Er selbst jubelt über "Istancool" und sieht auch Erdogans Macht in Gefahr: "Die Niederlage in Istanbul wischt erstmals die Angst fort, mit deren Hilfe Erdoğan alle seine Kritiker seiner Politik wie seiner Person unterdrückt hat. Das betrifft nicht nur die Opposition, sondern auch die eigene Partei. Die miserable Wirtschaftslage und die schweren Probleme des vom Präsidenten so gewollten Präsidialsystems machen seinen innerparteilichen Kritikern zusätzlichen Mut. Hinzu kommt, dass der Präsident sein Land in eine schier ausweglose außenpolitische Lage geführt hat, in deren Folge die Wirtschaft der Türkei endgültig kollabieren könnte."

Im taz-Interview mit Ali Celikkan erklärt die Politikwissenschaftlerin Aysuda Kölemen İmamoğlu Wahlsieg auch mit seinem persönlichen Charisma: "İmamoğlu wurde nach den Wahlen vom 31. März Unrecht angetan. Die Wahl, die er gewonnen hatte, wurde annulliert. Er sagte: 'Mir wurde Unrecht getan, aber ich überwinde das.' Alle in der Türkei glauben derzeit, dass ihnen Unrecht angetan wird. Dieses emotionale Bedürfnis konnte İmamoğlu ansprechen. Das war genau das, was die Menschen brauchten. Ich denke, auch die konservative Wählerschaft ist die seit Jahren bemühte Rhetorik der Spaltung und Polarisierung leid. Es erstaunt nicht, dass auch Wähler*innen von AKP und MHP sich seinem Diskurs nahe fühlten."

In der taz ahnt Isolde Charim, warum nach der Ibiza-Affäre in Wien ein Machtvakuum so sehr gefürchtet wurde, dass sofort eine Expertenregierung ins Amt gehievt wurde: "Eine Überdosis an Seriosität soll also das abwehren, was Ibiza sichtbar gemacht hat. Offenbar vermag nur eine hehre Beamtenschaft jenes Gegenbild herzustellen, welches es jetzt braucht. Es geht also nicht einfach nur um Expertentum - sondern auch um Exorzismus."

Noch 1989 gründeten ungarische Intellektuelle das 1956-Institut, das an den Ungarn-Aufstand und den auf Moskauer Geheiß hingerichteten Reformkommunisten Imre Nagy erinnern wollte. Dem Fidesz-Politiker Viktor Orban war das Institut schon immer ein Dorn im Auge, jetzt hat er angekündigt, wie die britischen Historiker Tobias Rupprecht und Dora Vargha in der SZ berichten, das 1956-Institut an das sogenannte Veritas-Institut anzugleidern: "Dieses ist direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt und verbreitet die historische Lesart einer 'wahren ungarischen Kultur' nach dem Geschmack der politischen Führung. Zuletzt machte es mit antisemitischen Ausfällen von sich reden, als es die Zulassungsbegrenzung für das Studium von Juden in den Zwanzigerjahren rechtfertigte Die feindliche Übernahme des 1956-Instituts erfolgt nun genau 30 Jahre nach seiner Gründung. Ungarische und internationale Historiker reagierten mit Entsetzen und haben zu Unterstützungskampagnen aufgerufen. Einige Zeitzeugen, deren Aussagen zur Sammlung gehören, haben ihre Zustimmung zur Veröffentlichung widerrufen."

Boris Johnson bezieht seine Brexit-Expertise gern aus seiner Zeit als Korrespondent in Brüssel, wo er für den Telegraph seine antieuropäische Attitüde pflegte. Seine früherer Chefredakteur Max Hastings erklärt ihn nun im Guardian als Regierungschef für schrecklich ungeeignet. Boris Johnsons, meint Hastings, interessiere sich nur für sich selbst, seinen Ruhm und Anerkennung: "Vor sechs Jahren veröffentlichte der Oxford-Historiker Christopher Clark eine Studie über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit dem Titel 'Die Schlafwandler'. Obwohl Clark ein hervorragender Gelehrter ist, war ich von diesem Titel nie überzeugt, der insinuierte, dass die Großmächte unbewusst ins Desaster stolperten. Im Gegenteil war jedoch der verrückteste Aspekt von 1914, dass jede kriegerische Regierung sich selbst für rational hielt. Es wäre verwegen, den Aufsteig von Boris Johnson mit dem Ausbruch einen weltweiten Krieges zu vergleichen, doch sind ähnliche Kräfte am Werk. Wir können darüber streiten, ob Johnson ein Schurke oder ein Schuft ist, aber nicht über seine moralischen Bankrott, der in der Verachtung für die Wahrheit gründet."

"London bleibt europäisch", beteuert geradezu verzweifelt in der Welt der Londonder Bürgermeister Sadiq Khan, der sich heute mit Vertretern aus 18 europäischen Städten trifft: "Insbesondere werde ich sie daran erinnern, dass die Londoner mit überwältigender Mehrheit für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt haben und dass wir uns - auch wenn der Brexit irgendwann einmal kommt - immer als stolze Europäer betrachten werden, die in einer europäischen Stadt leben."
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Gesellschaft

Noch immer prägen alte Indianer-Klischees das Bild der Native Americans  - dabei leben etwa 75 Prozent der fünf Millionen nordamerikanischen Indianer heute in Städten, schreibt Sarah Pines in der NZZ und verweist auch darauf, das der Begriff Indianer laut New Yorker Bildungsministerium wieder als politisch korrekt gelte: "Indianer sind nicht mehr nur ländlich. Sie gehen elegant und würdig auf Asphalt. 'Dass amerikanische Ureinwohner über beachtliche Vermögen verfügen können, überrascht immer noch viele', schreibt Ron Rowell vom Stamm der Choctaw, Vorstandsmitglied der Common Counsel Foundation. 'Sie gehören zu einer unsichtbaren Gruppe, zusammen mit Afroamerikanern, asiatischen und hispanischen Amerikanern und anderen, die andersfarbig und reich sind.' Denn Erfolg und Reichtum werden nach wie vor automatisch mit weißer Haut assoziiert."
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Internet

Auf Netzpolitik weist Markus Reuter auf eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hin, nach der im Europawahlkampf besonders Afd und Die Partei die sozialen Medien dominierten: "Die Studie kommt aber noch zu einem anderen interessanten Ergebnis: Instagram sei spätestens seit dieser Wahl zu einer der wichtigsten und relevantesten Plattformen für die politische Kommunikation geworden. Die Anzahl der Likes und Kommentare übertrifft bei vielen SpitzenkandidatInnen die Interaktionen auf den viel länger bestehenden und größeren Facebookseiten."

In der SZ dröselt Adrian Lobe auf, wie Wikipedia gegen PR und Schleichwerbung kämpft. Auf Slate.fr berichtet Hakim Mokadem unterdes, dass etliche Autorinnen Wikipedia nach konstanter Belästigung verlassen haben. In der FAZ graut es Nina Rehfeld noch einmal gründlich davor, was Deepfake-Videos in der politischen Arena anrichten können: "In der afrikanischen Republik Gabun wurde ein womöglich gefälschtes Video des Präsidenten als Auslöser für einen Militärputsch zitiert."

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Medien

In der taz berichtet Bernhard Clasen, dass der ukrainische Enthüllungsjournalist Wadim Komarow, der Anfang Mai überfallen worden war, seinen Verletzungen erlegen ist: "Komarow ist nur einer von Dutzenden Gewaltopfern unter ukrainischen Journalisten. Allein 2018 habe die ukrainische Journalistengewerkschaft 86 Gewaltakte gegen Journalisten gezählt, sagt ihr Sprecher Sergei Tomilenko."
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Politik

Die Soziologin Eva Illouz gehörte zu den Unterzeichnern jener Petition von 240 jüdischen und israelischen Intellektuellen, die kritisieren, dass der Bundestag die Israel-Boykott Bewegung BDS als antisemitisch bezeichnet. Weil das Jüdische Museum in einem Tweet auf den Artikel hinwies, musste der Direktor Peter Schäfer zurücktreten. Im FR-Interview mit Anja Reich kritisiert Illouz das sehr, gibt aber zu, dass ihr BDS auch unangenehm ist: "Die Linke ist sehr verwirrt. Es gibt Menschen, die der Shoa-Verleugnung nahe stehen, und welche, die glauben, dass der Antizionismus eine angesagte und moderne Verteidigung der Menschenrechte ist. Man kann sie auch in schlechtmeinende und gutmeinende Linke unterscheiden. Die schlechtmeinenden greifen auf altbekannte antisemitische Vorurteile zurück, verteufeln Juden und ignorieren völlig, dass auch die Palästinenser viele Möglichkeiten, den Konflikt zu lösen nicht genutzt und damit ihrer eigenen Sache keinen guten Dienst erwiesen haben. Sie haben Recht, die Grenze zeigt sich genau an diesem Punkt: Geht es um Kritik an der Besatzung oder geht es um die Verweigerung des Existenzrechts Israels, wenn beispielsweise zum Boykott des Eurovision Song Contest in Tel Aviv aufgerufen wird."

Der Historiker Yehuda Bauer sperrt sich im NZZ-Interview dagegen, trotz des zunehmenden Antisemitismus die heutigen Entwicklungen mit den dreißiger Jahren gleichzusetzen. Denn autoritäre Politiker wissen heute die Demokratie für sich zu nutzen: "Leute wie Orban sind viel zu klug, um eine Diktatur zu errichten, denn irgendwann fällt jede Diktatur zusammen. Stattdessen kann er so weiterregieren, wie er es jetzt tut. Dasselbe hoffen die Regierenden in Polen. Die Anführer dieser rechten Parteien sind auch keine Antisemiten, aber sie unterstützen eine Bewegung, die sich als antisemitischer Unterleib entwickelt. Die Freiheitliche Partei in Österreich hat antisemitische Wurzeln, ihre Anführer nicht unbedingt. Auch in Amerika gibt es einen wilden Rassismus gegen Juden, Schwarze, Muslime und auch gegen Katholiken."
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