9punkt - Die Debattenrundschau

Die Dimension des Zuhörens

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.11.2019. Wir meinen so frei. Zu frei, meint Navid Kermani, der im Deutschlandfunk die "Enthemmung von Meinung" beklagte. Hamed Abdel-Samad widerspricht ihm auf Facebook. In der NZZ fürchtet der Philosoph Peter Boghossian, dass sich unter der Forderung nach Diversität ideologische Homogenität versteckt. Und in Spiegel online plädiert der Sprachforscher Eric Wallis dafür, Rechte nicht aus den Unis auszuschließen, sondern mit ihnen zu reden. SZ und taz freuen sich über Entlassung von Ahmed Altan und Nazli Ilicak aus dem Gefängnis.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.11.2019 finden Sie hier

Ideen

Ein größeres Problem als die Einschränkung von Meinungsfreiheit ist die "Enthemmung von Meinung", sagte Navid Kermani (bereits vorgestern) im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann im Deutschlandfunk: "Das ist, glaube ich, ein Problem, das betrifft ja nicht nur Deutschland, dass einfach durch die technologische Entwicklung heute jeder immer alles sagen kann, was er will. Das führt natürlicherweise zu einer Verrohung." Auch verletzen solle man nicht: "Freiheit ist nicht, immer alles sagen zu dürfen. Zur Freiheit gehört, dass man für sein Wort auch zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn es andere verletzt."

Darauf antwortet Hamed Abdel-Samad (leider nur auf Facebook, hier): "Subjektive Gefühle kann man nicht erfassen, deswegen dürfen sie nicht als Kategorie anerkannt werden. Nicht derjenige, der etwas sagt, sollte seine Meinung an Gefühle anpassen, sondern der Empfänger sollte lernen, dass seine Gefühle nicht das Maß aller Dinge sind... Gerade in Zeiten wo die Meinungsfreiheit von allen Seiten unter Beschuss steht, erwarte ich von einem Intellektuellen, wie Kermani, ohne wenn und aber für die Meinungsfreiheit einzustehen, statt sich daran zu beteiligen, diese noch mehr, unter dem Vorwand der verletzten Gefühle, einschränken zu wollen!"

An amerikanischen Universitäten wird Reflexion kaum noch geduldet, "das moralische Denken hat das rationale abgelöst", meint der Philosoph Peter Boghossian im Interview mit der NZZ. Konservative Stimmen gebe es an den Unis kaum noch: "Und das ist verkehrt und muss von uns geändert werden. Konservative Stimmen müssen in die Akademie zurückkehren. Weltanschauliche Vielfalt muss als Primärwert gesetzt werden. Wir können nicht zulassen, dass der Mangel an öffentlichem Vertrauen unsere Institutionen erodieren lässt. ... Das ist der Fehler, den die Leute machen - sie denken: 'Oh, Diversität! Was für ein wohlklingendes Wort, das fühlt sich gut an!' Was tatsächlich damit gemeint ist, ist oftmals bloß ideologische Homogenität. Studierenden zu sagen, dass Sprache eine Form von Gewalt sei, ist eine der Sachen, die unsere Universitäten wirklich umbringen. Du wirst nie in der Lage sein, Probleme zu lösen, wenn du damit beschäftigt bist, beleidigt zu sein, und obendrauf noch alle anderen für eine existenzielle Gefahr für dein Leben hältst."

(Boghossian hatte zusammen mit dem Mathematiker James Lindsay und der Frühneuzeit-Forscherin Helen Pluckrose von 2017 bis 2018 unter wechselnden Pseudonymen zwanzig wissenschaftliche Aufsätze mit absurden Thesen verfasst, von denen einige in anerkannten Fachzeitschriften für Gender Studies und verwandte Fachgebiete angenommen worden waren. Mehr dazu hier)

Im Interview mit Spon plädiert der Sprachforscher Eric Wallis dafür, Rechte nicht aus den Unis auszuschließen, sondern mit ihnen zu reden: "Meinungsfreiheit ist zu einem politischen Schlagwort geworden. Damit wird gerechtfertigt, dass jeder seine Meinung rausbrüllen darf, und dagegen darf keiner was sagen. Erstens vergessen Menschen dabei, dass andere eben eine komplett andere Meinung haben und diese äußern dürfen. Zweitens gehört zur Meinungsfreiheit die Dimension des Zuhörens. Nur so nützt Meinungsfreiheit unserer Gesellschaft: wenn wir Meinungen, die wir nicht mögen, zumindest zur Kenntnis nehmen und versuchen sie ansatzweise zu verstehen."
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Überwachung

Morgen soll im Bundestag über das von Gesundheitsminister Jens Spahn eingebrachte "Digitale-Versorgung-Gesetz" diskutiert werden. Dafür sollen Patientendaten gesetzlich Versicherter zentral gespeichert und der Forschung pseudonymisiert zur Auswertung überlassen werden. Markus Reuter macht auf netzpolitik.org einige Datenschutzbedenken geltend, etwa: "Die Patienten können der Nutzung ihrer sensiblen Gesundheitsdaten nicht widersprechen. Zwar ist laut der Datenschutzgrundverordnung die Zustimmung für eine Datenverarbeitung grundsätzlich notwendig, diese kann aber durch Gesetze ausgehebelt werden. Das ist hier der Fall. 73 Millionen Menschen in Deutschland haben durch das Gesetz weder die Chance, der Datenweitergabe generell abzulehnen, noch können sie ethisch fragwürdigen Studien auf Einzelfallbasis widersprechen."

Im Interview mit Zeit online erklären dagegen die Forscher Peter Ihle und Ingrid Schubert, warum ihrer Ansicht nach die Patientendaten wirklich gut geschützt, aber eben für die Forschung auch wichtig sind: "So können wir überprüfen, ob das, was wir aus der Forschung wissen, auch in der Praxis ankommt. Setzen sich neue Therapien und Leitlinien durch? Werden bestimmte Medikamente häufiger oder seltener verschrieben? ... Wir können auch sehen, ob die Versorgung stimmt. Beispielsweise zeigen die Daten, dass Kardiologen zu viele Patienten mit einem Herzkatheter untersuchen. Und wir sehen sehr gut, ob es regionale Probleme in der medizinischen Versorgung gibt und welche Bevölkerungsgruppen wir nicht erreichen."
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Gesellschaft

"11.000 Wissenschaftler warnen vor weltweitem Klimanotstand", berichtet unter anderem Spiegel online, und sie warnen vor  "unsäglichem menschlichen Leid". In seiner Spon-Kolumne fragt sich Georg Diez, wie Politiker, die ins Tagesgeschäft verwickelt sind, darauf reagieren sollen, dass wir angeblich noch zehn Jahre haben, um das Ruder rumzureißen. SPD und CDU seien ratlos, bei den Grünen sei es nicht so anders: "Wie also kann man von Verzicht so sprechen, dass es überzeugend wirkt? Wie kann man negatives Wachstum zu einem gesellschaftlichen Ziel machen, zugleich innovativ und inklusiv? Sie haben Angst davor, die grundlegenden Fragen offen zu stellen, genauso wie die SPD sich scheut, den Green New Deal zum Thema zu machen, der doch eigentlich so ein eindeutig sozialdemokratisches Projekt wäre, die Neuerfindung des Staates in der ökologisch-ökonomischen Krise, nicht mit Panik, sondern mit Plan."
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Europa

In der SZ freut sich Christiane Schlötzer über die Freilassung des 69-jährigen türkischen Schriftsteller Ahmed Altan, der in einer türkischen Talkshow gesagt hatte: "Die AKP wird ihre Macht verlieren, und sie wird vor Gericht gestellt werden" und deshalb wegen "Unterstützung einer Terrororganisation" zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Nach drei Jahren Haft wurde er jetzt unter Auflagen freigelassen. Auch die Journalistin Nazli Ilicak wurde unter Auflagen aus dem Gefängnis entlassen, berichtet Jürgen Gottschlich in der taz. Die Inhaftierung der beiden hatte wegen ihrer Prominenz in der Türkei eine riesige Resonanz. "In seinem Prozess 2017 hatte Ahmet Altan in einer furiosen Verteidigungsrede die Anklage auseinandergenommen und klargemacht, dass es bei ihm und Nazlı Ilıcak nur darum gehe, zwei prominente Kritiker des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan mundtot zu machen. Trotzdem wurde er zu lebenslänglicher Haft verurteilt." Im Gefängnis hat Altan das Buch "Ich werde die Welt nie wiedersehen" geschrieben, für das er noch in diesem Monat mit dem Sophie-Scholl-Preis ausgezeichnet werden soll. Er wird allerdings nicht zur Preisverleihung anreisen dürfen.

1989 kam einfach zu spät für die Reformsozialisten, bedauert der Schriftsteller Martin Ahrends in der NZZ. Und so ging mit der DDR auch ihre Lebensleistung einfach unter: "Was da in Jahrzehnten gewachsen war außerhalb der staatlich orthodoxen Denkstrukturen, das wurde mit dem Bade ausgekippt. Das Kind, die Frucht, mit dem abgestandenen Badewasser der Stagnation. Das ist der eigentliche Verlust: die nicht fruchtbar gewordene Erfahrung, die in diesem ostdeutschen Aufbruch der späten achtziger Jahre steckte. Der Mauerfall war ein Nebenprodukt dieses Aufbruchs, war von den stammelnden Greisen des Politbüros als Ventil gedacht. Nun ist der Aufbruch hinter dem historischen Großereignis des Mauerfalls kaum mehr erkennbar. Betrogen fühlen wir uns nicht um die 'sozialen Errungenschaften der DDR', sondern um die Frucht, das Kind, den Sinn, den diese vierzig Jahre hätten haben können, wenn der so verspätete Aufbruch den Entfaltungsraum gehabt hätte, den ihr, die Achtundsechziger, hattet."

Im Zeit-Blog 10 nach 8 blickt Julia Friese leicht beschämt zehn Jahre zurück auf ihr 23-jähriges Ich, das in ihrem Buch "Herzmist" von Feminismus nicht viel hielt, hektische Männer als "tuckig" und schwangere Frauen als "Säugkühe" bezeichnet hatte. Peinlich. Und wie schnell man andere für ähnlichen Unfug verurteilt! "Ich frage mich aber, ob es nicht wichtig sein könnte, dazu zu stehen, wer man war, um dann zu beschreiben, wie man zum Umdenken kam. Welche Erfahrungen und Lektüren einen zu der gemacht haben, die man heute ist. Vielleicht bringt nachvollziehbare Ehrlichkeit jene Menschen, die heute noch bescheuklappte Standpunkte besetzen, eher zum Nachdenken als jeder Tritt vor ihr Schienbein, der sie in die Verteidigung ihres Standpunkts zwingt."

Der britische Wahlkampf hat begonnen. Mark Scott stellt auf politico.eu fest, dass trotz erwiesener Gefährdungen keine neuen, solideren Regeln gegen Missbrauch von Wählerdaten eingeführt sind. Dabei habe die Wahlkommission einige Schneiden für Missbrauch ausgemacht: "Dazu gehörte auch der potenzielle Missbrauch von Personendaten - einschließlich der Adressen der Wähler und anderer persönlicher Daten - durch Aktivisten, die Einzelpersonen in sozialen Medien ansprechen wollen, sowie durch politische Gruppen, die nur mit kümmerlichen Geldbußen rechnen müssen, wenn sie beim Kauf von Online-Werbung gegen die Regeln der Kampagnenfinanzierung verstoßen. Nach den derzeitigen Regeln hatte die Wahlkommission wegen Fehlverhaltens Geldbußen von bis zu 20.000 Pfund verhängt" Das Vertrauen werde auch nicht durch die Entscheidung der britischen Regierung verbessert, einen Bericht über mögliche russische Beeinflussung der Brexit-Abstimmung erst nach den Wahlen zu veröffentlichen.
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