9punkt - Die Debattenrundschau

Exzellent erkannt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.03.2020. Kann sein, dass Giorgio Agamben ein Hysteriker ist, meint Nora Bossong auf ZeitOnline, aber wir müssen über Freiheit reden. Vor allem weil der Unterschied zwischen Ausnahmezustand und Normalität rein rechtlich erschreckend klein ist, wie Uwe Volkmann auf dem Verfassungsblog bemerkt. In der taz berichtet Francesca Borri von den Verheerungen in der Kleinstadt Alzano Lombardo und Mike Davis geißelt die auf Profit getrimmten Gesundheitssysteme, Und die erste Patientin in den USA bekam ihre Rechnung über 34.927,43 Dollar.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.03.2020 finden Sie hier

Politik

Die Schriftstellerin Nora Bossong weiß gar nicht genau, ob sie nun Giorgio Agambens Einschätzung teilt, dass mit der Angst vor dem Corona-Virus der Ausnahmezustand etabliert werden soll. Aber wichtig findet sie, wachsam zu bleiben und über die Freiheit nachzudenken: "Weder Sabotage noch Alarmismus ist derzeit hilfreich, sondern das faire Hinterfragen der Mittel. Genau das macht ja eine freiheitliche Gesellschaft aus, auch in Ausnahmezeiten. Verschwörungstheorien und reflexartiges, undifferenziertes Staatsmisstrauen waren noch nie sonderlich hilfreich. Auch allen, die jetzt von radikal linker Seite auf den Systemsturz hoffen, muss man entgegnen: Exzellent erkannt, Krisenzeiten können zu eben jener Destabilisierung führen, die für einen Umsturz günstig ist. Allerdings sind da auch schon die extrem Rechten draufgekommen. Und gewiss ist Agambens Warnung in diesem Punkt nicht falsch: Die Gewöhnung an einen Ausnahmezustand mit Einschränkungen der gewohnten Freiheiten bereitet eher auf die Akzeptanz eines autoritären Staates vor als auf Anarchie."

Auf dem Verfassungsblog fragt der Jurist und Rechtsphilosoph Uwe Volkmann, wie es eigentlich möglich ist, innerhalb kürzester Zeit, ohne offizielle Dekration, ohne parlamentarischen Beschluss de facto in den Ausnahmezustand zu geraten: "Keine entfesselte Gewalt tritt uns hier vor Augen, sondern ein Verwaltungsstaat in einem Vorgang des allgemeinen und besonderen Verwaltungsrechts, der die Lage mit seinen Mitteln in den Griff zu bekommen versucht und dabei, wie sich zeigt, ziemlich weit gehen kann. Auch in Frankreich, wo der Ausnahmezustand nun mit martialischen Worten vom Präsidenten förmlich erklärt worden ist, wird man im Übrigen bei näherem Hinsehen bemerken, dass rein rechtlich die Unterschiede im Vergleich zum Zustand davor so groß nicht sind, so wie es auch schon bei der letzten Erklärung des Ausnahmezustands durch den vorherigen Präsidenten anlässlich der Terroranschläge im Bataclan zu beobachten war. Die Frage ist allerdings, ob uns das eher beruhigen oder beunruhigen sollte."

Die Ausgangsbeschränkungen, die Bayern und Baden-Württemberg verhängt haben, kann eine Demokratie verkraften, meint Kurt Kister in der SZ, Rechtsstaat und Grundgesetz kennen so etwas wie Recht auf Schutz. Aber, fragt Stefan Kornelius in einem zweiten Leitartikel: Wieviel Druck wird die Demokratie aushalten können? Was passiert, wenn Solidarität und Geschlossenheit bröckeln? "Das größte ethische Dilemma kann allerdings auch die Demokratie nicht lösen: Wie viel Schaden ist ein Gemeinwesen in der Lage zu ertragen, um Menschenleben zu retten? Oder umgekehrt und in aller Härte formuliert: Muss die Gesellschaft sich entscheiden, ob sie lieber Menschen vor dem Tod bewahren will - oder ob sie ihren gemeinschaftlichen Charakter erhalten möchte mit all seinen Arbeitsstrukturen, dem Lebensstil, den Institutionen aus der Zeit vor der Krise?"

Der amerikanische Stadtsoziologe Mike Davis, der bereits 2005 angesichts der "Vogelgrippe" über die Produktion moderner Seuchen geschrieben hatte, warnt in der taz davor, Afrika aus dem Blick zu verlieren. Armut und Infektionen können fatale Wechselwirkungen entfalten. Gravierend erscheint ihm, dass die westlichen Länder ihre Gesundheitssystem auf Profit getrimmt haben: "Schon bei den Grippeepidemien 2009 und 2018 waren viele Krankenhäuser überlastet. Um Gewinne zu maximieren, waren Krankenhausbetten sukzessive abgebaut worden. Nach Angaben der American Hospital Association ging die Zahl der stationären Krankenhausbetten von 1981 bis 1999 um 39 Prozent zurück. Das Ziel war es, eine Auslastung von 90 Prozent der Betten zu erreichen. Deshalb sind Krankenhäuser für Epidemien und Notfälle nicht mehr gerüstet."

Bei Time meldet Abigail Abrams, dass eine nichtversicherte Patientin in den USA gerade die Rechnung für einen Corona-Behandlung erhalten hat: 34.927,43 Dollar.

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Europa

In einer bewegenden Reportage berichtet Francesca Borri in der taz aus der norditalienischen Kleinstadt Alzano Lombardo, wo die Menschen verzweifeln über das Schicksal ihrer alten Eltern. Ein Platz im Krankenhaus erscheint ihnen wie ein Sechser im Lotto: "35 Minuten musste Andrea Travelli auf die Ambulanz warten, eine Ewigkeit bei Notfällen. Travelli ist 60 Jahre alt, seit einer Woche hat er hohes Fieber und nichts als Paracetamol im Haus. 'Es hilft nicht', sagt sein Schwiegersohn und betont jedes Wort, damit ihm die Stimme nicht bricht, 'das Fieber geht nicht runter'. Denn es verhält sich nicht so wie bei diesen berühmten Persönlichkeiten, die das Virus haben und sich dann beeilen, per Facebook Videos ins Netz zu stellen, die zeigen, dass es sich bloß um ein bisschen Husten zu handeln scheint, der sich mit etwas Milch und Honig behandeln lässt. 'Einen Kranken zu Hause zu haben ist eine Qual', sagt Travellis Schwiegersohn, 'eine Qual für alle'."

Im Spiegel weist Jan Puhl darauf hin, dass die Staaten Osteuropas kaum eine andere Chance haben als sich abszuschotten, ihre Gesundheitssysteme sind noch weniger belastbar: "Ärzte und Pfleger sind aus Ländern wie etwa Bulgarien oder Rumänien zu Tausenden abgewandert."

In der Financial Times geht Tobias Buck der Frage nach, warum in Deutschland allem Anschein nach die Sterblichkeit deutlich geringer ist als in anderen europäsichen Ländern. Buck erklärt sich das mit der offenbar doch recht hohen Zahl an Tests: "According to Lothar Wieler, the president of the Robert Koch Institute, German laboratories are now conducting about 160.000 coronavirus tests every week - more than some European countries have carried out in total since the crisis started. Even South Korea, which is conducting 15.000 tests a day and has been held up by virologists as an example to follow, appears to be testing less than Germany."

In der Welt notiert Thomas Schmid Beobachtungen aus einem Europa, dem die Normalität abhanden gekommen ist. Der Nörgelbürger hält still. Dafür wächst ein Konflikt zwischen Jung und Alt herauf. Und: "Das Virus vertieft eine Spaltung, von der seit geraumer Zeit viel die Rede ist. Die Büromenschen, die es mit viel Virtuellem zu tun haben, arbeiten von zu Hause. Da Tomaten aber nicht im Netz wachsen und Päckchen wirklich transportiert werden müssen, geht es denen, die damit ihr Geld verdienen, schlechter. Der Amazon-Bote muss sich der Gefahr aussetzen, der Busfahrer ebenso wie die Kassiererin im Supermarkt. Das Virus akzentuiert: Es gibt die Glücklichen und die weniger Glücklichen. Und Unglückliche. Das ist eine soziale Frage, die auf der Tagesordnung bleiben sollte."
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Kulturmarkt

Nach Corona will wohl niemand mehr verödete Innenstädte sehen, glaubt Verbrecher-Verleger Jörg Sundermeier und auch sonst sollten Verlage nicht auf den Online-Giganten setzen, sondern auf Buchhandlungen: "Amazon hat in einem Rundbrief am Mittwoch vielen Lieferanten aus der Buchbranche mitgeteilt, dass das Unternehmen den Nachbezug von Büchern bis Anfang April weitgehend aussetzen wolle, da es 'vorübergehend Haushaltswaren, Sanitätsartikel und andere Produkte mit hoher Nachfrage' priorisiere."
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Stichwörter: Corona, Innenstädte, Innenstadt

Gesellschaft

Die taz hat Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, und Cilly Kugelmann, ehemalige Programmdirektorin des Berliner Jüdischen Museums, zu einem sehr interessanten Streitgespräch getroffen: über die Aufgabe jüdischer Museen, die Rolle des Holocausts und die Frage, wie die Boykottbewegung BDS die Debatte kaputt macht. Und die große Frage: Ist BDS antisemtisich? "Kugelmann: Es ist ein Forum unterschiedlicher Gruppen, das antisemitische und nichtantisemitische umfasst. Im palästinensischen Kontext ist es zuerst einmal eine Bewegung, die auf Gewalt verzichtet. Jetzt erscheint BDS einzig und allein als Bewegung, die Israel
 vernichten will. Diese Auffassung ist zu eng. Wenzel: Das sehe ich anders. BDS ist eine Boykottbewegung, die auf die Existenzberechtigung des jüdischen Staates Israel zielt. Kugelmann: Es wäre die erste Boykottbewegung, die einen Staat vernichtet. Dieser Boykott ist eine stumpfe Waffe. Er schadet Israel nicht - dafür hat er üble Auswirkung im akademischen und kulturellen Bereich. Denn er trifft israelische Akademiker und Künstler, die oft gerade nicht die israelische Mainstreamperspektive einnehmen..."
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Medien

Andreas Schürer, stellvertretender Chefredakteur der NZZ, erteilt Forderungen, die Bezahlschranken abzuschaffen, eine klare Absage, selbst wenn sie so gewitzt daher kommen wie Jan Böhmermanns "Tear down the fucking paywalls now!": "Da muss die Branche, da müssen vor allem unabhängige Qualitätstitel dagegenhalten, entschieden und selbstbewusst. Sie sind nämlich auf gutem Weg, im digitalen Transformationsprozess einen entscheidenden Schritt vorwärtszukommen: Tausende Nutzerinnen und Nutzer zeigen Kaufbereitschaft, zahlen für unabhängigen Qualitätsjournalismus. Das war schon vor der Corona-Krise so, aber es verstärkt sich nun merklich. Es wäre ein fataler Fehler, Inhalte jetzt wieder gratis abzugeben, auch nur punktuell. Stattdessen sollte das Motto lauten: Jetzt ziehen wir das durch, zum Wohle aller."

Willi Winkler beerdigt in der SZ den Playboy, der in der Corona-Krise vollends obsolet geworden ist und in den USA seine gedruckte Ausgabe einstellt.
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