9punkt - Die Debattenrundschau

Wir brauchen noch 'ne Weile, sorry

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.05.2020. In der FAZ liest der Historiker Thomas Weber einen alten Text von Achille Mbembe und stellt fest, dass das Thema Israel (und die "Wiederholung", die er dem Land vorwirft) am Ursprung seiner Philosophie liegt. Frank-Walter Steinmeiers Rede zum 8. Mai stößt auf ein gespaltenes Echo. Susan Neiman erklärt in der taz, was die Amerikaner aus der deutschen Vergangenheitsbewältigung lernen können. Die NZZ fragt, ob der Lockdown sinnvoll war: Ist Rauchen nicht gefährlicher? Die taz empfiehlt dagegen, den GMV einzuschalten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.05.2020 finden Sie hier

Ideen

Der Historiker Thomas Weber ("Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde") hat einen Artikel des damals 35-jährigen Achille Mbembe aus einer Kameruner Zeitung ausgegraben, den der später berühmte Philosoph 1992 unter dem Titel "Israel, die Juden und wir" veröffentlichte. Es ist ein durchaus differenzierter und lesenswerter Artikel, so Weber, aber einer, der dann eben doch auf die fatale Tendenz hinausläuft, dass Mbembe "Antisemitismus, Holocaust, israelische Politik und imperiale und postkoloniale Verbrechen als wesensgleich" ansieht. Und Weber zitiert aus Mbembes Text: "In dem Maße, wie die magische Illusion der 'Befreiung' sich auflöst, versinkt Israel wie die gesamte Postkolonie in der Wiederholung: Wiederholung des Verbrechens, Wiederholung der Käuflichkeit, Wiederholung der verlogenen Versprechen, Wiederholung der Dummheit und des Falschen, Wiederholung des Rechts zur Ungerechtigkeit und zur Untat, Wiederholung der schändlichen Arbeit, die darin besteht, den Platz der Mörder einzunehmen und das dumme Leben derer zu reproduzieren, die, gestern Opfer, heute Verfolger, sich jenem schwachsinnigen Spiel hingeben, das Vergewaltigung, Raub, Kolonisierung und Schutzgelderpressung heißt." Israel, so Weber, ist nicht nur kein nebensächliches Thema bei Mbembe, wie Stefanie Carp sagte (unsere Resümees), sondern liegt am Ursprung seiner Philosophie.

In der Berliner Zeitung resümiert Harry Nutt den jüngsten Stand der Mbembe-Debatte und fragt: "Wäre es an dieser Stelle der verfahrenen Diskussion nicht angebracht, aus den intellektuellen Schützengräben herauszukommen?"
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Geschichte

Frank-Walter Steinmeier hat auf dem fast menschenleeren Platz vor der Neuen Wache seine Rede zu einem besonderen 8. Mai gehalten, in der er vor allem die Idee des Gedenkens mit der europäischen Idee assozierte. taz-Redakteur Stefan Reinecke ist aus anderem Grund mit der Rede zufrieden: "Die Klimax der Rede lautet: 'Wir denken an diesem 8. Mai auch an die Opfer von Hanau, von Halle und Kassel.' Dies ist ein kühner, fast pathetisch anmutender Bogen ins Jetzt. Er schließt bundesdeutsche Normalität mit der moralischen Trümmerlandschaft 1945 kurz".

Welt-Autor Thomas Schmid schreibt sich dagegen in seinem Blog fast in Rage gegen die formelhafte Gedenksprache deutscher Politiker. Und er macht einen Punkt, der in deutschen Gedenkreden tatsächlich fast nie angesprochen wird: "Steinmeier hat die Auseinandersetzung der Deutschen mit der NS-Vergangenheit einen 'langen, schmerzhaften Weg' genannt. Lang war er sicher, aber schmerzhaft? Zum deutschen Elend gehört auch, dass sich dieses Gedenken an den Nationalsozialismus und seine Opfer erst dann wirklich Bahn brach, als es fast niemanden mehr gab, der hätte zur Rechenschaft gezogen werden können. Als es eben nicht mehr schmerzhaft war. Kein Wort des Bundespräsidenten dazu, dass in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik in allen gesellschaftlichen Bereichen NS-Täter und -Mitläufer ihre Karrieren unbehelligt fortsetzen konnten."

Auf Twitter ist Steinmeiers Rede übrigens bestens angekommen, besonders im Ausland. Hier etwa die Reaktion Jonathan Freedlands, eines der klügsten Kommentatoren des Guardian:


Die Amerikaner haben von der Eroberung ihres Landes über Sklaverei, Bürgerkrieg und Segregation so einiges in ihrer Geschichte, das eine Vergangenheitsbewältigung nach deutschem Muster gebrauchen könnte, meint die in Berlin lebende Philosophin Susan Neiman in einer Nachbetrachtung zum 8. Mai in der taz: Dabei heißt "von der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung zu lernen .. nicht, diese Aufarbeitung zur Erfolgsgeschichte zu erklären. Vor allem können andere von den Deutschen lernen, wie schwer der Weg zu diesem Perspektivwechsel ist. Selbst bei den schwersten Verbrechen wird es Widerstand geben, die eigene Schuld zu erkennen. Es wird immer Menschen geben, die Entlastung suchen, indem sie auf die Sünde der anderen zeigen, um die eigene vergessen zu können."

Außerdem: Im Tagesspiegel schreibt Paul Nolte über die immer wieder gerühmte Rede Richard von Weizsäckers vor 35 Jahren.
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Kulturpolitik

In der Berliner Zeitung unterhält sich Susanne Lenz mit Hetty Berg, der neuen Leiterin des Jüdischen Museums Berlin, die das Haus nach einem erbitterten Streit über israelkritische Debatten im Museum übernimmt. Sie möchte mehr Berliner ins Haus locken, sagt sie, und nennt überraschende Zahlen: "Rund 75 Prozent unserer Besucherinnen und Besucher kommen bisher aus dem Ausland, 15 Prozent aus anderen Teilen Deutschlands. Aus Berlin kommen im Verhältnis also nur wenige. Schon vor Corona war es mein Ziel, mehr Deutsche und mehr Berliner in das Museum zu holen."

Außerdem: Im Tagesspiegel unterstreicht Monika Grütters die Wichtigkeit von Kunst und Kultur für die Gesellschaft und freut sich über die großzügigen Hilfen, die die Politik bereits geleistet hat.
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Religion

Vanessa Gaigg erzählt im Standard die Geschichte der jungen Frau Anna, die aus einer christlich-fundamentalistischen Sekte ausgestiegen ist und von der psychischen Gewalt in der Sekte berichtet ("am Tage des Weltgerichts würde sie ohne ihre Eltern auf der Erde zurückbleiben und alleine die Apokalypse erleben müssen - sollte ihr Glaube nicht ausreichen", wurde ihr etwa angedroht). Ercan Nik Nafs, der Jugendanwalt der Stadt Wien, leitet daraus Forderungen an die Politik ab: "Erziehung sei nicht nur Sache der Eltern. Ein Problem sei, dass 'Wohlerzogenheit' oft als Hinweis gewertet werde, dass das Kindeswohl gegeben sei. Kinder aus streng religiösen Gruppen seien aber eben meist brav. 'Die Idee der Wohlerzogenheit steht in einem Spannungsverhältnis zu Autonomiefähigkeit', sagt der Experte. Und fordert: 'Predigten, in denen mit Schuld und Angst gearbeitet wird, sollten in Anwesenheit von Kindern untersagt sein.'"
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Politik

Scheinbar ist die Corona-Krise ein Moment der Populisten, die das Problem auf Sündenböcke abschieben. Aber die Pandemie ist global, und die unterschiedlichen Länder bewältigen sie unterschiedlich gut. "Deshalb ist die Coronavirus-Pandemie ein so bedeutender Moment und eine potenzielle Chance, die Fabulierer zu entlarven", schreibt der Financial-Times-Autor Michael Peel in dem Blog politics.co.uk: "Eine Pandemie, die nicht mit bloßer Rhetorik in Schach gehalten werden kann, sollte Leugner und Scharlatane entlarven. Es ist die Theorie des 'Tschernobyl-Moments', der zeigte, wie das Ausmaß der Katastrophe im sowjetischen Kernkraftwerk die Fähigkeit des Regimes überstieg, sie zu vertuschen."
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Gesellschaft

Die NZZ beschäftigt heute die Eingriffe in die Grundrechte in Folge der Coronakrise. "Bedenklich" findet es Christina Neuhaus, "wie lange wir uns weigerten, nur schon laut über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen nachzudenken", zumal sie das gesellschaftliche Klima vergiftet hätten: "Die Frage, was eine Gesellschaft eigentlich zusammenhält, können weder Virologen noch Staatsrechtler beantworten. Wenn Polizisten Kinderspielplätze kontrollieren, junge Väter Großväter anpflaumen, weil sie sich aus dem Haus wagten, und Balkon-Sheriffs jedes Mal die Nummer 117 wählen, wenn die Nachbarn gegenüber Besuch bekommen: Bringt das nicht etwas ins Kippen, was vielleicht nie mehr geradegerückt werden kann?"

Die Ökonomin Margit Osterloh diagnostiziert gar die Ausbreitung eines "Autoritätsvirus". Der Grund: "Wir lassen uns von der Zahl der Corona-Toten schockieren, ohne uns zu informieren, wie diese in Relation zu anderen Todesursachen - etwa dem Rauchen - stehen. Verstärkt wird diese Reaktion durch die Zuarbeit mancher Medien. Zu Recht wurde kritisiert, dass das öffentlich finanzierte Fernsehen und Radio nur sehr zögerlich kritische Stellungnahmen zulässt und ein 'staatstragendes Sendungsbewusstsein' (René Zeyer in der NZZ) demonstriert."

Bei der Frage, ob wir durch die Corona-Maßnahmen auf eine Diktatur zuschlittern, wie ausgerechnet an den linken und rechten Rändern gern geunkt wird, empiehlt Doris Akrap in der taz einfach mal, den gesunden Menschenverstand (GMV) einzuschalten: "Fragen Sie Ihren GMV mal, was denn die Alternative gewesen wäre. Sicher, die überstürzt aufgestellten Ausnahmeregelungen waren so grobschlächtig, dass die Polizei erst mal mit Interpretationsarbeiten beschäftigt war, was den Eindruck verstärkte, hier wisse die eine Hand nicht, wem sie die andere waschen soll. Wäre aber etwas gewonnen gewesen, wenn die Regierung gesagt hätte: 'Wir wissen es im Moment leider auch nicht so ganz genau und brauchen noch 'ne Weile, sorry! Wir melden uns, sobald wir mehr sagen können. Bitte haben Sie Geduld und Verständnis dafür, dass in der Zwischenzeit erst mal ein paar Leute über den Jordan gehen werden, bevor wir rausgefunden haben, was zu tun ist.'"
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