9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Problem mit der Realität

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.09.2020. "QAnon" sei mehr als eine Verschwörungstheorie, erklärt BuzzFeed. Es sei ein kollektiver Wahn, und zwar ein äußerst gefährlicher. Richard Herzinger erklärt in seinem Blog, warum man misstrauisch werden sollte, wenn Deutsche von ihrer "besonderen Verantwortung" für Israel sprechen. Die taz begibt sich auf die Spur von "NSU 2.0". Charlie Hebdo attackiert die New York Times, die die Neupublikation der Mohammed-Karikaturen nur mit spitzen Fingern anfässt - schließĺich hatte sich die Times nach der Charlie-Debatte entschlossen, gleich gar keine Karikaturen mehr zu veröffentlichen. "Wir haben es noch nicht geschafft", ruft Ahmad Mansour in der Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.09.2020 finden Sie hier

Medien

Charlie Hebdo hat aus Anlass des Prozesses zu den Attentaten vom Januar 2015 die Mohammed-Karikaturen noch einmal publiziert (unser Resümee). Mit den Karikaturen war das immer so eine Sache. Eine Menge Medien trauen sich nicht, sie nachzudrucken (der Perlentaucher berichtete häufig und intensiv darüber, mehr hier.  Er gehörte zu den wenigen Medien in Deutschland, die die Karikauren publizierten.) Heute geht die Charlie-Redaktion die Reaktion der Zeitungen auf die Neupublikation durch und stellt fest, dass viele Medien ihre Reserve aufgegeben haben, wenn auch nicht alle. Besonders spitzfingrig und natürlich ohne entsprechende Illustration berichtete etwa die New York Times. Norimitsu Onishi schreibt: "Der Prozess und die Neupublikation von Karikaturen, die von vielen als beleidigend angesehen werden, kommen in einem Moment, in dem Frankreich Proteste gegen Rassismus erlebt und zu einem Nachdenken über die Behandlung von Minderheiten in seiner Gesellschaft einst und heute aufgerufen wird."

"Wir haben verstanden, dass wir nicht auf die New York Times zählen dürfen, um die Pressefreiheit zu verteidigen", antworten die Charlie-Redakteure und erinnern daran, dass die New York Times in Folge der Debatte um Charlie Hebdo gänzlich darauf verzichtete, Karikaturen zu veröffentlichen, mehr hier.

In der NZZ plädiert Andreas Häuptli, Geschäftsführer des Verlegerverbandes Schweizer Medien, für staatliche Unterstützung der Printmedien, ohne die die Demokratie gefährdet sei: "Die Verlage bauen die sogenannten Paywalls höher und höher und schränken damit den Zugriff auf kostenlose Inhalte immer weiter ein. Noch ist es aber ein weiter Weg, bis dieses Geschäftsmodell etabliert ist. Ohne eine erweiterte Medienförderung, die eine Brücke in der Transformationsphase bildet, ist die heute noch intakte Medienvielfalt gefährdet." In Deutschland sind bereits substanzielle Subventionen für die Presse beschlossen worden, mehr hier.
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Gesellschaft

Die BuzzFeed-Redaktion teilt in ihrem Newsletter mit, dass sie von "QAnon" künftig nicht mehr bloß als Verschwörungstheorie, sondern als "kollektiven Wahn" ("Collective Delusion") sprechen will. Zu gefährlich, bis hin zum Terrorismus, sei die Wirkung des Phänomens trotz seiner scheinbar bizarren Theorien etwa über die Demokraten als Kinderschänder. Der Begriff "Delusion" sei nicht perfekt, "aber 'Wahn' beschreibt die Realität besser als 'Verschwörungstheorie'. Wir sprechen hier über eine Menge Leute, die sich zu gemeinsamen Werten und Ideen bekennen, aus denen sie ihre Überzeugungen  und Handlungen ableiten. Die Auswirkungen von QAnon sind ein Beispiel für 'die Folgen unseres zerbrochenen Informationsökosystems in der realen Welt', schrieb kürzlich die New York Times. Die Ausbreitung dieses Wahns ist zum Teil ein Problem der Medienkompetenz - das zu einem Problem mit der Realität geworden ist."

Rechtsextremistische Attentäter wurden von Polizei und Gerichten häufig verharmlosend als "Einzeltäter" eingestuft, schreibt Ulrich Chaussy, der jahrlang über das Oktoberfest-Attentat recherchierte, in der taz (der Essay ist ein Vorabdruck aus seinem Buch zum Thema) - aber die Wahrnehmung ändert sich: "Der Mythos vom Einzeltäter begleitet die halbherzige polizeiliche, juristische und politische Bekämpfung des Rechtsextremismus bis heute. Aber seit der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 wird Verharmlosungen, Individualisierungen und Personalisierungen mit wacher Skepsis begegnet. Die kritische Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nimmt allmählich zu. Polizeiliche Ermittler vermeiden heute meist den traditionellen Reflex, sich frühzeitig auf einen Einzeltäter festzulegen."

Und nochmal Rechtsextremismus. Ein Autorenteam der taz begibt sich auf eine intensive Recherche nach der Gruppe (oder dem Einzeltäter?), die unter dem Namen "NSU 2.0" Drohbriefe mit privaten Informationen verbreiten und offensichtlich Polizeicomputer benutzen: "Im Juli 2020, zwei Jahre nach dem ersten Fax, prüft der Generalbundesanwalt, ob er den Fall übernimmt. Der hessische Polizeipräsident wird entlassen, ein Sonderermittler eingesetzt. Bis heute werden immer neue Mails mit Beschimpfungen und Drohungen verschickt. Inzwischen sind es mehr als 80. Unerträglich für die Betroffenen - und wie ein Stinkefinger in Richtung Polizei."

Der in der hiesigen Mitte zirkulierende Antisemitismus ist nicht mehr ein gefestigtes Weltbild wie zu Nazizeiten, aber Versatzstücke davon finden sich immer noch, schreibt Richard Herzinger in seinem Blog. Hinzukommen spezifisch deutsche Pathologien, besonders in Bezug auf Israel: "In Deutschland weist das Sprechen über Israel nach wie vor seine besonderen Fallstricke auf. So impliziert die Rede von der 'besonderen Verantwortung' des heutigen Deutschland für den jüdischen Staat unterschwellig, das Land der Täter, das aus seiner unheilvollen Geschichte die richtigen Lehren gezogen zu haben glaubt, besäße auch eine besondere Verpflichtung, den jüdischen Staat zur Ordnung zu rufen, wenn er seinerseits auf Irrwege zu geraten droht."

"Wir haben es noch nicht geschafft", schreibt Ahmad Mansour in Anlehnung an Angela Merkels berühmten Satz von 2015 in der Welt. "Wir" schaffen es nur, wenn sowohl die Ankömmlinge als auch die hiesige Gesellschaft sich miteinander auseinandersetzen, insistiert er: "Wenn ich nun lese, dass der Berliner Bezirk Charlottenburg vorhat, einen ganzen Wohnungskomplex nur für Flüchtlinge zu bauen, dann haben wir als Gesellschaft scheinbar nichts gelernt. Welches Gefühl erzeugt ein abgeschotteter Komplex, der mehr nach schlichter Duldung der Flüchtlinge aussieht als nach ehrlicher Akzeptanz in der Gesellschaft? Integration funktioniert nur über Inklusion, und dazu gehören Begegnungen. Parallelgesellschaften müssen dagegen verschwinden, und sie verschwinden dann, wenn man gesellschaftlich durchmischt wird."

"Wir haben es geschafft", ruft dagegen Alan Posener in einem Zeit-online-Essay. Die Demokratie sei gefestigt, trotz einiger Anfechtungen von rechts, versichert er: "Die Wiederbelebungsversuche einiger Epigonen der Konservativen Revolution in Schnellroda wirken eher wie eine Séance als eine Renaissance. Nach wie vor beherrschen linke Theorien fast unangefochten die intellektuellen und künstlerischen Institutionen der Republik. Die politische, wirtschaftliche, juristische und militärische Elite ist aus Überzeugung demokratisch und liberal gesonnen."

Der Unternehmer Wolfram Klingler fragt in der NZZ, ob die Maßnahmen gegen Corona nicht zu rigide sind (inzwischen spreche man nicht mehr über Todes-, sondern nur noch über Infektionszahlen): "Ein Ende ist nicht absehbar, wir werden schon in den nächsten Monaten erste Anzeichen davon zu spüren bekommen, wie hoch der tatsächliche wirtschaftliche Schaden ist. Das Erwachen wird böse sein. Die Pandemie wird uns dabei noch lange weiter begleiten, womöglich gerade wegen der jetzigen Politik, welche darauf abzielt, die Anzahl Infektionen so niedrig wie möglich zu halten."

Außerdem: Der Konfliktforscher Andreas Zick empfiehlt im Gespräch mit Tom Wolfarth von der taz mehr politische Bildung, um der Verbreitung immer neuer Verschwörungstheorien etwa zu Corona vorzubeugen.
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Ideen

Es gibt einen Appell deutschsprachiger Autoren, initiiert vom Youtuber Gunnar Kaiser und dem Schweizer Journalisten Milosz Matuschek, der sich an den "Harper's-Appell" (unsere Resümees) anlehnt, allerdings nach Felix Stephan in der SZ nicht im entferntesten an den liberalen Geist des Harper's-Appells heranreicht: "Der deutsche 'Appell' ... verzerrt eine lebendige Öffentlichkeit, die sich gegen illiberale, antisemitische oder auch nur irreführende Positionen verwahrt, als Krisensymptom und verlangt Toleranz auch für die Intoleranten. In einem Video zu dem Appell spricht der Initiator Gunnar Kaiser nicht von einem Erhalt, sondern von einer erhofften 'Öffnung' der Diskursräume. Ein Telefongespräch mit ihm bringt keine näheren Erkenntnisse, welche Künstler oder Autoren denn von Repressionen betroffen seien." Zu den Erstunterzeichnern des "Appells für freie Debattenräume" gehören immerhin Monika Maron, Alexander Kluge und Ilija Trojanow.
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