9punkt - Die Debattenrundschau

Im Eskalationskontinuum

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.10.2020. Eine seltsame Stille hat sich über die amerikanische Gesellschaft gelegt, durch die der Tumult kaum mehr hindurchdringt, schreibt Richard Ford in der FAZ, "wie die Stille vor einer Schlacht". In der taz erklärt die saudische Regimekritikerin Madawi al-Rasheed, warum die Frauen die Zukunft ihres Landes entscheiden werden. In der FAZ versichert Edo Reents, dass er als Fahrradfahrer zu den "Schwächsten unter uns" gehört. Le Monde und Guardian erzählen, warum in Nantes eine Ausstellung über Dschingis Khan abgesagt wurde.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.10.2020 finden Sie hier

Politik

Amerika steht vor "den folgenreichsten Wahlen im Leben aller heutigen Bürgerinnen und Bürger", und doch liegt eine seltsame Stille über der Gesellschaft, schreibt der Schriftsteller Richard Ford in der FAZ, durch die der jüngste Tumult nur wattig hervordringt. Sie sei "wie die Stille vor einer Schlacht", und es sei, "als säßen wir Amerikaner alle in Wartestellung da. Wir warten ab, wer gewinnt - das auf jeden Fall. Aber wir warten auch, voller Sorge, was als Nächstes mit uns passiert. Als läge im Stillen eine Schicht Eis unter der hektischen amerikanischen Flickendecke und hätte uns alle fest im Griff. Die meisten Wähler haben sowieso schon entschieden, wie sie abstimmen wollen, und achten kaum noch auf die Presse oder folgen dem Tagesgeschehen im Fernsehen. Corona hat, unvermeidlich, unser Zeitgefühl verändert und uns in eine lange, gespenstische Gegenwart versetzt."

Die bekannte saudische Regimekritikerin Madawi al-Rasheed hat im Londoner Exil eine Partei gegründet und fordert im Gespräch mit taz-Redakteur Jannis Hagmann eine Demokratisierung Saudi-Arabiens. An einen allmählichen Wandel glaubt sie nicht. Den Modernisierungsmaßnahmen des Prinzen Mohammed bin Salman (MBS) traut sie nicht über den Weg: Frauen dürfen inzwischen zwar Auto fahren, aber die Aktivistin, die das forderte, ist im Gefängnis. Wenn der Wandel kommt, so al-Rasheed, dann von den Frauen: "Die feministische Bewegung hat eine zentrale Kluft in der saudischen Gesellschaft überwunden. Sie ist weder eine regional oder tribal geprägte noch eine konfessionelle oder islamistische Opposition. Diese Aktivist*innen haben nationale Politik gemacht und Menschen aus unterschiedlichen Milieus mobilisiert, um politische und bürgerliche Rechte sowie Geschlechtergerechtigkeit einzufordern." Im Gespräch äußert sie sich übrigens auch kritisch über den ermordeten Jamal Khashoggi, der ein Mann des Systems gewesen sei, wenn auch abrünnig.

Am 18. Oktober endet das UN-Waffenembargo gegen den Iran. Was hat es gebracht? Nichts, meint der Remko Leemhuis, Direktor des American Jewish Committee (AJC) Berlin, der darin auch ein Scheitern der europäischen Nahostpolitik sieht. Denn das Auslaufen war Teil des Atomdeals, der auf die Reformer im Iran setzte. Doch Reformer im eigentlichen Sinne gebe es im Iran nicht: "Teheran verfolgt unter dem Schutz des Wiener Abkommens seine hegemonialen Ambitionen aggressiver und brutaler denn je und agiert auch innenpolitisch extrem gewaltsam gegen jegliche Form von Opposition. ... Das Letzte, woran die Mullahs Interesse haben, sind stabile, womöglich noch sich demokratisierende Staaten in der direkten Nachbarschaft. Mit dem Auslaufen des Waffenembargos ist davon auszugehen, dass Iran seine Milizen in der Region mit hochentwickelten Waffen ausrüsten und seine regionale Aggression weiter vorantreiben wird. Das sind schlechte Nachrichten für den Nahen Osten und die Voraussetzungen für noch mehr Blutvergießen."
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Gesellschaft

Die Reichen werde immer reicher - und machen alles kaputt, fürchtet Ilija Trojanow in seiner taz-Kolumne: "Wer viel mehr Geld hat, als er oder sie ausgeben kann, investiert meist in destruktive Industrien wie fossile Brennstoffe und Bergbau. Extremer Reichtum wird nicht 'verdient', sondern extrahiert - der Natur entrissen von unterbezahlten Arbeitern, gesichert durch Monopolmacht und politische Einflussnahme. Darüber sollten wir ein demokratisches Gespräch führen: Ab welcher Ziffer wird Raffen und Horten sozial unverträglich? 10 Millionen? 50 Millionen? 100 Millionen? In der Epoche eines drohenden ökologischen Zusammenbruchs sind derartige Exzesse buchstäblich tödlich."

Für den Soziologen und Rechtsextremismusexperten Wilhelm Heitmeyer gibt es ein Kontinuum von rechten Parolen zu terroristischer Gewalt (worüber er sicher in seinem neuesten Buch schreibt). Im Gespräch mit Sabine am Orde von der taz beschreibt er die Ereignisse von Chemnitz 2018 als Symbol dieser Verdichtung: "Weil in Chemnitz besonders deutlich wurde, wie die Grenzen verschwimmen. Dort waren zum ersten Mal all diese Gruppen, die im Eskalationskontinuum eine Rolle spielen, gemeinsam auf der Straße. Also von den sogenannten 'besorgten Bürgern' über die AfD, die gewalttätigen Neonazis vom Chemnitzer FC bis zu Leuten von 'Revolution Chemnitz', einer terroristischen Planungsgruppe."

Die Fahrradfahrer sind "die Schwächsten unter uns", versichert Edo Reents im Aufmacher des FAZ-Feuilletons: "Einmal benutzt der Radfahrer auf der nördlichen Neckar-Seite den auch für Fahrräder freigegebenen Gehsteig, als ihm ein Passant entgegenkommt, so dass er abbremst. Gebieterisch versperrt der Passant mit seinem Dackel den Weg. 'Sie dürfen hier nicht fahren!' - 'Und ob', sagt der Radfahrer, 'sehen Sie sich doch die Schilder an.' - 'Ich habe keine Lust, mich von Fahrradfahrern über den Haufen fahren zu lassen.' Der Radfahrer sagt, davon könne ja auch keine Rede sein; er habe nur seinerseits keine Lust, sich auf der schmalen Straße von Autofahrern zusammenfahren zu lassen."
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Ideen

In der NZZ wird der Autor Ulf Erdmann Ziegler ganz lyrisch, wenn er die Menschen betrachtet, deren Gesichter vom Schein des Handys beleuchtet werden, über das sie sich gerade beugen. "Das Phone ist ein digitales Feuer. Sein kühler Schimmer täuscht, es ist in Wirklichkeit wärmend, ein kleines Lagerfeuer, das nie ausgeht und völlig ungefährlich zu transportieren ist. Das blaue Licht bedeutet den Kontakt mit der Menschheit. Oder ist es nicht sogar so, dass es einen überhaupt erst zum Menschen macht? Der Hund ist da ganz anders, der will überhaupt kein Bild von sich selbst sehen. Ich sehe Menschen auf den Straßen, die beseelt oder sogar beglückt in ihr Phone schauen. Das ist interessant, wie Gespräche die Telefonierenden anspannen, die Textnachrichten sie aber entspannen. Da hatten die Kalifornier ihren Blaise Pascal wohl gut gelesen."
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Stichwörter: Pascal, Blaise

Geschichte

Das Bezirksamt Berlin-Tiergarten fordert den Abbau des Denkmals. Foto: Korea Verband, mehr hier.

In Berlin-Moabit wurde vom Künstlerpaar Kim Seo-Kyung und Kim Eun-Sung eine Skulptur aufgestellt, die an die koreanischen "Trostfrauen" erinnert, also an die Zwangsprostitution im Zweiten Weltkrieg. Die Statue protestiert auch gegen ein halbherziges Abkommen zwischen Tokio und Seoul, mit dem diese Geschichte unter den Teppich gekehrt werden soll - Aktivisten lösen damit in allen Ländern und jetzt auch in Berlin (wo das Bezirksamt die Statue verboten hat) Ärger aus. Regina Mühlhäuser und Insa Eschebach beleuchten bei geschichtedergegenwart.ch den Hintergrund: "Tatsächlich behandelt Japan das Thema als bilaterales Problem mit Südkorea, dabei kommen die Opfer aus allen japanisch besetzten Ländern. Und genau das ist auch die Stärke der Bronzefigur: Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die historische Kontinuität sexueller Gewalt gegen Frauen in bewaffneten Konflikten. Sie erhebt Einspruch gegen Vergewaltigung und sexuelle Versklavung immer und überall - nicht aggressiv, nicht mit erhobener Faust oder einer Fahne, einer Flamme oder einer Waffe in der Hand. Sie erhebt Einspruch durch Präsenz und Beharrlichkeit - und eben darin liegt ihre Kraft."

Sylvie Kerviel erzählt in Le Monde, wie in Nantes das kulturelle Highlight des Jahres, eine große Ausstellung über Dschingis Khan abgesagt wurde. Die Chinesen, mit denen das Musée d'histoire de Nantes zusammenarbeitete - auch wegen der Leihgaben - stellten am Ende derart zensorische Forderungen, dass es nicht mehr ging. Dabei waren die Ausstellungsmacher schon bereit, den Namen Dschingis Khan auf dem Ausstellungsplakat nur in die Unterzeile zu nehmen. "Woraufhin China sein Veto einlegt, bevor es eine Prüfung aller Dokumente - Karten, Texte, Katalog - verlangte. Das Büro für nationales Erbe in Peking verfasste daraufhin eine neue Synopse, 'die Elemente einer tendenziösen Neufassung enthält und darauf abzielt, die mongolische Geschichte und Kultur zugunsten einer neuen nationalen Erzählung vollständig zu eliminieren', erklärt  Bertrand Guillet, der Direktor des Museums. Die Mongolei wird 'zur Steppe Nordchinas'."
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