9punkt - Die Debattenrundschau

Ein nicht aufzulösender Konflikt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2020. Donald Trump strickt an einer Dolchstoßlegende, warnt Timothy Snyder im Boston Globe, und je länger er die Anerkennung der Niederlage verweigert, desto mehr wird sie sich auch darüber hinaus verfestigen. Die New York Times sammelt Historikerstimmen zur historisch einmaligen Konstellation in der amerikanischen Politik. Die Parole der DemonstrantInnen gegen die polnischen Abtreibungsgesetze ist einfach, aber wirksam: "Jebać PiS!" Die taz erklärt, warum das Vulgäre daran so gut ist. Im Tagesspiegel stellt Peter Stolz vom Verband der Geschichtslehrer den Politikerinnen die Frage, was Religionsfreiheit an Schulen eigentlich bedeutet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.11.2020 finden Sie hier

Europa

Die Parole der Demonstranten gegen die polnischen Abtreibungsgesetze ist einfach, aber wirksam, schreibt Mateusz Kapustka in einem kleinen Essay zu den Protesten in der taz. Sie lautet: "Jebać PiS!", deutsch: Fuck PiS, und sie zielt auf mehr als die Abtreibungsgesetze, nämlich das ganze klerikalpolitische Establishment: "Paradoxerweise wird durch die Verwendung von Vulgarismen das erhabene Mauerwerk der in sakralpolitische Hochtöne eingehüllten männlichen Autorität angegangen. Der Spruch 'Jebać PiS!' wurde schnell landesweit in tanzbare Techno-Beat-Adaptationen übersetzt, auf der Ukulele gespielt, in gestreamte Protestsongs eingearbeitet und sogar zur Begrüßungsformel umgeschmiedet. Somit wurde das Gewaltpotenzial der Vulgarität gebrochen. Der Spruch avancierte zu einem rhythmischen, in den eher humorlosen Coronazeiten sogar unterhaltsamen Ausdruck des Zorns im programmatisch gewaltlosen Protest."

Hier ein Video der Protestbewegung mit musikalischer Umsetzung der Parole:



Ahmad Mansour kritisiert in der taz die Deutsche Islamkonferenz (DIK), wo nun eine deutsche Imam-Ausbildung beschlossen wurde (mit dem Schönheitsfehler, dass sie von der Ditib nicht anerkannt wird). Aber die Politiker sind auf die Zusammenarbeit mit dem Islamverbänden fixiert, so Mansour: "Das sture Abarbeiten der Tagesordnung von Seiten der Deutschen Islamkonferenz (DIK) geht an der Realität vorbei. Es fehlte hier völlig der Bezug zu aktuellen Themen, wie dem Verhältnis der Muslime zur Meinungsfreiheit und zur Radikalisierung. Hier hätte Solidarität mit Frankreich und Österreich gezeigt werden müssen. Das blieb aus."

Hamed Abdel-Samad hat seine Mitarbeit an der Islamkonferenz bekanntlich eingestellt (unser Resümee) und geschrieben, dass Seehofer nun ganz allein verantwortlich sei. "Das ist für den Innenminister, der um eine Haltung in der Islam-Debatte ringt, derzeit eine zu große Aufgabe", kommentiert Thomas Thiel in der FAZ: "Seinen im September gegründeten 'Expertenrat Muslimfeindlichkeit' hat der Minister unter anderem mit Vertretern besetzt, die für die Kooperation mit erzkonservativen Vereinen bekannt sind, die Verfassungsschützer teilweise dem legalistischen Extremismus zurechnen. Integrationserfolge sind davon nicht zu erwarten." Hier der Link zum "Expertenrat".

Der Staat wertet die Islamverbände auf, um seinen Lieben Frieden zu haben. Sie werden so auch schon partiel staatlich finanziert. Hamed- Abdel-Samad erklärt Im Interview mit Marcel Leubecher von der Welt, warum er bei der Islamkonferenz nicht mehr mitmacht und warum die Islamverbände selbst dort problematisch sind, wo sie kooperieren: "Natürlich bieten die Verbände Deradikalisierungsprogramme an und bekommen dafür Geld vom Staat. Dort werden allerdings dieselben radikalen islamischen Muster vermittelt, die man eigentlich verhindern will. Beispielsweise wird den Teilnehmern gesagt: Ihr schmort in der Hölle, wenn ihr Menschen tötet. Ich kann mit muslimischem Radikalismus nicht deradikalisieren."
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Gesellschaft

"An vielen Berliner Schulen gibt es ein massives Problem mit islamistischem und auch mit antisemitischem Denken", konstatiert Peter Stolz, Vorsitzender des Landesverbandes Berlin der GeschichtslehrerInnen Deutschlands im Tagesspiegel und fordert: "Alle politischen Institutionen müssen für sich die Frage klären, was die Religionsfreiheit nach Artikel 4 des Grundgesetzes in der Schule konkret bedeutet. Beispielsweise reklamieren muslimische Schülerinnen und Schüler im Unterricht für sich diesen Artikel und fühlen sich damit nicht nur subjektiv im Recht, sondern beziehen sich auf einen sehr weitgehenden normativen Aspekt des Grundgesetzes: Die freie Ausübung des persönlichen Glaubens. Bedeutet dies im weitestgehenden Sinn, dass religiöse Bekenntnisse und deshalb auch Wünsche nach Halal und Haram in der Berliner Schule nachzukommen ist, dann entsteht ein nicht aufzulösender Konflikt mit anderen normativen Prinzipien des Grundgesetzes (Art. 1- 20)?  Oder bedeutet es als 'härteste' Gegen-Variante, dass unter Religionsfreiheit die weitestgehend säkularisierte Form der christlichen Bekenntnisse und des Judentums gemeint ist?"

Vor einigen Tagen zitierte FAZ-Redakteur Thomas Thiel die Ergebnisse einer Studie der Sozialwissenschaftler Matthias Revers und Richard Traunmüller an der Frankfurter Uni zum Thema Meinungsfreiheit an deutschen Hochschulen, die in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie erschien und derzufolge ein Drittel bis die Hälfte der Befragten dagegen seien, "Redner mit abweichenden Meinungen zu den am meisten umstrittenen Themen Islam, Geschlecht und Zuwanderung an der Hochschule zu dulden". Noch höher sei "der Anteil derer, die solchen Personen keine Lehrbefugnis geben würden, wiederum ein Drittel will ihre Bücher aus den Bibliotheken verbannen."

Die Studie ist allerdings keineswegs repräsentativ, wirft Deniz Yücel in der Welt ein: "Ihre Ergebnisse klingen nicht mehr halb so alarmierend, wenn man betrachtet, was da genau abgefragt wurde: Soll jemand an der Universität sprechen, lehren oder mit Büchern in der Universitätsbibliothek vertreten sein, der a) 'Glaubt, dass der Islam mit dem westlichen Lebensstil unvereinbar ist'; b) 'Denkt, dass es biologische Unterschiede in den Begabungen von Frauen und Männern gibt'; c) 'Jede Form von Einwanderung ablehnt'; d) 'Homosexualität für unmoralisch und gefährlich hält'. Mindestens zwei der abgefragten Ansichten sind keine 'Abweichungen von der linken Orthodoxie', wie die Autoren schreiben, sondern extremistische Auffassungen."
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Kulturpolitik

In Jörg Häntzschels (SZ) Porträt der Ethnologin Carola Lenz, kommt die künftige Präsidentin des Goethe-Instituts auch darauf zu sprechen, wie sie das Institut neu positionieren will. Von einem 'Dialog auf Augenhöhe' vor allem mit den Ländern außerhalb Europas hält sie nichts, sie findet den Begriff "paternalistisch. Ob es sich tatsächlich um einen Dialog auf Augenhöhe handelt, ist nicht an uns deutschen Kulturmittlern zu entscheiden.'"
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Stichwörter: Lenz, Carola, Goethe-Institut

Politik

Sehr viel retweetet wird eine Warnung Timothy Snyders im Boston Globe: Trump strickt durch seine Weigerung zu gehen an einer Dolchstoßlegende, die sogar bleiben wird, falls er irgendwann doch seine Niederlage anerkennt: "Trump zu unterschätzen ist ein Fehler, der nicht immerzu wiederholt werden sollte. Er geht nicht weg, wenn man über ihn lacht. Wäre es so, wäre er schon vor Jahrzehnten verschwunden. Auch alte Normen, wie sich Präsidenten verhalten sollten, bewirken nicht, dass er geht. Er ist ein Schauspieler, und er hält an seinem Text fest: Es war alles Betrug, und er hat 'mit Abstand' gewonnen. Er sei nie geschlagen worden, ist die Story. Er ist Opfer einer Verschwörung. Diese Dolchstoßlegende könnte zu einem permanenten Bestandteil amerikanischer Politik werden, so lange Trump ein Megafon hat, sei es Fox oder RT (früher Russia Today) oder, auch wenn Demokraten das undenkbar finden, solange er als ungewählter Präsident weiter regiert."

Thomas B. Edsall hat für die New York Times Stimmen von Historikern und Rechtsprofessoren eingeholt, um die historische Einmaligkeit der nicht anerkannten Niederlage in Präsidentschaftswahlen zu kommentieren. Bei der Suche nach Parallelen gehen sie zurück bis ins Jahr 1800. "Während viele der Gelehrten, die ich befragte, Trumps Aktionen als vorhersehbar beschrieben, waren sie ernsthaft besorgt über die Unterstützung für Trump durch republikanische Amtsinhaber - oder über ihr Schweigen. Bisher haben nur fünf von 53 republikanischen Senatoren öffentlich nahegelegt, dass Trump einen Übergang zu Biden ermöglicht; keiner von ihnen ist in der Parteiführung."

Aber "trotz aller seiner Intrigen, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Trump einen Weg findet, an der Macht zu bleiben oder einen Coup zu inszenieren, beteuert  Sam Levine im Guardian.

Die letzten demokratisch gesinnten Abgeordneten des Hongkonger Parlaments sind zurückgetreten, nachdem vier von ihnen das politische Mandat von Peking aberkannt worden war, berichtet taz-Korrespondent Fabian Kretschmer. Die Gleichschaltung ist damit so gut wie vollzogen. Angefangen hatte es letztes Jahr mit dem Gesetz zum "Schutz der nationalen Sicherheit": "Seitdem hat sich das politische Klima in der Finanzmetropole fundamental gewandelt: Demonstrierten letzten Sommer noch mehr als eine Million Menschen gegen Pekings Einflussnahme, liegt Hongkongs Protestbewegung nun im Sterben. Aktivisten wurden festgenommen, Bibliotheken von pekingkritischen Büchern gesäubert. Sympathisanten der Demokratiebewegung haben politische Postings aus ihren Social-Media-Accounts entfernt, Tausende Asyl in Drittländern gesucht."

Vier der derzeit weltweit getesteten Impfstoffe gegen das Corona-Virus stammen aus China, weiß Lea Deuber in der SZ. Die chinesische Regierung hat "hat für die Entwicklung alle ethischen Grundregeln außer Kraft gesetzt. Hunderttausende Menschen sind mutmaßlich bereits vor der ordnungsgemäßen Zulassung geimpft worden. Kritik am Vorgehen und Berichte über Rückschläge in Testphasen lässt die Regierung zensieren." Während chinesische Firmen in den meisten Industrienationen keine Chance haben werden, ist die Abhängigkeit für Staaten in Afrika, dem Nahen Osten und Asien groß, so Deuber weiter: "Eine Milliarde Dollar haben südamerikanische und karibische Staaten bereits von Peking erhalten, um den Impfstoff von China zu kaufen. Mexiko hat für 35 Millionen Dosen bezahlt. Brasiliens Gesundheitsminister übt sich bisweilen im Kotau, um Zweifel an einem chinesischen Impfstoff zu zerstreuen. In Asien hat sich Peking das Interesse von mehr als einem halben Dutzend Staaten gesichert."

Weiteres: In der Welt schickt Daniel Böhm eine große Reportage aus den vergangenen Wochen in Bergkarabach: "Bergkarabach wirkt wie eine Bergfeste, bewacht und bewohnt von Männern, die ihre Heimat bis zum Ende verteidigen werden. Es ist eine archaische Welt. Das passt zur Natur dieses Krieges, der ja ebenfalls wie aus der Zeit gefallen wirkt. Zwei reguläre Armeen bekämpfen sich in einem nahezu menschenleeren Terrain, wo gibt es so etwas heutzutage noch? Es ist ein Soldatenkrieg, voller Wehrpflichtiger und Freiwilliger, mit Schützengräben, die aussehen wie im Ersten Weltkrieg."
Archiv: Politik