9punkt - Die Debattenrundschau

Das ist alles weder Kapitalismus noch Sozialismus

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.03.2021. Völlig erschöpft rettet sich das Regierungskomitee aus Ministerpräsidenten und Kanzlerin in eine verordnete Ostern-Totenstille. Wir brauchen einen linksradikalen Ansatz, um uns aus der Krise zu retten, verlangt Chrian Bangel in Zeit online. Deutschland ist seine eigene Karikatur, ächzt Ulf Poschardt in der Welt. Die SZ beleuchtet die neue Kapitalismuskritik in Corona-Zeiten. Unterdessen ist eins klar: Die Benin-Bronzen, äh also, werden meines Wissen ausgestellt, eventuell aber auch zurückgegeben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.03.2021 finden Sie hier

Europa

Völlig erschöpft und mutlos präsentierte das aktuelle informelle Regierungskomitee aus Ministerpräsidenten und der Kanzlerin in der Dienstagnacht ihre neuesten Corona-Maßnahmen. Gegen die Dynamik der "dritten Welle" beschlossen sie Totenstille an Ostern. Vor allem eine Partei erleidet einen drastischen Vertrauenssturz in der Bevölkerung, analysiert Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach in der FAZ, die CDU: "Das Vertrauen 'Die CDU kann Krise' ist erschüttert. Dieses Vertrauen hatte ihren Rückhalt in der Bevölkerung vor einem Jahr steil steigen lassen, und der Verlust dieses Vertrauens führt jetzt zu ihrem Absturz. Die Unionsparteien haben mit Abstand die größte Regierungserfahrung; wenn sie in einer solchen Krisensituation nach dem Eindruck der Bürger versagen, ist die Reaktion hart und unnachsichtig." Und die Werte? Die CDU liegt in ihrem Potenzial erstmals unter den Grünen, so Köcher.

Ob die CDU damit wieder Vertrauen gewänne? Christian Bangel macht auf Zeit online einen "linksradikalen" Vorschlag zur Coronakrisenbewältigung - für einige Wochen die Fabriken schließen: "Die Grundrechte, die Kinder, die Kultur, die mentale Gesundheit: All das muss im Angesicht der Pandemie zurückgestellt werden. Aber den Berufs- und Pendelverkehr einzuschränken und die Produktionsstätten zeitweise zu schließen, das gilt noch immer als linksradikal."

Ulf Poschardt sieht das Problem in der Welt ganz woanders: im Bürokratismus eines Staats, der sich selber lähmt: "Statt über das Impfen zu sprechen, sprechen die Mächtigen über Reisen nach Mallorca und das Schließen Supermärkte am Gründonnerstag. Noch schlimmer aber ist der kaputte Bürokratismus beim Impfen. Die Papierkriegsführung, das Erklärvideo: Das einst gut gemeinte Gesundheitssystem und die beamtokratische Verkomplizierung ins Planwirtschaftliche erscheinen mörderisch. Die ganze Welt staunt über den mangelnden Pragmatismus der Deutschen. Wir agieren wie eine Karikatur."

In der NZZ hofft der Europarechtler Matthias Herdegen, dass am Ende Klagen den geplanten Europäischen Wiederaufbaufonds aufhalten werden, der die EU in eine Schulden- und Transfergemeinschaft verwandeln würde, wie er meint: "Die Europäischen Verträge stehen - in ihrer derzeitigen Form - nicht nur der Schuldenfinanzierung entgegen, sondern auch der anstehenden Umverteilung durch die Europäische Union für einen bunten Strauß von Zwecken. Die vertragliche Beistandsklausel deckt nur die Unterstützung aus normalen Haushaltsmitteln in der Krise. Klimaschutz, Digitalisierung und andere wichtige Modernisierungsaufgaben bleiben in der Verantwortung der Mitgliedstaaten und obliegen gerade nicht einem europäischen Schatzamt. So verwischt das Wiederaufbauprogramm die Verantwortlichkeiten nicht nur auf der Finanzierungs-, sondern auch auf der Aufgabenseite. Dass sich die EU auch in anderen Zusammenhängen nicht als Verteilungs- und Beschaffungsinstanz empfiehlt, zeigt das europäische Versagen bei der Organisation von Impfstoff."
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Ideen

In der SZ bringt uns Andrian Kreye auf den Stand der Kapitalismuskritik in Britannien und den USA. Der Wirtschaftswissenschaftler Scott Galloway, selbst Unternehmer, brachte es kürzlich im Fernsehsender HBO auf den Punkt: "'Was die jungen Leute heute sehen, ist kein Kapitalismus. Wir haben auf dem Weg nach oben robusten Individualismus und auf dem Weg nach unten so ein Uns-geht-es-allen-zusammen-so-Ding.' Als Wissenschaftler lieferte er einen Beweis: 'Da gibt es fünf Luftfahrt-CEOs, von denen jeder 150 Millionen Dollar verdient und die den Cashflow ihrer Firma dafür benutzen, um Aktien zurückzukaufen, um ihre eigenen Auszahlungen aufzublähen. Und wenn die Kacke am Dampfen ist wegen Covid und sie kein Geld mehr haben, sitzen wir plötzlich alle im gleichen Boot. Wir haben Kapitalismus auf dem Weg nach oben und Sozialismus auf dem Weg nach unten.' Den Applaus aus dem Publikum bremst er mit einem barschen 'Ich bin noch nicht fertig!' und fährt fort: 'Das ist alles weder Kapitalismus noch Sozialismus. Das ist Vetternwirtschaft. Das ist die schlechteste aller Welten.'"
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Gesellschaft

Die Autorin Naïla Chikhi hat fünf Jahre danach ein Buch zur Kölner Silvesternacht vorgelegt. Im Gespräch mit Martin Bauer bei hpd.de blickt sie auf die seltsame Diskussion, die über die Ereignisse entbrannt war, zurück. Nach der Aufnahme von fast einer Million vor dem Krieg fliehenden Menschen (war) die politische Stimmung im Land sehr aufgeheizt. Die erschütternden massiven sexuellen Übergriffe nutzte das rechtspopulistische Lager, um seine fremdenfeindliche Propaganda zu säen. Und bedauerlicherweise war das linke Spektrum nicht im Stande, innezuhalten, die Fakten zu analysieren, um dann eine eigene Position zu erarbeiten und diese zu verteidigen. Die Politik der 'neuen Linken' scheint eine Politik der 'Reaktion auf rechte Positionen' zu sein. Mit anderen Worten: auch wenn die Populisten - zum Glück - bis jetzt nur eine laute Minderheit bilden, bestimmen sie das Spiel."
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Stichwörter: Chikhi, Naila

Internet

Entsetzt kommentiert Sebastian Grüner bei golem.de, dass Richard Stallman, der Pionier der Freien-Software-Bewegung, wieder in den Vorstand der Free Software Foundation (FSF)  eintritt. Stallman hatte Opfer von Jeff Epstein denunziert, um sich mit seinem Freund Marvin Minsky, der Epstein nahestand und dem Vergewaltigung vorgeworfen wurde, zu solidarisieren. Das schadet vor allem der Idee von Open Source, so Grüner. "Denn eines ist klar: In einer Welt von Gadgets und Smartphones, die hauptsächlich mit proprietärer Software laufen und in der freie Software inzwischen ihren Siegeszug als Open-Source-Software hauptsächlich in Serversystemen und Enterprise-Software vollzieht, braucht es eine von Endnutzern und Entwicklern getragene Organisation, die sich weiter für die ideale freie Software einsetzt."
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Überwachung

Die aktuelle Corona-Warn-App der Bundesregierung hat nichts Überliefernswertes zur Lösung der Coronakrise beigetragen, war aber etwa von Netzpolitik für ihre Dezentralität gelobt worden. Gegen die jetzt ins Gespräch gebrachte App "Luca", die vor allem die Kontaktverfolgung in Restaurants vereinfachen könnte, macht Chris Köver in Netzpolitik Datenschutzbedenken geltend. Die App könne "auch nachvollziehen, wo jemand in den vergangenen Tagen eingecheckt hat - vom Fitnessstudio bis zum politischen Mobilisierungstreffen - und dadurch Bewegungsprofile von einzelnen Nutzer:innen erstellen. Diese Funktion wäre vor allem für Strafverfolgungsbehörden interessant. In der Vergangenheit hatte die Polizei für Ermittlungen bereits mehrfach auf die Papiergästelisten von Restaurants zurückgegriffen."
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Kulturpolitik

Gestern meldete die SZ, das das Humboldt-Forum die Benin-Bronzen an Nigeria zurückgibt (unser Resümee). Heute klingt das in einer Meldung der taz schon wieder ganz anders. Dort wird Hermann Parzinger von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zitiert: "Wir unterstützen das, etwa durch Leihgaben. Aber es muss auch zu Rückgaben kommen, da bin ich ganz sicher. Das muss auf Grundlage eines Dialogs geschehen, bei dem gemeinsam überlegt wird, welche Dinge sollten zurückkehren, welche hierbleiben."

Und im Berlin-Teil der taz schreiben Susanne Messmer und Memarnia, dass eine Rückgabe wahrscheinlicher werde. Aber völlige Klarheit scheint noch nicht zu herrschen: "Noch sind keine Rückgaben beschlossen, betont Humboldt-Intendant Dorgerloh. Dennoch würden 'die Konsequenzen für die Ausstellung' aktuell mit den 'Partnern in Nigeria' diskutiert. In Rücksprache mit Letzteren sei auch denkbar, vor Rückgabe der Originale mithilfe moderner Technik exakte Kopien von Bronzen für das Humboldt Forum anzufertigen. Auf jeden Fall würden die Konzepte für die bisher geplante Ausstellung der Bronzen weiter überarbeitet. Sicher sei, dass auch die Unrechtskontexte kolonialer Zeiten thematisiert werden." Auf Twitter habe es enthusiastische Reaktionen auf die Rückgabe-Medlung gegeben, berichten die beiden auch. "Endlich - der zivilgesellschaftliche Druck hat gewirkt! An den #BeninBronzen klebt Blut", schrieb etwa der Grünen-Abgeordenete Sebastian Walter. Das gilt um so mehr, als die Bronzen nicht selten die Köpfe getöteter Feinde darstellten, hatte die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin neulich in der FAZ dargelegt (unser Resümee). In der heutigen FAZ klingt die Meldung über die Benin-Bronzen eher noch unklarer: "Das Humboldt-Forum in Berlin will seine Präsentation der umstrittenen Benin-Bronzen im Hinblick auf mögliche Rückgaben überarbeiten. Die Ausstellung sei in der Abstimmung."

Ebenfalls für die taz hat Marco Zschieck das Konzept für die Ausstellung in der Potsdamer Garnisonkirche gelesen. Dies Wiederaufbauprojekt eines Symbols des Militarismus und der des "Tags von Potsdam" ist bekanntlich höchst umstritten (unsere Resümees). Das Konzept der Ausstellung beschönigt laut Zschieck nichts an dem Ort. Aber die Gegner sind trotzdem nicht zufrieden: "Mit dem neuen Konzept habe die Stiftung 'zumindest auf den ersten Blick neue Software installiert', erklärte die Bürgerinitiative 'Potsdam ohne Garnisonkirche'. 'Die Hardware bleibt leider die gleiche.' Die unveränderte Selbstverständlichkeit des Turmbaus lasse Zweifel an der Glaubwürdigkeit des 'Sinneswandels' aufkommen. Wenn die eigene Ausstellung ernstgenommen werde, müsse der Bau sofort abgebrochen werden: 'Jeder weitere Höhenmeter beim Turmbau macht die Konzeption unglaubwürdiger', heißt es von der Initiative."
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