9punkt - Die Debattenrundschau

Auftrag zur Kompromisssuche

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.09.2021. Wahl gelaufen, Ausgang unklar. "Die teils zweitbesten SpitzenkandidatInnen haben die Ergebnisse ihrer Parteien nicht im Alleingang versemmelt", resümiert die taz. Nun stehen gigantische Herausforderungen an, für die aber kein Geld zur Verfügung steht, so die FAZ. Die Grünen scheiterten, weil "Baerbock das Veränderungspathos mit einer Politik der Zumutungsfreiheit kombinierte", vermutet Zeit online. In geschichtedergegenwart.ch liest die Globalhistorikerin Marie Huber den aktuellen Tigray-Konfilkt auch als Folge internationaler Kulturpolitik. Auf Twitter tauscht A. Dirk Moser die Juden gegen die Muslime.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.09.2021 finden Sie hier

Europa

Die Wahl ist gelaufen. Das Gewimmel der Berichte und Kommentare ist für den Perlentaucher kaum widerzuspiegeln. Die SPD liegt leicht vor der Union, beide mit Ergebnissen, die vor zwanzig Jahren schockiert hätten. Dafür hat der Bundestag 740 Abgeordnete (Update: Laut vorläufigem Endergebnis nun doch "nur" 735 gegenüber 709 Mitgliedern zuvor). Die Wahl drückt den Willen der Wähler aus, einen Status quo zu erhalten, der offenbar nicht mehr haltbar ist. Ulrike Winkelmann fasst es in der taz so zusammen: "Die teils zweitbesten SpitzenkandidatInnen haben die Ergebnisse ihrer Parteien nicht im Alleingang versemmelt. Nur ist es den KandidatInnen in ganz unterschiedlichem Maße gelungen, die Schwächen und Angriffsflächen ihrer Parteien zu kaschieren."

Noch deprimierender diese Einschätzung Manfred Schäfers' aus dem Wirtschaftsteil der FAZ. Die Finanzlage des Bundes ist desolat. Noch lassen sich aufgrund der Corona-Ausnahmesituation Gelder aufnehmen. Dann gilt wieder die Schuldenbremse, für deren Abschaffung es keine Mehrheit gibt: "Für Neues, für die Verwirklichung der Wahlkampfversprechen ist nichts da: weder für weitere Klimaschutzinvestitionen noch für eine große Digitalisierungsoffensive, weder für die Speisung eines neuen Katastrophenfonds noch für den Wegfall des Rest-Solidaritätszuschlags."

Nicht ganz so düster, wenn auch realistisch sieht es Stefan Kornelius in der SZ: Mit dem Absturz der CDU ist die "politische Tektonik gebrochen, das Land verliert die letzte der sogenannten Volksparteien. Triumphales Gehabe verbietet sich angesichts der Verteilung der Wählergunst. Diese Wahl erteilt keinen Regierungsauftrag, sondern einen Auftrag zur Kompromisssuche."

Auf Zeit online denkt Robert Pausch darüber nach, warum die Grünen - gemessen an ihrem Ziel einer grünen Kanzlerschaft - so gescheitert sind. Einer der Gründe, meint er, war, "dass Baerbock das Veränderungspathos mit einer Politik der Zumutungsfreiheit kombinierte. Härten tauchten in ihrer Sprache nicht auf, Widersprüche wurden glattgebügelt und für jedes Problem gab es eine Lösung aus dem Setzkasten der 'guten Politik'." Bleibt die Frage: "Gibt es eine politische Sprache, die die Größe der Zukunftsprobleme benennt, aber keine Angst macht, sondern Hoffnung? Lässt sich der Raum des politisch Möglichen so erweitern, dass das Nötige darin Platz darin hat?"

Obwohl alle Wahlkämpfer so taten, als hänge die Klimawende allein von Deutschland ab, steht Deutschland im internationalen Vergleich bei diesem Thema sehr schlecht da - trotz riesiger Investitionen in alternative Energien, schreibt Amardeo Sarma bei den Salonkolumnisten: "Dass nicht viel mehr erreicht wurde, liegt an einem Geburtsfehler: Bei der Energiewende, die vor zwei Jahrzehnten auf den Weg gebracht wurde, als Greta noch nicht einmal lesen und schreiben lernte, ging es nicht um das Klima, sondern um den Ausstieg aus der Kernenergie. Die Senkung der Kohlendioxidemissionen war höchstens ein zweitrangiges Ziel. Deshalb hinkt Deutschland bei der Bewältigung der enormen Herausforderung der globalen Erwärmung hinter vielen anderen Ländern in Europa her. Der frühzeitige Ausstieg aus der Kernenergie hat das Erreichen der Treibhausgas-Neutralität um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, in die Zukunft verschoben."

Viel retweetet wird im übrigen die Statistik der Bundestagswahlen für Thüringen, wo die AfD mit 26,4 Prozent die stärkste Partei ist.

Paul Ingendaay besucht für die FAZ die litauische Stadt Kaunas, die Europäische Kulturhauptstadt des nächsten Jahres wird. Die Stadt war zwischen den Weltkriegen Hauptstadt des Landes geworden und rapide gewachsen: "Innerhalb kurzer Zeit entstanden ein Parlament, mehrere Theater und Universitäten. Am Ende lebten in Kaunas 140. 000 Menschen, davon mehr als 30. 000 Juden. Wenige Jahre später wurden 95 Prozent dieses Bevölkerungsteils ermordet. Es ist der düstere Teil dieser Geschichte, an den die Programmchefin Virginija Vitkienė erinnern will, an das Trauma des Holocausts, die litauische Beteiligung daran und an den Verlust einer multinationalen Gesellschaft aus Litauern, Polen, Russen, Deutschen und Juden."

Erstaunlich viele kommunistische Funktionäre konnten ihre Karrieren nach der Wende fortsetzen, schreibt in der NZZ Hubertus Knabe, der das auch an den einzelnen Ländern festmacht. "Eine Entkommunisierung, die mit der Entnazifizierung nach 1945 vergleichbar wäre, hat es - bis auf Tschechien - nirgendwo im ehemaligen Ostblock gegeben. Zu den Gründen dafür zählt, dass die kommunistischen Diktaturen keine unabhängige Zivilgesellschaft zuließen, aus der sich eine Gegenelite hätte rekrutieren können. ... Von internationalen Organisationen wie der Uno oder der EU gab es in dieser Frage ebenfalls keine Unterstützung. Die meisten ehemaligen Diktaturparteien wurden vielmehr schon nach kurzer Zeit in die Familie der europäischen Sozialdemokratie aufgenommen. Der neue Konservativismus in Osteuropa und die Skepsis gegenüber der EU haben auch mit dieser historischen Erfahrung beim Übergang von der Diktatur zur Demokratie zu tun." (Nun, man hat es sich dann ja leicht gemacht und die Orbans und Kaczyńskis in die Familie der europäischen Konservativen geholt.)
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Geschichte

Der Autor und Filmemacher Andreas Pflüger hat sich für die Welt nach Oberursel begeben. Dort lag das Camp King, in dem die US-Armee nach dem Krieg ausgewählte Nazi-Funktionäre verwöhnte. Besonders der spätere CIA-Chef Allan Dulles zeichnete sich hier aus: Er schützte unter anderen Reinhard Gehlen und den SS-General Karl Wolff vor dem Gefängnis. "Dulles fühlte sich als baldiger Leiter der OSS Mission for Germany in Biebrich bei Wiesbaden zur 'Operation Kronjuwelen' inspiriert. So nannte er die Suche nach 'guten Nazis', die für Schlüsselpositionen im neuen Deutschland infrage kamen. Gehlen passte da bestens hinein. Karl Wolff hätte in Nürnberg neben Kaltenbrunner auf der Anklagebank sitzen müssen. Doch er wurde von Dulles, der über den SS-Schlächter schrieb, dass dieser 'an das Gute glaube' und ihn 'seltsam an Goethe' erinnere, vor einer Anklage geschützt."

Die Globalhistorikerin Marie Huber erzählt bei geschichtedergegenwart.ch die faszinierende äthiopische Geschichte, vor deren Hintergrund für sie auch der aktuelle Tigray-Konflikt zu lesen ist. Äthiopien schildert sie als ein ethnisch heterogenes Gebilde, in dem sich aber eine Legende mythischen Ursprungs durchsetzte. Demnach soll der legendäre "König Menelik I. aus einer flüchtigen Verbindung der sagenumwobenen Königin von Saba mit König Salomo von Jerusalem hervorgegangen sein". Auf diese Legende bezogen sich Haile Selassie, aber auch die Rastafari, und sie diente zur Unterdrückung zahlreicher nicht christlicher Ethnien, so Huber. Hier kommt auch die internationale Kulturpolitik ins Spiel, die nur das christliche Erbe Äthiopiens ins Welterbestätten adelte. Die Unesco wird so für Huber so zu einer Agentur des westlichen Kolonialismus, denn die archäologische Sicherung dient zugleich der nationalistischen Legende: "Die Geschichte dieser wissenschaftlichen Praxis ist eng mit der Geschichte der imperialen Expansion europäischer Staaten, mit rassistischen und kolonialen Ideologien verbunden. Die dazugehörige Systematik beinhaltet, dass die Inventarisierung und die territoriale Kontrolle von Kulturerbe unter staatlicher Oberhoheit stattfinden. So wurde ein dauerhafter Validierungs- und Referenzrahmen für die staatliche Produktion einer nationalen Geschichte geschaffen, der in Netzwerken von wissenschaftlichen und anderen internationalen Akteuren und Organisationen verankert war."
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Ideen

Jürgen Habermas hatte im Philomag zum Historikerstreit 2.0 Stellung genommen, leider nicht online (mehr dazu hier). Darauf antwortet nun Dirk Moses in der Berliner Zeitung, aber ebenfalls nicht online. Moses ist recht dankbar, dass Habermas die Infragestellung der Singularität des Holocaust aus postkolonialer Warte offenbar nicht krumm nimmt. Auf Twitter fasst Moses seine Thesen in einem Thead nochmal in einfacher Sprache zusammen. Kolonialverbrechen und Holocaust sind für ihn zwei Seiten einer Medaille, im Diskurs darüber hat für ihn so etwas wie ein großer Austausch stattgefunden: "Nach dem Holocaust und der Erfindung der 'jüdisch-christlichen' Zivilisation wurde der Antisemitismus gegen Juden verboten und auf muslimische Migranten - Türken, später auch Araber - übertragen, die nun als seine Hauptquelle stigmatisiert wurden." Moses schreibt in einem Thread übrigens, dass sein Artikel ursprünglich von einer "koservativen deutschen Zeitung" in Auftrag gegeben worden sei, die ihn dann aber ablehnte, ebenso wie eine "süddeutsche Zeitung".
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Gesellschaft

Weiße Feministinnen anzugreifen, hilft der Sache der Frauen nicht, meint Sonia Sodha im Observer anlässlich von Rafia Zakarias neuem Buch "Against White Feminism". "Die antirassistische Linke ist enorm erfolgreich, wenn es darum geht, farbige Frauen, die Frauenfeindlichkeit in ihren Gemeinschaften anprangern, im Regen stehen zu lassen, aus Angst, kulturelle Empfindlichkeiten zu verletzen. Beispiele gibt es zuhauf: die Newsnight-Untersuchung, die aufdeckte, dass mehrere muslimische weibliche Ratsmitglieder von asiatischen Mitgliedern der Labour-Partei unter Druck gesetzt wurden, nicht zu kandidieren. Dies veranlasste das Muslim Women's Network dazu, eine Untersuchung der systemischen Frauenfeindlichkeit in der Partei zu fordern, die mit überwältigendem Schweigen beantwortet wurde ... Der Diskurs über weiße Privilegien macht dies eher noch unwahrscheinlicher, weil er die Angst vor kultureller Unsensibilität verstärkt."

Immer mehr Menschen sind gegen Corona geimpft, trotzdem fühlen sich viele nicht frei, wieder so unbefangen mit ihren Mitmenschen umzugehen wie früher. Warum ist das so, überlegt Werner Bartsch in der SZ. "Die Pandemie hat sich in den Hirnen festgesetzt. Bohrende Fragen im Hinterkopf, die immer das Restrisiko mitdenken, und sei es noch so gering. Was ist mit denen, die trotz Impfung das Virus unbemerkt in sich tragen und andere anstecken? Wurde zuletzt nicht von Impfdurchbrüchen berichtet? ... Die Impfung, die dem Virus keine oder allenfalls eine geringe Chance lässt, ist, sobald die milden Nebenwirkungen des Piks abgeklungen sind, nicht mehr zu spüren, die steigende Inzidenz und andere Kurven aus dem Schreckenskabinett der Epidemiologie schreien einen hingegen täglich in Signalfarben an."
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