Efeu - Die Kulturrundschau

Unwirklichkeit üben

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27.09.2021. Die FR lernt von Camille Pissarro im Kunstmuseum Basel, dass Schönheit aus der Freiheit rührt. Die FAZ erlebt mit Rubens Reniers' "Reuiem", wie sich Erinnerung in Bewegung und Poesie verwandelt. Außerdem beugt sie sich über die Klimabilanz klassischer Orchester. Die NZZ beobachtet, wie sich Kinder jugoslawischer Kriegsflüchtlinge literarisch an die Heimat der Eltern annähern.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.09.2021 finden Sie hier

Kunst

Camille Pissarro: Portrait de Félix Pissarro, 1881. Kunstmuseum Basel

Fast könnte man Camille Pissarros Bilder für schöne Malerei halten, meint Peter Iden in der FR, der in der großen Retrospektive im Kunstmuseum Basel jedoch sieht, dass dem Franzosen eher daran gelegen war, "Unwirklichkeit zu üben": "Schon in den Bildern, die um 1877 in Schilderungen der Natur Bauten von Menschenhand einbetten und mehr noch, zwanzig Jahre später in den Stadtansichten seiner letzten Jahre stützt die kompositorische Sicherheit Pissarros, vor allem sein perspektivischer Blick, der Sinn für den Übergang von Nähe in Ferne, das Wagnis des Eigenlebens der Farben. Es ist, als sollten sie diszipliniert werden zur Abbildung einer Realität, die sie mit der Umsetzung in ein Gefühl, eine Stimmung, inständig verweigern - aber zugleich auch behaupten. Der Eindruck der Schönheit der Bilder hat sehr zu tun mit diesem Ineinander von Struktur und Freiheit."

In der SZ bezweifelt Alexander Menden, dass sich Pablo Picasso so politisch lesen lasse, wie es das Kölner Museum Ludwig in seiner Schau "Der geteilte Picasso" (mehr hier)  nahelegt, auch wenn es durchaus Unterschiede in der Rezeption gergeben habe: "Ein Künstler, der sich so mühelos von Stil zu Stil bewegte, der sich Kommunist nannte, aber auch in der Limousine zu seinem Château in die Normandie chauffieren ließ, kann kaum je systemisch gefasst werden." In der SZ interviewt Thomas Balbierer die einstige Aktivistin Alice Hornung, die einst auf einem Friedenstreffen der Jugend Pablo Picasso traf.

Besprochen werden das Medienkunst-Festival New Now lässt über der Essener Zeche Zollverein (Monopol) und der Salon Burda in der ehemaligen Mädchenschule in Berlin (Tsp).
Archiv: Kunst

Bühne

Ruben Reniers' "Requiem" im Dok 11. Foto: Carlos Collado

Gegen die Geschichtslosigkeit des zeitgenössischen Tanzes empfiehlt Wiebke Hüster in der FAZ nachdrücklich Ruben Reniers' "Requiem. Mangongkal Holi" im Berliner Dock 11, das auf dem Grat zwischen Ritual und zeitgenössischem Tanz wandele, ohne ins Spirituelle zu verfallen: "Reniers ist in Indonesien geboren, aber in den Niederlanden aufgewachsen, und auf den Spuren der Rituale der Batak in Sumatra wandelt er mit diesem Stück. 'Mangongkal Holi' heißt das Ritual, bei dem etwa zehn Jahre nach dem Tod die Verwandten des Verstorbenen seine Knochen ausgraben und an einem neuen Ort bestatten. Dabei wird Reis geworfen, getanzt, es werden Gaben ausgetauscht, und es wird gemeinsam gegessen. So versichert man sich seiner Wurzeln, lebt im Einklang mit den Geistern, während sich in den Gaben deutlich der jeweilige soziale Status manifestiert. Reniers und dem Ensemble geht es um die poetischen und physischen Bedingungen des Erinnerns, der Verbindung mit den Toten, der Vergewisserung der eigenen Position in der Mitte - zwischen den eben Geborenen und den Verstorbenen."

Besprochen werden René Polleschs "J'accuse!" am Hamburger Schauspielhaus (ein Ereignis, versichert Stafan Forth in der Nachtkritik), Claus Peymanns Inszenierung von Eugène Ionescos absurdem Stück "Der König stirbt" am Theater in der Josefstadt in Wien (nach dem Margarete Affenzeller im Standard dem Regisseur Wien als neues künstlerisches Zuhause empfiehlt, Nachtkritik), Stefan Bachmanns Inszenierung von Rainald Goetz' 9/11-Stück "Reich des Todes" in Düsseldorf (FAZ), Händels Oper "Amadigi" im Bockenheimer Depot (FR) und das Corona-Stück "Wuhan - Die Verwandlung" am Staatstheater Wiesbaden (FR).
Archiv: Bühne

Literatur

Jörg Plath liest für die NZZ die Romane der Kinder jugoslawischer Kriegsflüchtlinge, unter anderem vom Aleksandar Krsmanovic und Sasa Stanisic. Oft geht es darin um Reisen ins Land der Eltern. "Die vielen Toten der Kriege sorgten damals für Entfremdung, ja Abwehr von Menschen und Staat. Der individuelle Tod erlaubt nun eine erneute Annäherung. Allerdings bringen die Autorinnen und Autoren der Bücher nicht viel Interesse für die tragischen Anlässe ihrer Reisen auf. ... Verstorbene und Verschwundene sind der Grund der Reisen. Was während der Reise geschieht, ist jedoch wichtiger. Denn nicht die - salopp gesagt - frischen Toten stehen im Mittelpunkt, sondern die älteren. Ihre Macht scheint unvermindert." Denn "die Volksrepublik mag den Staatentod gestorben sein. Aber die Kriege, in denen sie unterging, sind in der Imagination überaus lebendig."

Weitere Artikel: Für einen großen Longread im Standard hat Gabriel Proedl den Schriftsteller Édouard Louis bei Theaterproben, Reisen und Demos begleitet. In der Zeit porträtiert Juliane Liebert die Schriftstellerin Sasha Marianna Salzmann. Viele Verlage sperren sich dagegen, dass ihr Neuerscheinungen zeitnah in den Digitalangeboten der Öffentlichen Bibliotheken landen, hat Thomas Balbierer für die SZ herausgefunden. Die FAZ bringt ein Dramolett von Daniel Kehlmann über die Romantik.

Besprochen werden Sally Rooneys "Schöne Welt, wo bist du" (Freitag), Ulf Erdmann Zieglers "Eine andere Epoche" (taz), Bruno Duhamels Comic "Niemals" (Tagesspiegel), Johanna Adorjáns "Ciao" (Standard), die Wiederveröffentlichung von Theodor Wolffs "Die Schwimmerin" von 1937 (Dlf Kultur) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Amanda Gormans und Loren Longs "Change" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ralph Dutli über Gottfried Kellers "Lebendig begraben":

"Wie poltert es! - Abscheuliches Geroll
Von Schutt und Erde, modernden Gebeinen!
..."
Archiv: Literatur

Film

Peter Körte hat sich für die FAS mit Dietrich Brüggemann getroffen, dessen neue Komödie "Nö" kommenden Donnerstag in die Kinos kommt. Urs Bühler berichtet in der NZZ von Sharon Stones Besuch beim Zürcher Filmfestival. Bert Rebhandl liefert im Standard James-Bond-Hintergrundwissen.

Besprochen werden Philipp Stölzls Neuverfilmung der "Schachnovelle" (Jungle World, mehr dazu hier), Maria Speths Dokumentarfilm "Herr Bachmann und seine Klasse" (Zeit, mehr dazu hier) und Alan Taylors "Sopranos"-Kinoprequel "The Many Saints of Newark" (Welt).
Archiv: Film

Musik

Inwieweit lassen sich Orchester möglichst klimaneutral betreiben? Leon Scherfig hat sich für die FAZ erkundigt, unter anderem bei dem Zusammenschluss "Orchester des Wandels", der Projekte in Gebieten unterstützt, wo für Instrumente Bäume gerodet werden. Die Reisen von Orchestern nehmen im übrigen einen erstaunlich niedrigen Anteil an den Emissionen ein: "Mehr als 64 Prozent sind hingegen auf Konzertsäle und die Anreise der Besucher zurückzuführen. ... Die Non-Profit-Umweltagentur Julie's Bicycle legte zum Beispiel in Großbritannien gemeinsam mit der Association of British Orchestra (ABO) schon im Jahr 2010 eine Studie vor, in der sie auflistete, wo Orchester am besten CO2-Emission einsparen können. Der Leitfaden gibt elaborierte Ratschläge: Wärmesensoren in Sälen, die messen, welche Plätze überhaupt besetzt sind und wo also geheizt werden muss; Bewegungssensoren in Umkleiden und Badezimmern, um den Stromverbrauch für Licht zu minimieren; Gästetickets für den öffentlichen Nahverkehr, die schon in den Buchungsprozess der Konzertkarten eingebunden sind - die Liste lässt sich noch mit diversen Hinweisen zur Lichttechnik im Saal, Isolation der Gebäude und Reisearten der Orchestermusiker erweitern."

Weitere Artikel: Jan Paersch spricht für die taz mit Esther Weickel, Leiterin der Leipziger Jazztage, deren Geschichte insbesondere in der DDR Robert Mießner beleuchtet. Alte, weiße Männer bestimmen die Albumcharts, muss Nadine Lange im Tagesspiegel entgeistert feststellen. Max Tholl wirft für den Tagesspiegel einen Blick ins Programm des Berliner Atonal-Festivals. Harry Nutt (FR) und Edo Reents (FAZ) gratulieren Freddy Quinn zum 90. Geburtstag. Wolfgang Sandner schreibt in der FAZ zum Tod des Saxophonisten Pee Wee Ellis.

Besprochen werden das Einweihungskonzert für die neue Orgel der Zürcher Tonhalle (NZZ), Helene Hegemanns Buch über Patti Smith (FAS) und das Comebackalbum "Signs of Life" des Folkmusikers Foy Vance nach einer langen, drogenbedingten Auszeit (SZ). Wir hören rein:

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