9punkt - Die Debattenrundschau

Bereit zur Selbstverteidigung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.11.2021. Die taz spricht mit zwei Repräsentantinnen von Memorial, die trotz der geplanten Auflösung der Organisation keineswegs kampfesmüde wirken. Die SZ fürchtet, dass die Parteistiftung der AfD zu einer Stärkung der "Neuen Rechten" auch an Hochschulen führen könnte. "Kindischer Trotz als 'Freiheit' - so tief sind Teile selbst des politischen Liberalismus gesunken", schreibt Gustav Seibt in der SZ zur Diskussion über Impfpflicht. In der NZZ hofft Robert Badinter, dass selbst in den USA die Todesstrafe abgeschafft wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.11.2021 finden Sie hier

Europa

Die Menschenrechtsorganisation Memorial wurde von Wladimir Putin erst zum "ausländischen Agenten" erklärt und soll nun aufgelöst werden (unser Resümee). Lena Zhemkova und Swetlana Gannuschkina von Memorial äußern sich im Interview mit Bernhard Clasen von der taz kämpferisch. Gannuschkina wird sogar recht handfest: "Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit mit der Polizei. Wir müssen sie vorab informieren, wenn wir die Befürchtung haben, dass man eine unserer Veranstaltungen mit Gewalt stören will. Da wir wissen, dass die Polizei häufig nicht bereit ist, uns zu schützen, müssen wir aber auch bereit zur Selbstverteidigung sein. Das bedeutet: Wenn wir mit Gewalt angegriffen werden, müssen wir uns auch mit physischer Gewalt verteidigen dürfen. Wir müssen Gruppen sportlicher junger Männer haben, die bereit sind, unsere Versammlungsfreiheit zu verteidigen und Angreifer mit körperlicher Gewalt des Saales zu verweisen."

Inna Hartwich erklärt in einem taz-Kommentar den Kontext dieser klaren Aussage: "Die NGO kämpft gegen diffamierende Beiträge im Staatsfernsehen, setzt sich für ihre Vertreter*innen in den Regionen ein, die in absurden Prozessen vorgeführt werden und in Straflager kommen. Erst vor wenigen Wochen hatten vermummte Angreifer eine Filmvorführung von Memorial in Moskau gestört. Die angerückte Polizei setzte aber nicht den randalierenden Mob fest, sondern die Memorial-Mitarbeiter*innen - und verschloss die Eingangstür von außen mit Handschellen. Ein finsteres Symbol."

Auch das russische "LGBT Network" ist zum ausländischen Agenten erklärt worden, berichtet  Adrian Beck bei hpd.de. Das Netzwerk hat  grauenvolle Staatsverbrechen gegen Homosexuelle in Tschetschenien aufgedeckt und Verfolgten geholfen. In Polen wird unterdessen ein Anti-LGBTQI-Gesetz diskutiert, "welches die ultrakonservative katholische Stiftung 'Leben und Familie' eingebracht hatte. Das treffenderweise 'Stop LGBT' genannte Gesetz würde Demonstationen für die Rechte homosexueller und transgeschlechtlicher Personen quasi vollständig verbieten. Krysztof Kasprzak, Co-Autor des Entwurfs, verglich bei der Parlamentsdiskussion die LGBTQI-Bewegung mit der NSDAP der frühen 1930er Jahre und deutete unverholen angebliche Parallelen zwischen friedlichen Demonstrationen für Menschenrechte und den Verbrechen der SA an."

Die AfD will Millionen für ihre Desiderius-Erasmus-Stiftung beantragen, die Erika Steinbach aufbauen soll. Verweigern kann man ihr das nach dem Gesetz wohl nicht, lernen Markus Balser und Jens Schneider, die Steinbach für die Seite 3 der SZ getroffen haben. "Die anderen Parteien hätten vorbereitet sein können. Dazu reichte es, der AfD und ihren Juristen zuzuhören. Für die ist die Rechtslage eindeutig. Anspruch haben 'alle dauerhaften, ins Gewicht fallenden politischen Grundströmungen', dazu zählen sie, wenn eine Partei wiederholt in den Bundestag eingezogen ist. So wurde bei der Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen verfahren und auch bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung der Linken. ... Mit der Stiftung könnte die neue Rechte 'flächendeckend' an deutschen Hochschulen Fuß fassen, warnt [der Geschäftsführer der Otto-Brenner-Stiftung] Jupp Legrand. Genau solche Hoffnungen sind auch aus den Büros von Bundestagsabgeordneten zu hören. Da träumt man von einem 'politischen Hinterland', das manch jungen und alten Rechten den Lebensunterhalt sichern könnte, auf Staatskosten."

Außerdem: in der FAZ führ Reiner Burger ein Gespräch mit dem Autor Georg Bönisch, der neues Material zu Stasi-Aktivitäten im Umfeld der RAF und der Schleyer-Entführung gefunden hat.
Archiv: Europa

Gesellschaft

Eine Impfpflicht ist legitim, schreibt Felix Lee in der taz: "Es war ein Fehler, eine Impfpflicht von vornherein auszuschließen. Abgesehen davon, dass es nun umso schwerer fällt, von diesem Versprechen abzurücken, hat das bei vielen Leuten überhaupt erst den Eindruck erweckt, Impfen könnte etwas Schlechtes sein. Die Politik suggerierte damit, dass Vakzine kein Heilmittel aus dieser Pandemie sind, sondern eine Gefahr."

Nein, die Lage hat sich nicht verändert, sie war seit dem Sommer klar und wurde seit Wochen vorausgesagt, bescheinigt ein entnervter Gustav Seibt in der SZ all den Politikern, die jetzt zu erklären versuchen, warum sie nichts getan haben, den Wiederanstieg der Corona-Infektionen aufzuhalten. Seibt kann auch das Gerede von der "Spaltung der Gesellschaft" nicht mehr hören, die gehe von den Impfverweigerern aus und niemandem sonst. Für Seibt ist der Widerstand gegen die Impfungen vor allem eine Krise des Liberalismus: "'Freiheit' ist hier auf die Schrumpfform des 'Ich will' oder 'Ich will nicht' reduziert, es ist der abgemagerte Schatten von 'Selbstverwirklichung'. Vor ein paar Tagen twitterte ein junger Liberaler, er habe eigentlich vorgehabt, sich ein drittes Mal impfen zu lassen, doch seit so viel Druck aufgebaut werde, müsse er sich das noch einmal überlegen. Kindischer Trotz als 'Freiheit' - so tief sind Teile selbst des politischen Liberalismus gesunken."

Die Frage, warum keine neue Maßnahmen gegen Corona ergriffen wurden, treibt auf Zeit online auch den Soziologen Armin Nassehi um. Nachdem er die Frage ausgiebig durchleuchtet hat, kommt er zu dem Schluss, dass es offenbar "gerade in Deutschland doch historische Vorbedingungen gibt, die gezielte Führung, die Durchsetzung von Standards und die Autorität von Expertenkulturen verunmöglichen. Das hat auch etwas mit der geradezu extremen Form der Gewaltenteilung in unserem föderalen System zu tun, das die Möglichkeit direktiver Einflussnahme schon strukturell auf ein Minimum begrenzt. Die historische Bedingung dieser strukturellen Form ist bekannt. Und es hat mit jener Form elitenkritischer, naturromantischer und auch trotziger Grundüberzeugung zu tun, sich von Eliten nichts sagen zu lassen. Das alte Vorurteil, wir Deutschen seien obrigkeitshörig, hat sich mangels Obrigkeit eigentlich erledigt. In seiner Abwehr aber lebt es fort, als populistischer Reflex gegen alle Eliten."

Die "Anlaufstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen" (Website) in Berlin hat eine Studie zu Diskriminierung muslimischer Schüler und Schülerinnen veröffentlicht. Leiterin Aliyeh Yegane Arani erzählt im Interview mit Susanne Memarnia von der taz, dass sie für diese Studie besonders Jugendliche befragt habe, "die wir über die Moscheegemeinden und die muslimische Jugendarbeit angesprochen haben", weil "weil Menschen, die ihre Religion praktizieren wollen, eine besonders vulnerable Gruppe sind". Für sie steht fest, dass es an Berliner Schulen sehr wohl Diskriminierungen gibt, "die im Kontext mit dem Kopftuch stehen oder sich auf die islamische Religion beziehen. Zu uns kommen auch SchülerInnen und Eltern wegen anderer Diskriminierungen. Aber wir haben den Eindruck, dass das Thema Islam in den Schulen zum Teil sehr eskalierend und konfrontativ angegangen wird und es daher sehr schwer ist, die Betroffenen bei diesem Thema optimal zu unterstützen und dagegen vorzugehen." In Berlin-Neukölln gibt es auch eine "Anlauf- und Registerstelle konfrontative Religionsbekundungen". Hier geht es um Fälle, wo SchülerInnen etwa unter Druck gesetzt werden, den Ramadan einzuhalten. Problematisch, findet Aran: "Wie können Lehrkräfte auf Basis so eines schwammigen und stigmatisierenden Begriffs Daten erheben von SchülerInnen - und die sogar an Außenstehende weitergeben?"

Im Interview mit der SZ spricht der Journalist und neue PEN-Präsident Deniz Yücel über die Bedrohung der Meinungsfreiheit, die nicht immer nur von rechts kommt. Beispiel Jasmina Kuhnke, die zum Boykott der Buchmesse aufgefordert hatte, weil dort rechte Verlage ausstellen: "Solange diese Verlage mit ihren Publikationen oder ihrem Verhalten nicht gegen Recht und Gesetz verstoßen", so Yücel, "muss man auch das ertragen. Aus Prinzip, weil die sich über diese Aufregung und Gratis-Aufmerksamkeit freuen. Und weil man so Beispiele schafft. Der Nächste beschwert sich dann über linke Verlage oder die Titanic, der Spanier über die Katalanen oder umgekehrt. Und dann kommt der Türke und fordert: 'Kurden raus!'"

In Frankreich wurde vor vierzig Jahren, nach dem Amtsantritt François Mitterrands die Todesstrafe abgeschafft. Frankreich war das letzte westeuropäische Land, das bis dahin an der Guillotine festgehalten hatte. Maßgeblich zuständig war Mitterrands Justizminister Robert Badinter, mit dem Lucien Scherrer und Claudia Mäder in der NZZ ein episches Gespräch führen. Die Todesstrafe ist weltweit auf dem Rückzug, außer in blutigen Regimes wie dem Iran und China, freut er sich. Und auch in den USA sieht er Hoffnung: "Die Todesstrafe entehrt diese alte Demokratie mehr, als dass sie sie vor blutigen Verbrechen schützen würde. Doch dieses große Land ist eine föderale Republik, die Strafgesetzgebung hängt im Wesentlichen von den Gesetzen der jeweiligen Gliedstaaten ab. Und die Zahl der amerikanischen Staaten, die die Todesstrafe abschaffen, wird laufend größer. Virginia hat die Todesstrafe im Februar 2021 aufgegeben, das war eine Premiere für einen Südstaat."
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