9punkt - Die Debattenrundschau

Toxische Partner

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.12.2021. Die NZZ erklärt, wie Russland versucht, die Ukraine als toxischen Partner für den Westen aussehen zu lassen. In der FAZ wirft der Kiewer Historiker Kyrylo Tkachenko Deutschland eine Mitschuld an der Kriegsgefahr in der Ukraine vor. Bei libmod.de untersucht der Historiker Martin Schulze Wessel Putins Idee von der überzeitlichen Identität eines Volks. In der taz versucht sich die Medienpsychologin Maren Urner, Impfgegner mit positivem Denken zu überzeugen. Die SZ warnt vor riechender KI. Die FR erinnert an Johannes Kepler, die FAZ trauert um Desmond Tutu.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.12.2021 finden Sie hier

Europa

Erich Rathfelder schildert in der taz die schwierige Gemengelage in der Republik Bosnien und Herzegowina, in der kroatische und serbische Nationalisten mit Abspaltung drohen. Vieles kommt auf Bakir Izetbegović an, den Sohn des legendären Alija Izetbegović und Vorsitzenden der muslimisch-bosniakischen SDA. Er muss sich zwischen der Versuchung eines muslimisch-bosniakischen Nationalismus und der Verteidigung eines demokratischen Rechtsstaats entscheiden, der von den vielen "Anderen" in der Republik verfochten wird: "Mit der Strategie der jetzigen Verhandler aus der EU und den USA, einen Kompromiss zwischen den Nationalparteien zustande zu bringen, ist Bakir Izetbegović ... wieder in eine politische Schlüsselposition gerückt. Fast wider Willen, so scheint es. Seine Körperhaltung bei dem Gespräch ist defensiv, in seinem zerfurchten Gesicht zeigen sich weitere Sorgenfalten. Er weiß, dass ihm die Hände gebunden sind. Jede seiner Äußerungen wird von den Sarajevoer Medien registriert und abgewogen. Ist Izetbegović wirklich bereit, das gesamte bosniakische und nichtnationalistische Lager ernsthaft zu vertreten? Oder wird er den internationalen Verhandlern nachgeben und faule Kompromisse mit den Nationalisten eingehen?"

Der ehemaliger Bürgerrechtler Richard Schröder kommt in der FAZ auf die Währungsunion zwischen der Ex-DDR und der Bundesrepublik zurück, um die sich bis heute viele Mythen rankten. Er schildert sie als eine Sturzgeburt, die in der Tat viele Schwierigkeiten brachte, aber "den Schaden einer verfrühten Währungsunion konnte man reparieren, er war eine innerdeutsche Angelegenheit. Eine verpasste Chance zur Wiedervereinigung wäre dagegen womöglich so schnell nicht wiedergekommen." Die Folgen waren bekanntlich zunächst mal ziemlich schmerzhaft: "Weil die DDR-Bürger nun verstärkt Westwaren kauften, kam es zu massiven Absatzproblemen für Ostwaren und bald zu heftigen Bauernprotesten. Ostwaren produzieren und Westwaren konsumieren, das konnte auf Dauer nicht funktionieren. Viele Ostdeutsche wollen bis heute nicht wahrhaben, dass ihr sehnlichster Wunsch: 'die DM sofort und möglichst 1 zu 1' viele Arbeitsplätze kosten musste."

"Die Mitschuld der Bundesrepublik an der aktuellen Kriegsgefahr ist immens", schreibt der Kiewer Historiker Kyrylo Tkachenko in einem aufsehenerregenden Artikel für die FAZ. Er beschuldigt die deutsche Politik, "dass ein revanchistischer Nationalismus weiter als eine legitime Position daherkommen darf, wenn es um Russland geht". Moralische Lektionen aus der Geschichte würden inzwischen ins andere Extrem führen: "Darf man einen gekränkten Nationalismus imperialer Prägung als legitime Position akzeptieren? Ist die Appeasement-Politik die richtige Antwort auf Angriffskriege, Annexionen und Besatzungen? Und vor allem: Dürfen die 'großen' Nationen über das Los 'kleiner' Völker über deren Kopf hinweg entscheiden? Sollte die Antwort auf diese Fragen 'Ja' heißen, so fragt man sich nach dem Sinn der deutschen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit."

Ist die Ukraine ein souveräner Staat oder Teil der Russischen Föderation? Putin trommelt seit Monaten für letzteres und versucht dem auch einen historisch-legalistischen Anstrich zu geben, erzählt Ulrich M. Schmid in der NZZ. Das Ziel sei es, den Westen in eine toxische Debatte zu verwickeln: "Putin fordert Sicherheitsgarantien für Russland. Ganz offensichtlich zielt sein Powerplay in die Leere. Solange Kiew nicht das eigene Staatsterritorium kontrolliert, wird die Ukraine ohnehin nicht Nato-Mitglied werden. Putins wahres Ziel ist ein anderes: Er will keinen Einmarsch in die Ukraine, sondern aufgeregte Diskussionen im Westen, ob der Einmarsch nun stattfindet oder nicht. In jedem Land wird es in dieser Frage Falken und Tauben geben, viele Debatten werden in einem Patt enden. Wenn im Endeffekt die Ukraine zu einem toxischen Partner für den Westen wird, dann hat der Kreml sein Spiel gewonnen."
Archiv: Europa

Geschichte

Wladimir Putin hat im Juli einen Aufsatz "Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer" vorgelegt, in dem er seine Vorstellung über eine Zugehörigkeit der Ukraine zu einem russischen Einflussbereich historisch begründete (unser Resümee). Der Historiker Martin Schulze Wessel kommt bei libmod.de auf diesen Aufsatz zurück und bemerkt unter anderem, dass Putins Idee einer überzeitlichen Identität eines "Volks" der Idee Stalins in dessen Aufatz "Marxismus und nationale Frage" aus dem Jahr 1913 ähnelt. Auch Stalin definierte eine Nation als "eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart", so Schulze Wessel: "Neben den Kriterien der Sprache und des Territoriums hebt Stalin die Wirtschaft hervor, während Putin die Religion als Merkmal betont. Die Annahme einer überzeitlichen Kontinuität der Nation, die Putin als eine gemeinsame Großnation der Russen, Ukraine und Belarusen begreift, lässt eigenständige nationale Entwicklungen der Ukrainer und Belarusen nicht zu. Abweichungen von dem gemeinsamen Weg können nur als fehlgeleitet oder verräterisch gelten."

Der Globalhistoriker Sebastian Conrad sieht in einer Antwort auf einen FAZ-Artikel Martin Schulze Wessels (unser Resümee) gar keinen Anlass für einen neuen Historikerstreit. "Generell kann man sagen, dass die zentrale Rolle des Holocausts in der öffentlichen Erinnerung immer wieder auch Raum für andere Opfergruppen geschaffen hat: beispielsweise für die Sinti und Roma oder die verfolgten Homosexuellen, für die in Berlin jeweils ein eigenes Denkmal errichtet wurde. Ähnliches lässt sich im Verhältnis von Holocaust und Kolonialismus beobachten."

In der FR schreibt Arno Widmann zum 450. Geburtstag von Johannes Kepler, den er für einen der interessantesten Europäer hält: "Wissenschaft hat, seit es sie gibt, mit der Herstellung die Unendlichkeit der Welt abbildender Tabellen zu tun. Die Theorie ist der Versuch, diese schier nicht zu bewältigende Fülle an Daten zu ordnen, ihr eine Struktur zu geben. Der kurzsichtige Kepler wertete die Beobachtungen seines Vorgängers Tycho Brahe (1546-1601) aus. Anders als sein Briefpartner Galileo Galilei (1564-1642) war Kepler auch kein Bastler, der seine eigenen Fernrohre baute. Das 'Buch der Natur' ist in der Sprache der Mathematik geschrieben. Das macht es allgemein verständlich. Das gibt ihm seine Schönheit. Der Gott Keplers ist ein schöner Gott. Nicht weil er aussieht wie der Thorvaldsensche Jesus. Der hatte in Gleichnissen zu uns gesprochen. Keplers Gott kommuniziert mit allem, was er schuf in Gleichungen. So wie alles, was er schuf, sich in Gleichungen unterhält. In des Wortes doppelter Bedeutung."
Archiv: Geschichte

Politik

In der Welt verteidigt Glacier Kwong die Demokratiebewegung in Hongkong, die gerade auf verlorenem Posten zu kämpfen scheint. Ein Superheld müsse man gar nicht sein, versichert sie in einem kurzen Brief aus Hongkong: "Ich habe mich wegen meines Aktivismus nie sonderlich mutig oder irgendwie herausragend gefühlt; ebenso wenig wie meine Freunde. In ihren Briefen aus dem Gefängnis beklagen sie sich zuweilen, dass sie als Helden gesehen werden, obwohl sie eigentlich zeigen wollen, dass jeder das Gleiche tun und aktiv werden kann. Wir alle haben Mut irgendwo tief in unserem Herzen. Wir können uns jederzeit dafür entscheiden, entsprechend zu handeln - das ist keine Superkraft."

Bischof Tutu war zwar der letzte Weggefährte Nelson Mandelas, aber er hat später auch gegenüber dem ANC kein Blatt vor den Mund genommen, schreibt die FAZ-Korrespondentin Claudia Bröll in ihrem Nachruf: "2013 erklärte er, der Partei nicht mehr seine Stimme zu geben. Besonders erbost hatte ihn die Entscheidung, dem Dalai Lama, einem guten Freund, die Einreise wegen des Drucks Chinas zu verweigern. Er schäme sich, diesen 'speichelleckenden Haufen meine Regierung nennen zu müssen', polterte Tutu in bekannter Offenheit."
Archiv: Politik

Ideen

In der SZ sorgt sich Andrian Kreye, dass Maschinen jetzt auch riechen können: "Wem es jetzt langsam reicht mit der digitalen Eroberung der Menschlichkeit, ist da auf der richtigen Spur, weil Riechen und Schmecken die beiden Sinne sind, die ohne die Filter der Erfahrung und der kulturellen Prägung direkt ins emotionale Zentrum greifen. ... Künstliche Intelligenzen, die mithilfe biochemischer Sensoren Krankheiten, Giftstoffe oder Gase aufspüren, können Leben retten. Schnüffel-KIs dagegen der Überwachung ganz neue Tore zur Finsternis öffnen. Jeder Mensch hat einen olfaktorischen Schlüssel, der ihn identifiziert. In nächsten Schritten könnten Geruchssensoren Angst und Nervosität identifizieren." (Dazu braucht man eine KI?)
Archiv: Ideen
Stichwörter: Künstliche Intelligenz, Gas

Gesellschaft

Maren Urner ist Professorin für Medienpsychologie. In der taz kritisiert sie die Berichterstattung der Medien über Impfgegner, wirft ihnen vor zu polarisieren und versucht, eine Art "positives Denken" zu definieren. "Um die argumentativen und emotionalen Gräben, die wir dadurch in den vergangenen Monaten fleißig verbreitert haben, wieder zuzuschütten oder gar zu überbrücken, benötigen wir einen medialen Diskurs, der Gruppen neu definiert. Das kann gelingen, indem bei sämtlichen Themen der kleinste gemeinsame Nenner und damit das Verbindende in den Fokus gerückt wird. Gepaart mit der offensichtlichen Antwort auf die Frage 'Worum geht es wirklich?' kann so ein nach vorn gerichteter Diskurs entstehen, der uns aus dem Verteidigungsmodus befreit. Denn klar ist: Wir alle wollen das Virus besiegen!"

Neulich machte eine Broschüre der Berliner "Anlauf- und Dokumentationsstelle konfrontative Religionsbekundung" von sich reden, die Fälle religiösen Mobbings an Berliner Schulen dokumentiert (unser Resümee). Träger ist der Verein DeVi (Demokratie und Vielfalt) unter Leitung von Michael Hammerbacher, der auch die Broschüre erarbeitete. Susanne Memarnia betont in der taz, dass die Initiative nur 59.000 Euro für ihre Broschüre erhielt und das Familienministerium skeptisch gewesen sei. Sie findet die Entstehungsgeschichte Des Vereins DeVi problematisch: "Die geht offenbar zurück auf eine Erklärung der 'Initiative Pro Neutralitätsgesetz' vom Februar 2021. Damals hatte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) Verfassungsbeschwerde eingelegt, um das Gesetz, das unter anderem Lehrer*innen das Tragen religiöser Kleidung verbietet, zu retten. Die Initiative lobte dies, forderte aber zusätzlich 'ein Register für die Erfassung und Dokumentation von Fällen konfrontativer Religionsbekundung und religiösen Mobbings an Berliner Schulen'. Nur damit könnten 'konkrete Gefahrensituationen gerichtsfest dokumentiert werden'. Solche Fälle von gestörtem Schulfrieden hatte das oberste deutsche Gericht 2015 in seinem letzten 'Kopftuch-Urteil' zur Bedingung für Kopftuch-Verbote an einzelnen Schulen gemacht. Unterschrieben ist die Erklärung unter anderem von Michael Hammerbacher. Wie praktisch, dass er auch den Verein DeVi leitet, der die Anlaufstelle zur Rettung des Neutralitätsgesetzes nun ins Leben rufen soll."

In der FR denkt Kathrin Passig über die Größenentwicklung neuer Technik nach. Handys und Fernseher werden immer größer, Hörgeräte immer kleiner - ist das praktisch? "Wenn man an der Planung eines neuen Produkts beteiligt ist, wäre es gut, mehr über die Ausmaße der in Zukunft benötigten Jackentaschen, Garagen oder Flughäfen zu wissen. Rückblickend betrachtet sieht die Größe von Geräten selbstverständlich aus. Aber wenn man in die Zukunft schaut, ist es nicht so einfach, vorherzusagen, was welche Größe annehmen wird. VR-Brillen werden mittelfristig wahrscheinlich kleiner, schon weil das jetzige Format einfach zu unbequem ist. Ich binde an meine VR-Brille hinten einen Beutel, in dem ein Buch als Gegengewicht steckt. Das sieht noch blöder aus als sowieso schon und ist ganz sicher nicht die Zukunft."
Archiv: Gesellschaft

Medien

In der NZZ fragt sich Frank Lübberding angesichts der Antisemitismus-Skandale der Deutschen Welle, wie diese staatlich finanzierte Sendeanstalt vom Antisemitismus vieler arabischer Mitarbeiter überrascht werden konnte. Der Judenhass maskiere sich heute einfach oft als Israelhass: Es gebe "nur wenige Staaten, über die so kritisch berichtet wird wie über Israel. Es gibt aber keinen anderen Staat, dessen Existenzberechtigung an seine Problemlösungsfähigkeit gebunden wird. Erst ein Israel ohne Nahostkonflikt erfüllte offenbar die Erwartungen seiner Kritiker. Niemand käme etwa bei Russland auf eine solche Idee. Und an dieser Stelle wird der Kontext zum Antisemitismus erkennbar: Er beruht auf der Annahme, dass die Welt ohne Juden eine bessere wäre. Diese Vorstellung wird heute auf Israel übertragen, den weltpolitischen Paria. Es bestimmt das Denken vieler Menschen in Europa, darunter viele Journalisten."
Archiv: Medien