9punkt - Die Debattenrundschau

Die Idee, es gäbe nur zwei Geschlechter

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.01.2022. Die USA werfen Russland vor, Saboteure in der Ukraine positioniert zu haben. Die SZ kann sich keinen Reim mehr auf Putins Manöver machen, die NZZ wirft dem Westen vor, Russlands Verbitterung fahrlässig ignoriert zu haben. Außerdem sieht sie mit dem Transgender-Aktivismus das Patriarchat in Frauenkleidern zurückkehren. In der FAZ berichtet Nahid Shahalimi von den Afghaninnen, die den Taliban die Stirn bieten. artechock fordert, Mediatheken als eigenständiges Medium anzuerkennen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.01.2022 finden Sie hier

Politik

"Im Kalten Krieg gehörten Abschreckung und Dialog zusammen. Verhandlungen ohne Verteidigungsfähigkeit bedeuten Schwäche, Abschreckung ohne Dialog ist Abenteurertum", konstatiert Eric Gujer in der NZZ und wirft dem Westen vor, Moskaus wachsende Verbitterung fahrlässig hingenommen zu haben: "Nur selten hat eine europäische Großmacht einen als ungerecht empfundenen Zustand hingenommen. Auch Deutschland akzeptierte den Versailler Vertrag nicht. Nato und EU taten gut daran, das Selbstbestimmungsrecht der Osteuropäer zu respektieren und sie mit offenen Armen zu empfangen. Das Ungleichgewicht hätte Anlass sein müssen, den Dialog zu suchen und so den Konflikt zu entschärfen. Die vermeintlichen Sieger der Geschichte ließen die Dinge indes schleifen. Moskau wird nicht aufgeben. Wenn die gegenwärtige Krise verebbt, wird es die nächste Gelegenheit zur Konfrontation suchen. Beide Seiten spielen russisches Roulette."

Die USA haben Russland unterdessen vorgeworfen, Saboteure in der Ukraine positioniert zu haben, wie der Guardian berichtet. Sie sollen oder könnten mit "Operationen unter falscher Flagge" einen Vorwand für einen russischen Angriff liefern.

Silke Bigalke kann sich in der SZ keinen Reim mehr machen auf die unerfüllbaren Forderungen aus Moskau und die Drohgebärden an der ukrainischen Grenze: "In Europa hofft man zwar weiterhin auf einen Bluff, dass also Putin versucht, durch Maximalforderungen das für ihn Bestmögliche herauszuholen. Dann wäre eine Verhandlungslösung möglich. Vielleicht ist es aber auch genau andersherum: dass Putin die Gespräche scheitern lassen will, um sie als Vorwand für eine Eskalation zu nutzen. Dritte Möglichkeit: Er hat selbst noch nicht entschieden, welchen Weg er einschlägt. Seine Soldaten wird er sicher nicht abziehen, bevor sie sich auf die eine oder andere Weise ausgezahlt haben."

In der taz liefert Barbara Oertel anlässlich der Proteste eine kleine Landeskunde zu Kasachstan, das - neben einem Weltraumbahnhof und Sascha Baron Cohen - mit Nursultan Nasarbajew wahrscheinlich auch einen besonders dreisten Machthaber zu bieten hatte: "Das Vermögen, das der Klan über ein weit verzweigtes Firmenimperium in Schlüsselbereichen der Wirtschaft angehäuft hat, wird auf sieben Milliarden US-Dollar geschätzt. Allein in Europa und den USA soll der engste Familienkreis Immobilien im Gesamtwert von 785 Millionen Dollar besitzen. Über eine Einkaufstour der besonderen Art berichtete unlängst auch die britische Zeitung The Telegraph. So soll Nazarbajews jüngste Tochter Aliya 300 Millionen US-Dollar außer Landes gebracht und unter anderem ein Haus in London, ein Anwesen in Dubai nebst Villa sowie einen Luxus-Privatjet erworben haben. Wo sich Nazarbajew und seine Angehörigen derzeit aufhalten, ist unklar."

Für die FAZ unterhält sich Elena Witzeck mit der afghanischen Autorin Nahid Shahalimi, die in ihrem Buch "Wir sind noch da!" Frauen porträtiert, die in Afghanistan auf ganz unterschiedliche Art den Taliban die Stirn bieten: "Viele sagen: Die Taliban sind schlimmer als die von 1996. Aber was diese Tätigkeiten angeht, wird es so kommen. Ich habe noch ein paar Projekte für Frauen laufen. Eines davon betrifft die Ausbildung von Hebammen. Es ist ein reines Frauenprojekt. Die Idee und Umsetzung basiert auf den Erfahrungen, die wir während der letzten Taliban-Herrschaft gemacht haben. Die Frage war ja nie, ob sie kommen, sondern: Was machen wir, wenn sie dann kommen? Die Hebammenschule ist den Taliban nützlich. Sie haben bestätigt, dass alles nach den Gesetzen der Scharia läuft."
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Ideen

Impfgegner und Klimaskeptiker treiben der demokratischen Wissensgesellschaft Woche für Woche die Tränen in die Augen. In der NZZ warnt Urs Hafner allerdings vor dem Glauben an eine Evidenz-basierte Politik. Sie wäre das Ende aller Politik. Und Wissenschaft ist heute so komplex, dass sich aus ihr nicht zwangsläufig politisches Handeln ergebe: "Einem Besserwisser zuzuhören, ist nie lustig, aber Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, bringen die Aufgeklärten zur Verzweiflung. Dass heute so viele verschwörerische Theorien wuchern, ist nicht nur auf Bildungsmangel und die Bubbles der sozialen Netzwerke zurückzuführen, sondern auch auf den imperialen Auftritt der Wissenschaften und ihrer Sekundanten in der Politik. Sie präsentieren die Ergebnisse ihrer Arbeit als Wahrheit (statt als vorläufige Erkenntnisse, die morgen überholt sein können) und bezeichnen die Handlungsanleitungen, die sie daraus ableiten, als zwingend und alternativlos."

Ein neues "Patriarchat in Frauenkleidern" sieht NZZ-Autorin Sarah Pines im Transgender-Aktivismus, der daran arbeite, die Frau als biologisch und sozial basierte Kategorie abzuschaffen und sie zu einem menstruierenden Wesen zu degradieren und der Feministinnen wie Kathleen Stock oder J.K. Rowlings gnadenlos terrorisiert: "Der Feminismus anerkennt die Frau und ihre Unterschiede zum Mann. Weiblichkeit ist keine männliche Projektion, die Welt funktioniert nicht immer phallozentrisch. Phallozentrischer als 'menstruierende Person' kann ein Begriff allerdings gar nicht mehr sein. Die Öffnung der Kategorie 'Frau' reduziert den Unterschied zwischen Mann und Frau auf eine identitäre Kategorie, nach dem Grundsatz: Wenn ich mich als Frau fühle, bin ich auch eine. Außer für die 'menstruierende Person' ist die Zugehörigkeit zu einer marginalisierten Gruppe nicht länger ausgrenzend, im Gegenteil: 'Frausein' ist befreiend und ermächtigend."

In der Jungle World schreibt dagegen Kirsten Achtelik, als etwas schwer verständliche Antwort auf einen Text von Vojin Saša Vukadinović, der ebenfalls die Transgender-Aktivisten angegriffen hatte (unser Resümee): "Es ist fast komisch, dass die Idee, es gäbe nur zwei Geschlechter und diese seien an den Genitalien zu erkennen - bis vor wenigen Jahren ein nahezu unhinterfragtes Dogma -, als philosophisch Dissidenz und erfrischende Auflehnung gegen den vorgeblich autoritären Diskurs um Gender gelabelt wird. Wenn alte Dogmen an Wirkmacht verlieren, werden diejenigen, die sie vertreten, nach Wegen suchen, sie zu verteidigen. Die Behauptung, dass die Wissenschaftsfreiheit gefährdet sei, ist ein solcher Versuch."
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Medien

Der Entwurf für einen neuen Medienstaatsvertrag ist online einzusehen und bis gestern konnte er auch kommentiert werden. Auf artechock macht Rüdiger Suchsland davon weidlich Gebrauch, vor allem zur Verantwortung der Fernsehsender für den Film hat er einiges zu sagen: "Der Jetztstand ist aber tatsächlich traurig. Es werden kaum noch Filme im Fernsehen gespielt. Wenn dann zu beschämenden Zeiten. Und was für Filme!... Befreit werden müssen auch die Mediatheken der Sender. Auch viele Urheber haben es längst begriffen: Mediatheken sind heute ein eigenständiges Medium, das eigenständigen Gebrauchsregeln unterliegt. Da sie in direkter Konkurrenz zu den Streaming-Portalen und anderen Angeboten internationaler Medien-Konzerne stehen, sollten alle Beschränkungen, die für die öffentlich-rechtlichen Sender eine konkrete Behinderung bedeuten, abgebaut werden. Selbstverständlich bedeutet dies im Gegenzug eine angemessene (!!!) Vergütung für die Produzenten und Urheber. Hinzu kommt ein zweiter wichtiger Punkt: Was für die Mediathek produziert bzw. eingekauft wird, darf nicht nur der Fernsehlogik entsprechen. Daher geht es darum, den Sendern möglichst umfassende Freiheit für die Gestaltung ihrer Mediatheken und Online-Angebote an die Hand zu geben."
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Kulturpolitik

Popmusiker Peter Licht platziert seine Bewerbung für den Posten des Parlamentssängers in der SZ. Gegen ein Gehalt von wünschenswerten 5.500 Euro bietet er verträglich Kritisches, aber auch Hymnen: "Sprechen wir von Schönheit, von Tanzen, Küssen und Lieben. Dazu braucht auch die Politik eine Sprache. Ich als Parlamentssänger des Deutschen Bundestages werde diese entwickeln und der Gesellschaft schenken. Wie viel Kraft das hätte. Was für ein Symbol für unsere Gesellschaft das wäre. Was für ein starkes und zärtliches Signal an Europa und die Welt."
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Internet

In der taz wettert der Buchautor Matthias Eckoldt gegen die Sozialen Netzwerke, für die die Überwachung von NutzerInnen nur die Pflicht sei, ihre Manipulation aber die Kür: "Die Fixierung auf den verheißungsvollen Dopaminkick führt zum Realitätsverlust, der in einem Rattenexperiment von James Olds und Peter Milner plastisch wurde. Die beiden Forscher hatten ihren Versuchstieren Elektroden in verschiedene Regionen des Belohnungssystems implantiert. Über einen Hebel konnten die Ratten den Stromkreis schließen und so eine Belohnung in ihrem Hirn auslösen. Stundenlang drückten sie im Dauerfeuer die Taste, bis zur absoluten Erschöpfung, schließlich sogar bis zum Tod. Die im Gehirn angelegte Impulskontrolle war machtlos gegen die direkte Stimulation der Belohnungsnetzwerke."
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Geschichte

(Via abhs) An eher verstecktem Ort publizierte die FAZ gestern einen Leserbrief Marc Grünbaums von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt auf die Ausführungen des Professors Wolfgang Reinhard über die "deutsche Holocaust-Orthodoxie" (unsere Resümees). Nicht nur wegen eines positiven Bezugs auf Björn Höcke verortet Grünbaum Reinhard rechts. Er macht in Reinhards Artikel vier klassische antisemitische Topoi: "So sei die 'Holocaust-Kultur machtbesetzt und tabugeschützt', und zudem sei die 'ewige Schuld' Deutschlands eine 'Machtfrage'. Da ist sie wieder: die Macht der Juden. 2. Diese Macht strebt laut Reinhard nach Vergeltung, denn Kollektive können seiner Ansicht nach 'nicht vergeben, sondern nur vergelten'. Da ist sie wieder: die Rache der Juden. 3. Die Erlösung für all die 'Zerknirschtheit der Deutschen' liegt für Reinhard (hier muss man wohl hinzufügen: endlich) im Ableben aller Zeitzeugen. 4. Zum Schluss des Beitrags macht sich Reinhard dann noch ein Zitat zu eigen, wonach der 'Anti-Antisemitismus' den Antisemitismus erzeuge und damit 'unweigerliche Feindseligkeit' gegen die Juden. Da ist es wieder: Die Juden sind selbst schuld an ihrem Unglück."
Archiv: Geschichte