9punkt - Die Debattenrundschau

Akut an die Pleiße

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.02.2022. Die Strategie von BDS besteht darin, "Redeformen und geschichtliche Ereignisse wie mit einem Magneten zu entstellen, damit sie so aussehen wie andere: Palästinenser werden dann zu Schwarzen, Juden werden zu Nazis", schreibt Thomas E. Schmidt in der Zeit. Sascha Lobo attackiert in Spiegel online die deutsche Sektion von Amnesty, die sich nicht inhaltlich zum Israel-Bericht der britischen Amnesty-Sektion äußern mag. Der Tagesspiegel fragt mit Annekathrin Kohout: Hat der Nerd die Frau verdrängt? Aber eins ist schon mal gut, meldet das Börsenblatt: die Leipziger Buchmesse findet statt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.02.2022 finden Sie hier

Gesellschaft

Thomas E. Schmidt (Zeit) ist bereit abzuwarten, ob die Documenta im Streit über den BDS zwischen Kunst- und Meinungsfreiheit unterscheiden kann. Im Moment tun die Kuratoren noch, als seien beide dasselbe. Um dies zu kritisieren, braucht man jedoch nicht das A-Wort, meint er. "Die Delegitimation des jüdischen Staates ist eine geduldige Begriffspolitik. Ihre Masche besteht darin, Redeformen und geschichtliche Ereignisse wie mit einem Magneten zu entstellen, damit sie so aussehen wie andere: Palästinenser werden dann zu Schwarzen, Juden werden zu Nazis. Jede dieser beständig wiederholten Gleichsetzungen verwischt die Grenze zwischen Kritik und unversöhnlichem Hass. ... BDS verbindet mit der zerstörenden Kritik an Israel - Aufschrei gegen den postkolonialen Skandal - eine gezielte Beeinflussung des globalen Austausches über Politik. Das soll auch andere Redeweisen infiltrieren, auch die künstlerische. Kiefers und Meeses Hitlergrüße waren dadaistische Spiele mit deutschen Empfindlichkeiten; BDS will mehr und anderes, und wenn diese ganz konkreten Ziele auf der Documenta sich auch nur eine Bühne suchen könnten, wäre das Spiel schon ernster, und Kunst erhöbe in anderer Weise Allgemeingeltungsansprüche. Weder spräche daraus der bessere Teil der Menschheit noch das Menschenrecht, noch die Kultur oder die Kunst an sich. Nur die elektronische Intifada."

Sascha Lobo nennt den britischen Amnesty-Bericht zu Israel (unser Resümee) in seiner Spiegel-online-Kolumne ohne Umschweife antisemitisch und stellt sich die Frage, warum "Wokeness", die er im Prinzip befürwortet, so häufig mit antisemitischen Mustern verbindet: "Es ist vollkommen klar, dass die katastrophale Kolonialvergangenheit insbesondere der europäischen Länder und ihre bis heute anhaltenden Auswirkungen diskutiert werden müssen. Aber diese Debatte zu kapern, um Israelhass zu rechtfertigen oder gar in den Mittelpunkt zu stellen, ist schlicht antisemitisch. Da spielt auch keine Rolle, wenn man statt 'Juden' jedes Mal artig 'Zionisten' sagt."Für das Statement der deutschen Amnesty-Sektion, die eine sachbezogene Diskussion wegen der deutschen Vergangenheit für "schwer möglich" hält, hat Lobo noch diese Einschätzung parat: "Für mich klingt das wie: Für unseren antisemitischen Israelhass seid ihr einfach zu emotional wegen des Holocaust. Was ich persönlich fast noch eine Spur widerlicher finde."

Inhaltlich distanziert, wie auch vom Zentralrat der Juden gefordert, hat sich die deutsche Amnesty-Sektion vom Bericht nicht, konstatiert Joshua Schultheis in der Jüdischen Allgemeinen: "Der Jüdischen Allgemeinen sagte eine Sprecherin von AI Deutschland, dass 'Berichte und menschenrechtliche Positionen in der Hoheit des Internationalen Sekretariats liegen'. Das bedeutet: Über die Kompetenz, sich eine eigene, faire Meinung zu Israel und dem Nahostkonflikt zu bilden, verfügt man nicht."
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Europa

Dass die USA immer wieder vor einem drohenden Einmarsch russischer Soldaten warnen, findet der ukrainische Präsident Zelensky übertrieben. Außerdem befürchtet er negative Auswirkungen auf die Wirtschaft des Landes. So berichtet es Shaun Walker im Guardian: "Der Präsident befürchtet, dass das wiederholte Gerede über einen bevorstehenden Krieg die Investoren verschrecken und zu einer Panik führen könnte, die die angeschlagene ukrainische Wirtschaft an ihre Grenzen bringt. 'Waffenlieferungen sind sehr hilfreich, aber wir können unsere Rentner nicht mit Waffen füttern. Wenn jeder glaubt, dass morgen Krieg herrscht, wird die Wirtschaft in echte Schwierigkeiten geraten', sagte ein hochrangiger Regierungsbeamter." Jurij Witrenko, Vorstandsvorsitzender des staatlichen ukrainischen Gasunternehmens Naftogaz, sieht das ähnlich: "Wenn es der Wirtschaft schlecht geht, 'erhöht sich das Risiko sozialer Unruhen, und soziale Unruhen sind genau der Vorwand, den Putin sucht."
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Stichwörter: Waffenlieferungen

Ideen

Die Kulturwissenschaftlerin Annekathrin Kohout hat ein Buch über Nerds geschrieben. Im Interview mit dem Tagesspiegel erzählt sie, was sie an dieser Figur interessiert: Erst war er ein technikbesessener Außenseiter, in den Siebzigern und Achtzigern wurde er mit Personen wie Bill Gates, Steve Jobs oder Steve Wozniak zu einer positiven Projektionsfläche. "Der Außenseiter wurde zum Helden, aber er verkörperte keine neuen Werte. Deshalb ist es schwer für Frauen oder PoC sich mit dieser Figur zu identifizieren. Das ist von Bedeutung, weil der Nerd mittlerweile wichtige Positionen in der Gesellschaft inne hat. Es gibt etliche Studien, die belegen, dass die Popularität des Nerds und der Rückgang von Frauen in der IT-Branche parallel verliefen. Ursprünglich war die Informatik ein Frauenberuf. Das hat sich durch den Nerd gewandelt und zeigt, wie einflussreich solche Sozialfiguren sind. Deshalb ist die Kritik an ihm berechtigt, wenngleich es viele weibliche Nerds in der Popkultur gibt."

Im Interview mit der FR erklärt der Soziologe Armin Nassehi, warum wir heute zwar mehr wissen als je zuvor, aber zugleich immer handlungsunfähiger scheinen: "Es ist ja nicht so, dass man der Gesellschaft es so erklärt: CO2 muss reduziert werden, macht das mal, sondern man stellt fest, dass man mit dieser Forderung auf ein weitverzweigtes System trifft, in dem diese Information ganz unterschiedlich verarbeitet wird. Das eindeutige Wissen ist aus der Perspektive der Politiker mit der Frage verknüpft: Kann ich das meinen eigenen Wählerinnen und Wählern verkaufen oder nicht? Für die Medien ist es die spannende Frage, ob sich daraus ein toller Konflikt herstellen lässt, indem man feststellt, wer die Guten und wer die Bösen sind. Für Unternehmen geht es darum, ob sich das in Geschäftsmodelle übersetzen lässt. Und für Wissenschaftler gibt es erst einmal neuen Forschungsbedarf. Wir sind ja nie fertig. Das hat man ja in der Pandemie genau gesehen. Man hat tolle Ergebnisse, und morgen stellt man fest, da gibt es eine Studie, die auch noch eingearbeitet werden muss. Das ist das Spannende, selbst wenn wir ein so eindeutiges Wissen hätten, können wir das nicht so einfach umsetzen."
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Wissenschaft

Die NZZ bringt ein episches Interview mit dem Hamburger Physikprofessor Roland Wiesendanger, der die These wiederholt, dass das Covid-Virus aus einem Labor in Wuhan stammt - Wiesendanger war dafür im letzten Jahr als Verschwörungstheoriker angegriffen worden, bevor seine Thesen - ohne letzten Beweis - überprüft wurden. Entscheidend sei bei dem Virus eine "Furin-Spaltstelle", die vor dem Ausbruch von Covid nie bei Coronaviren gefunden worden sei und die für eine Manipulation spreche. Zu seinem Interviewer Marcel Gyr sagt Wiesendanger: "In unmittelbarer Nähe des weltweiten Zentrums für die Forschung mit Coronaviren, da, wo nachweislich Chimären, also künstliche Hybriden, geschaffen wurden, die besser an menschliche Zellrezeptoren andocken können, und da, wo man vorhatte, in ein Coronavirus eine Furin-Spaltstelle einzubauen . . . genau hier bricht Sars-CoV-2 aus, ein Virus mit der außergewöhnlichen Eigenschaft, über eine Furin-Spaltstelle zu verfügen."
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Kulturpolitik

Die Leipziger Buchmesse wird stattfinden, berichtet Torsten Casimir im Börsenblatt und stützt sich auf optimistische Äußerungen des Messe-Chefs Oliver Zille: "Der rechtliche Rahmen für ein Branchentreffen in den Messehallen vom 17. bis 20. März stehe. Aber stehen auch die Verlage zu ihren bisherigen Ansagen? Eine Schnellumfrage der Messe vor erst gut einer Woche hatte noch ein breites Commitment der bereits angemeldeten Verlage und ein Festhalten an deren Messeplanungen ergeben. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass in manchen Häusern, insbesondere in den Teams der Fachabteilungen größerer Verlage, die Unsicherheit wächst. Nicht jede und nicht jeder sehnt sich zum Frühjahrsbeginn akut an die Pleiße."

Isabel Pfeiffer-Poensgen, Kulturministerin in Nordrhein-Westfalen, erklärt im Gespräch mit Kai Spanke von der FAZ, wie sie die Situation freier KünstlerInnen verbessern will, die generell an schlechten Gagen leiden - in der Coronakrise noch mehr: "Die Künstlersozialkasse organisiert die Kranken- und Rentenversicherung für die Mitglieder. Aber wir brauchen ein Instrument, das in der Arbeitslosigkeit hilft. Es muss eine adäquate Absicherung geben, damit der Staat nicht, wie jetzt in der Pandemie, hektisch intervenieren und mit Stipendien und Sonderfonds aushelfen muss. Nun ist Sozialversicherungsrecht allerdings ausgesprochen anspruchsvoll."
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