9punkt - Die Debattenrundschau

Gegebenenfalls verbrecherisch

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.05.2022. Es sei allgemein bekannt, dass Juden mit Nazis kollaborierten, erklärt das russische Außenministerium in einer Antwort auf eine israelische Protestnote zu Sergej Lawrows Geschichtsklitterungen. Deutschland muss unterdessen die Verheerungen des Emma-Briefs verkraften: Die Unterzeichner Juli Zeh und Harald Welzer suchen in Interviews den "Kompromiss" mit Putin. Aber wie sieht ein Kompromiss aus, wenn dein Gegenüber dich vernichten will, fragt Henryk Broder in der Welt. In der FAZ erzählt Experte Martin Hellwig, wie Gerhard Schröder als Kanzler den Tisch für Gazprom deckte. Die taz erklärt, warum die Entscheidung des Supreme Court zu Abtreibung eine Katastrophe ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.05.2022 finden Sie hier

Europa

Putin lässt die Menschen in der Ukraine ermorden, um ein bestimmtes Geschichtsbild durchzusetzen. Seine erste Kriegshandlung war sein Geschichtsessay im letzten Juli (unser Resümee). Dmitri Medwedew assistierte ihm mit einem Brief über Polen (unser Resümee). Und Außenminister Sergej Lawrow sagte neulich: "Dass Präsident Wolodimir Selenski Jude ist, hat keine Bedeutung. Meiner Meinung nach war auch Hitler jüdischer Herkunft." (Unser Resümee.) Nach einem Protest des israelischen Außenministers Yair Lapid legte das russische Außenministerium nun laut Guardian mit einer Erklärung nach und wendet sich gegen das Argument, dass Wolodimir Selenski schon wegen seiner jüdischen Herkunft kein Nazi sein könne: "Dies ist nicht nur ein unhaltbares Argument, sondern auch ein fauler Trick. Die Geschichte bietet leider einige tragische Beispiele für die Zusammenarbeit zwischen Juden und den Nazis. In Polen und anderen osteuropäischen Ländern setzten die Deutschen jüdische Industrielle als Leiter von Ghettos und Judenräten ein, von denen einige für absolut monströse Taten in Erinnerung geblieben sind." Und weiter: "Die historische Tragik liegt in der Tatsache, dass, wenn während des Zweiten Weltkriegs einige Juden gezwungen wurden, sich an Verbrechen zu beteiligen, Wolodimir Selenski, über seine Herkunft spekulierend, dies ganz bewusst und ganz freiwillig tut. Er versteckt sich hinter der Herkunft und deckt so Neonazis und geistige und blutige Erben der Henker seines Volkes."

Mit diesen Bemerkungen im Kopf wird es noch schwerer zu lesen, wie die Autoren (und leider auch Autorinnen) des Emma-Briefes die Ukraine zu einem eiligen Friedensschluss mit Russland drängen wollen. Die Schriftstellerin und brandenburgische Verfassungsrichterin Juli Zeh gehört zu den Unterzeichnerinnen des Aufrufs. Im Interview mit Jochen Bittner von Zeit online erklärt sie: "Es ist zu einfach gedacht, dass nur die Ukraine entscheiden kann, was als Nächstes passiert. Für eine Friedenslösung muss Russland mit im Boot sein, ob uns das gefällt oder nicht. Ohne Russland wird es keinen Frieden geben.... Dazu gehört es auch, die russischen Forderungen zu diskutieren."

Auch Harald Welzer gehört zu den Unterzeichnern. Er hält im taz-Gespräch mit Jan Feddersen an der Idee eines "Kompromisses" fest, den er aber nicht näher definieren will: "Ich werde den Teufel tun und jetzt sagen, was der geeignete Kompromiss wäre, weil mir dann zu Recht alle Ukrainerinnen und Ukrainer aufs Dach steigen würden. Aber wir können uns doch vielleicht auf die Minimalrationalität verständigen, dass die Betrachtung einer zivilen, einer zivilisatorischen Dimension der Konfliktaustragung wieder ins Spiel gehört."

Wie sollte denn ein Kompromiss mit Putin aussehen, fragt ein interessierter Henryk M. Broder in der Welt: "Ein Kompromiss setzt voraus, dass beide Seiten legitime Interessen vertreten. Wie Gewerkschaften und Arbeitgeber bei Tarifverhandlungen. Wenn sie sich dann in der Mitte treffen, können beide Seiten zufrieden sein. Die Situation zwischen Russland und der Ukraine ist eine andere. Von einem Aufeinanderzugehen kann keine Rede sein, wenn die eine Seite sich die Vernichtung der anderen zum Ziel gesetzt hat. Wie hätte denn ein Kompromiss zwischen Polen und Deutschland aussehen können, nachdem die Nazis in Polen eingefallen waren? Die Vorstellung, die Überfallenen müssten sich nur ergeben, um den Furor des Aggressors zu beenden, ist reines Wunschdenken. Das Gegenteil ist der Fall. Je wehrloser die Opfer, umso blutrünstiger die Täter."

Die Autoren des Emma-Briefs warnen ja vor allem davor zu glauben, "dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern". In diesem Satz und vor allem in dem "gegebenenfalls" kommt für den Slawisten Georg Witte in der FAZ die Infamie des Briefs zum Ausdruck. Denn das "gegebenenfalls" setze voraus, dass das bisher Geschehene "noch unterhalb der von den politischen Ethikern definierten Schwelle des Verbrecherischen liegt". "Die zweite Prämisse dieses 'Gegebenenfalls': Wer den eingetretenen, den gegebenen Fall definiert, ist der Stärkere. Wir akzeptieren, unausgesprochen, sein Recht dazu. Politische Ethik kennt dieses Prinzip von alters her, es heißt: Recht des Stärkeren. Und wir gestehen dem namentlich nicht genannten Aggressor nicht nur die Definitionsmacht über die Rahmenbedingungen politisch-ethischen Handelns zu, wir setzen zugleich das Apriori, dass er der Stärkere ist."

Empört auch die Antwort des Historikers Vitalij Fastovskij ebenfalls in der FAZ, der den Emma-Autoren auch vorwirft, auf Putins Kalkül hereinzufallen: "Putin und sein engerer Zirkel setzen auf ein Ungleichgewicht des Schreckens. Sie weichen Regeln der internationalen Politik bewusst auf, damit Russland trotz seiner militärischen, wirtschaftlichen und kulturdiplomatischen Schwäche weiter die Rolle einer Supermacht spielen kann."

Es war ein Artikel wie ein Donnerschlag, den wir nicht wahrgenommen hatten, weil er letzte Woche auf den Wirtschaftsseiten der FAZ stand. Wir tragen den Hinweis nach: Martin Hellwig, seinerzeit Vorsitzender der unabhängigen Monopolkommission, die die Bundesregierung berät, erzählt darin, wie Gerhard Schröder und sein damaliger Wirtschaftsminister Werner Müller die Fusion von Eon und Ruhrgas betrieben, obwohl die Kartellbehörden und die Monopolkommission selbst strikt dagegen waren. Schröder und Müller setzten sie mit einer Ministererlaubnis durch. Ihr Argument war, dass Deutschland in seiner Energieversorgung unabhängiger war, aber das Gegenteil, vor dem die Behörden gewarnt hatten, trat ein, weil sich die deutsche Energiewirtschaft immer enger mit Gazprom verflocht: "Dass heute die Abhängigkeit von Erdgas aus Russland die deutsche Handlungsfreiheit in der jetzigen Krise beschränkt, ist der Energiepolitik der Bundesregierungen seit 2000 geschuldet: der Ministererlaubnis für Eon/Ruhrgas, der Förderung von Nordstream, der Vernachlässigung von Flüssiggas, der Genehmigung für die Übertragung des Speichers Rehden an Gazprom und einer fahrlässigen Tolerierung des Umgangs von Gazprom mit diesem Speicher."

Bisher hat noch kein deutscher Politiker ausgeprochen, was der Labour-Abgeordnete Chris Bryant in diesem BBC-Beitrag über Großbritannien und die Oligarchen sagte:



Jürgen Kaube kommt in der FAZ auf die beleidigte Begründung Olaf Scholz' für einen Verzicht auf einen Kiew-Besuch wegen der Steinmeier-Ausladung zurück: "Abgesagt wurde kein vereinbarter Staatsbesuch, sondern eine einseitig angekündigte Visite. Die Absage galt erkennbar auch nicht dem Amt, sondern der Person, die sich als Kanzleramtschef wie als Außenminister in den Augen der Ukraine in einem schwer vertretbaren Maß als Russlandfreund betätigte."

Appeasement kann keinen Aggressor stoppen, schreibt Jan Lipavsky, Außenminister der Tschechischen Republik, in der FAZ und erinnert an München 1938: "Doch nicht nur das. Am Beispiel der Tschechoslowakei kann man sehen, dass verzweifelte Länder auch verzweifelte Dinge tun können. Dazu gehört, sich zweifelhafte Verbündete zu suchen. Die Tschechoslowakei suchte sie im Osten und landete für weitere 40 Jahre unter dem Joch einer kommunistischen Diktatur - ein weiterer Grund, alles zu tun, um die Ukrainer vor einem solchen Irrtum zu bewahren. Man muss sie spüren lassen, dass sie bei uns, im Westen, willkommen sind."

Weiteres: In der SZ skizziert Gustav Seibt Kriegsdebatten seit dem Siebenjährigen Krieg, als Moral "gegen die angeblich höheren Zwänge der Realpolitik" stand.
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Medien

Matthias Rüb kommt in der FAZ auf die Umstände des Interviews zurück, in dem Sergej Lawrow seine Geschichtsklitterungen zum besten gab. Vorgebracht hat Lawrow seine Hitler-Vergleich in einem 40-Minuten-Interview des Privatsenders Rete 4: "Rete4 gehört zur Senderfamilie Mediaset des früheren Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Der ist zudem Gründer und Parteichef der christdemokratischen Partei Forza Italia und pflegte über viele Jahre enge persönliche Beziehungen zu Putin, ehe er jüngst seine tiefe Enttäuschung über den russischen Präsidenten eingestand."
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Internet

Die SZ druckt einen Vortrag von Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda nach, der vor dem geplanten Digital Services Act der EU warnt, weil er eine "quasi staatliche Medienaufsicht bei der Europäischen Kommission" errichten und so die nationalen Regeln aushebeln könne: Wenn "wir versuchen, vor der Veröffentlichung via Aufsicht zu überprüfen, was wahr und was richtig ist, dann erklären wir das öffentliche Gespräch für überflüssig".
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Politik

Die wahrscheinliche Entscheidung des Supreme Court gegen die bisherige Abtreibungsrechte in den USA sind eine Katastrophe, kommentiert Patrica Hecht in der taz: Die Rückgabe des Themas an die Bundesstaaten werde in der Hälfte der Staaten, die bereits fertig formulierte Gesetze vorliegen haben, zu Verboten führen: "Bis Juni soll die Entscheidung fallen. Fällt sie wie erwartet, hätte dies dramatische Konsequenzen für Frauen in den USA - und eine Signalwirkung, die für Frauen auf der ganzen Welt lebensgefährlich ist. Wie 'Roe' damals Vorbild für demokratische, gesundheitsbewusste Länder war, wäre auch das jetzige Urteil Vorbild für fundamentalistische, rechte Regierungen. Es wäre ein Paradigmenwechsel und zivilisatorischer Rückschritt, würden die USA zum Leitbild, reproduktive Rechte zu kriminalisieren." Hier der Bericht der taz zum Thema.

Die Demokraten tragen allerdings eine Mitschuld an der Abschaffung des Abtreibungsrechts, meint in der Welt Jörg Wimalasena: "Dass die Republikaner in den Bundesstaaten derart problemlos restriktive Abtreibungsgesetze erlassen können, liegt auch daran, dass die Demokraten mit ihrem politischen Fokus auf identitäre Themen und ihrer teils offen zur Schau gestellten Abneigung gegenüber der Landbevölkerung in vielen Bundesstaaten kaum mehr präsent sind."

Außerdem: Mali schmeißt die französischen Truppen, die dem Land im Kampf gegen die Expansion des Islamismus helfen sollten, endgültig raus, berichtet Dominic Johnson in der taz.
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