9punkt - Die Debattenrundschau

Kriegsmitarbeiter für das Patriarchat

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.07.2022. Die Politologin Tatiana Stanovaya skizziert in der New York Times einen Sieg Putins, wie er ihn sich erträumt. Das Thema Mafia ist aber beileibe kein rein italienisches, mahnt die Krimiautorin Petra Reski dreißig Jahre nach dem Mord an Mafia-Ermittler Paolo Borsellino in der FAZ. Die SZ hofft, dass Viktor Orban demnächst zu ungewohnter Demut gezwungen wird. Kritisch setzt sich Hubertus Knabe in seinem Blog mit dem Dokumentationszentrum "Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa" auseinander. Und laut Marlene Streeruwitz in der NZZ kann Jürgen Habermas schon gar nichts zum Frieden beitragen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.07.2022 finden Sie hier

Europa

Die Politologin Tatiana Stanovaya malt sich in der New York Times einen Sieg Putins, wie er ihn sich erträumt, aus. In Schritt 1 geht es um Geländegewinne, in Schritt 2 strebe er eine Kapitulation Kiews an, in Schritt 3 hoffe er eine neue Weltordnung nach seinem Gusto geschafft zu haben. Leider klingt das von ihr geschilderte Szenario für Schritt 1 nicht so unplausibel. "Der Westen wird weder direkt intervenieren noch die Ukraine so weit unterstützen, dass es zu einer militärischen Niederlage Russlands kommen könnte. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen ist es heute im Westen gängige Meinung, dass die Ukraine nicht in der Lage sein wird, die von russischen Truppen besetzten Gebiete zurückzuerobern. Der Kreml scheint zu glauben, dass der Westen dieses Ziel früher oder später ganz aufgeben wird. Der Osten der Ukraine wäre dann faktisch unter russischer Kontrolle." Für den Westen gefährlich würde Putin erst, wenn er seine Ziele nicht erreicht und etwa wieder mit der Atombombe fuchtelt.

Europa steht vor einer "historischen Voraussetzung", meint Josef Kelnberger in der SZ angesichts der Abhängigkeit von russischem Gas: "Forderungen, der Westen solle von sich aus komplett auf russisches Gas verzichten, sind nicht mehr zu hören. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es keinen Weg gibt, den Kriegsherrn Putin schnell in die Knie zu zwingen. Europa braucht einen langen Atem, und die Wirtschaftskraft ist die größte Waffe der EU in dieser Auseinandersetzung. Geht diese verloren, driften die Gesellschaften auseinander. Umfragen legen nahe, dass in Deutschland die Unterstützung für weitere Waffenlieferungen an die Ukraine und für weitere Sanktionen gegen Putin schwindet."

Indes teilte die Gazprom europäischen Kunden in einem Schreiben vom 14. Juli mit, dass sie Gaslieferungen aufgrund "außergewöhnlicher" Umstände nicht garantieren könne, meldet Reuters. "Der Brief verstärkt die Befürchtungen in Europa, dass Moskau die Pipeline am Ende der Wartungsperiode als Vergeltung für Sanktionen gegen Russland wegen des Krieges in der Ukraine nicht wieder in Betrieb nehmen könnte, was eine Energiekrise verschärft, die die Region in eine Rezession stürzen könnte."

Die Nato muss mit Russland über Selenskis Märzpaket verhandeln, meint Stephan-Andreas Casdorff im Tagesspiegel, am besten mit einer Art "Doppelbeschluss 2.0": "Waffenlieferungen sind dann das eine, die Drohung mit einem Nato-Einsatz an der Seite der Ukraine das neue Element. Eine Drohung allein für den Fall, dass Verhandlungen nicht stattfinden; aber ernst gemeint sein muss sie trotzdem, sonst erzielt sie keine Wirkung."

Heute jährt sich der Anschlag gegen den Mafia-Ermittler Paolo Borsellino zum dreißigsten Mal. Petra Reski berichtet in der FAZ, dass die Kinder des Staatsanwalts wegen bleibender Promiskuität zwischen Politik und organisiertem Verbrechen nicht an den offiziellen Gedenkfeiern teilnehmen. Das Thema Mafia ist aber beileibe kein rein italienisches, mahnt die Krimiautorin: "In Deutschland wird viel über 'Clanfamilien' geredet und über sogenannte Parallelgesellschaften. Aber darüber, wie sich die Parallelwelt der italienischen Mafia seit Jahrzehnten ungehindert ausgebreitet hat, wird kein Wort verloren: Die Mafia-Zugehörigkeit allein ist in Deutschland bis heute kein Strafbestand, deutsche Politiker ignorieren das Thema, und die Mafia freut sich darüber. Solange ein Mafioso in Deutschland legal lebt und sein Geld, das er mit Mord, Prostitution, Giftmüll, Menschen-, Drogen- und Waffenhandel verdient hat, hier investiert, bekommt er keine Probleme."

Bisher galt in Ungarn: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Aber wer für uns ist, der wird es nicht bereuen" - Orbans Klientelpolitik kam vor allem Fidesz-nahen Konzernen und Großfamilien zugute, schreibt Cathrin Kahlweit in der SZ. Aber seit das Geld aus Brüssel nicht mehr fließt, gibt es Demonstrationen und Straßenblockaden in ungarischen Großstädten: "Auch die Anbiederung an Moskau und die hohe Abhängigkeit von russischem Gas, die Orbán weit mehr als andere EU-Politiker zelebrierte und als Beweis seiner strategischen Intelligenz feierte, rächt sich jetzt. Die Regierung kämpft gegen den Kontrollverlust. Aber die vielen ineinandergreifenden, durch den Ukrainekrieg verstärkten Weltkrisen, für die Ungarn besonders schlecht gerüstet ist, werden Viktor Orbán schon bald zu ungewohnter Demut zwingen."
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Politik

Der Geograf Benedikt Korf und die Sozialanthropologin Christine Schenk versuchen sich in der FAZ einen Reim auf die Unruhen in Sri Lanka zu machen. Für sie strukturiert immer noch der ethnische Gegensatz zwischen Singhalesen und Tamilen das Land, obwohl der Aufstand gegen den singhalesischen Präsidenten Gotabaya Rajapakse von seiner Volksgruppe ausging. Auf die gewaltsame Ökologisierung der Landwirtschaft durch Gotabaya, die am Ursprung der Unruhen stand, gehen die Autoren nicht ein. "Im Norden und Osten, wo viele Muslime und Tamilen leben, blieb es bisher ruhig. 'Gota' war nie der Präsident der Minderheiten. Die Rajapakses stehen für eine Ethnokratie, nämlich die autokratische Herrschaft der singhalesisch-buddhistischen Mehrheit, in der ethnisch-religiöse Minderheiten unterdrückt und als Sündenböcke instrumentalisiert werden. Die Ethnokratie war lange für viele Singhalesen attraktiv, brachte sie doch vielen etwas Wohlstand. Bis die akute Wirtschaftskrise das süße Gift der Ethnokratie unwirksam werden ließ."
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Stichwörter: Sri Lanka, Landwirtschaft

Religion

Die taz lässt im großen Debattenbeitrag auf ihrer Meinungsseite den Politologen Farid Hafez über die "islamophoben" Regierungen der Länder Österreich, Dänemark und Frankreich klagen, ohne zu erwähnen, dass Hafez wegen eines "European Islamophobia Report" scharf kritisiert worden war, der von der EU in Auftrag gegeben und finanziert und von Autoren einer der türkischen Regierung nahestehenden Stiftung verfasst worden war (unser Resümee). Diese Stiftung hatte unter anderem türkische Journalisten denunziert, die für westliche Medien arbeiten. Heute beklagt Hafez, dass dem sogenannten "politischen Islam" - Organisationen, die den Muslimbrüdern oder auch der türkischen oder iranischen Regierung nahestehen - "eine subversive politische Tätigkeit unterstellt (wird). Sie würden ihre europäischen Nationalstaaten unterwandern. Anders gesagt: Politische Partizipation wird argwöhnisch betrachtet. Hinter jedem Muslim und jeder Muslimin wird die potenzielle Vertretung einer aufrührerischen politischen Gesinnung gesehen, die die politische Ordnung zu destabilisieren droht."
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Kulturpolitik

Die taz bringt eine Doppelseite mit Weiterungen zum Gurlitt-Skandal - zur Erinnerung, Hildebrand Gurlitt war der Kunsthändler, in dessen Nachlass viele Bilder der "Entarteten Kunst"-Ausstellung gefunden worden waren. Die Affäre hatte ihren Höhepunkt im Jahr 2013 (unsere Resümees). taz-Redakteur Thomas Gerlach erzählt heute von Hans Prolingheuer, der schon in den frühen Neunziger Pionierarbeit zum Schicksal der Bilder der Ausstellung geleistet hatte, und vom "evangelischen Kunstdienst, ursprünglich gegründet, um moderne Kunst in Kirchen zu etablieren", der sich dann den Nazis angedient hatte, die um die 15.000 Werke zu "verwerten". Seine wichtigste Mitarbeiterin war Gertrud Werneburg, geboren 1901 in Thüringen.

Mit ihr hatte Prolingheuer 1991 ein Interview geführt, das die taz nun erstmals veröffentlicht. Sie hatte mit dem Preis, zu dem die Werke verkauft wurden, nichts zu tun, beteuert sie. "Ich habe nur gehandelt. Und am Schluss haben sie (Abteilung im Propagandaministerium; d. Red.) sie nahezu verschenkt, weil sie eben Dollar haben wollten. Und die (Kunsthändler) haben gesagt, wenn wir einen Dollar oder vier Dollar geben, kriegen wir auch ein Bild. Da haben sich Leute bereichert, ich kann Ihnen sagen, die haben alle Geschäfte gemacht. Ich wollte nichts damit zu tun haben und ich hatte auch nichts damit zu tun. Mir haben später Leute erzählt, wie sie die Bilder für Pfennige gekriegt haben. Ein Herr, der hat einen Feininger gehabt, den hat er später für 200.000 Mark verkaufen können. Er hat mir selbst erzählt, dass er sich ein Haus dafür in Westdeutschland gekauft hat."
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Ideen

Im großen NZZ-Gespräch mit Paul Jandl erklärt Marlene Streeruwitz (aktuelles Buch: "Handbuch gegen den Krieg"), weshalb sie von Interventionen wie jener von Habermas (Unsere Resümees) nichts hält: "Es ist einfach Lip Service, weil der, der solche Texte schreibt, ja sonst gar nichts unternehmen muss. Die Gedankengebäude der Philosophie sind immer männlichkeitsimmanent gedacht worden und haben noch nie zu etwas beigetragen, das in irgendeiner Form Frieden sein könnte. Alle Eltern kennen aus ihrer dauernden Fürsorge für das Kind diese stete Zeitlichkeit. In der ist alles wichtig. Es gibt nicht das Einzelereignis. Die Philosophie in allen ihren Diskursen weiß nichts von dieser Zeitrechnung des Lebens. Die männlichen Wortmeldungen zum Krieg kommen alle aus derselben Entfremdung, über die man nur lachen kann. Herr Habermas schreibt auch aus der reinsten Entfremdung heraus und ist damit schon wieder ein Kriegsmitarbeiter für das Patriarchat."

Auf ZeitOnline geht Magnus Klaue der "Sektenförmigkeit" der Woke-Bewegung  - und ihrer Gegner nach: "Die 'Wachheit', zu der der Wokeness-Appell auffordert, ist das Gegenteil von Ansprechbarkeit und Erfahrungsoffenheit. Sie zielt darauf, jeden Aspekt des privaten und beruflichen Lebens an einem rigiden politmoralischen Raster zu messen und alles, was durch dieses Raster fällt, zu dokumentieren, zu melden und zu sanktionieren. Moral wird nicht als ideologischer Niederschlag einer bestimmten Gesellschaftsformation verstanden, sondern als Grundlage einer puritanisch geläuterten Zukunft, der auf allen Gebieten des Lebens entgegengekommen werden muss. (…) An die Stelle des Realitätsprinzips, des Konkurrenzprinzips, des Primats des besseren Arguments und des aufgeklärten Eigeninteresses setzen sektenförmige Gemeinschaften den ungeglaubten, aber umso blindwütigeren Glauben: Sie beruhen nicht auf der Logik von Überzeugung und Kritik, sondern von Konversion und Häresie. Wer bedingungslos mitmacht, gilt als Erweckter, wer nicht mitmachen will, als Verstockter, wer sich abwendet, als Abgefallener."

Außerdem: Im Tagesspiegel-Gespräch mit Benjamin Lassiwe spricht der evangelische Theologe Wolfgang Huber über sein neues Buch "Menschen, Götter und Maschinen", in dem er eine "Ethik der Digitalisierung" entwirft.
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Geschichte

Sehr kritisch setzt sich Hubertus Knabe in seinem Blog mit dem in Berlin geplanten sehr aufwändigen Dokumentationszentrum "Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa" auseinander. Im sechzigseitigen Konzept zum Zentrum fallen ihm Leerstellen auf: "Entgegen der postulierten 'europäischen Ausrichtung' des Zentrums spielen auch die unterschiedlichen Sichten in Europa auf den Krieg keine Rolle. Für Osteuropa ist zum Beispiel der Hitler-Stalin-Pakt ein zentrales Moment, weil der deutsche Überfall auf Polen ohne diesen nicht möglich gewesen wäre. In dem Ausstellungskonzept wird er ebenso wenig erwähnt wie die Besetzung Ostpolens durch die Rote Armee. In Übereinstimmung mit dem selektiven Geschichtsbild des russischen Präsidenten Waldimir Putin tritt ausschließlich Deutschland als Verantwortlicher in Erscheinung."
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