9punkt - Die Debattenrundschau

Wie vor dem Ersten Weltkrieg

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.08.2022. In der FR erzählt die afghanische Autorin Fatema Key, was es heißt, um  seine Lebensperspektiven beraubt zu sein. Der russische Krieg gegen die Ukraine ist ein Kolonisierungsprojekt, sagt der Kiewer Kulturwissenschafter Vasyl Cherepanyn im Standard. Der Einfluss der Anthroposophie und damit der Impfskepsis reicht bis in die Charité, warnt die FAZFAS und NZZ fragen, ob ein Krieg zwischen China und den USA überhaupt noch zu verhindern ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.08.2022 finden Sie hier

Politik

"Mir geht es nicht gut. Ich bin sehr wütend. Auf mich und auf alle", schreibt die afghanische Autorin Fatema Key in einem Brief an die Berliner Schriftstellerin Svenja Leiber (nachzulesen in der FR). "Ob ich denn nicht bald heiraten möchte, wurde ich vor ein paar Tagen in einer Runde von meinen Freundinnen gefragt. Ich hätte weinen können. Vor dem Fall der Regierung habe ich keinen einzigen Gedanken ans Heiraten verschwendet. Mein Studium hatte für mich bisher immer oberste Priorität. Aber jetzt, da alles so unerreichbar für mich geworden ist, ist eine Heirat vielleicht die einzige Option, die ich noch habe. In den Jahren, in denen man mir meine Ausbildung verweigerte, träumte ich fast jede Nacht, ich sei in der Schule. Jetzt bin ich mir sicher: Wenn man mich dazu zwingt, zu heiraten und eine Familie zu gründen, werde ich jede Nacht davon träumen, mein Studium in einem anderen Land fortzusetzen oder dort an einer anerkannten Institution zu arbeiten."

Die Taliban streben zwar anders als bei ihrer letzten Herrschaft internationale Anerkennung an, doch der Islamwissenschaftler Idris Nassery hält dieses Ansinnen in der FAZ vorerst für nicht besonders realistisch: "Obwohl die Taliban sich rühmen, keine Anschläge auszuüben, gibt es wöchentlich Attentate und Terrorangriffe durch IS-Khorasan und andere Gruppen. Von einer Kontrolle des Staatsgebietes kann daher keine Rede sein. Auch wird inzwischen beobachtet, dass sich alte und neue Widerstandsgruppen organisieren und die von den Taliban behauptete Kontrolle infrage stellen. Und natürlich sind die Taliban, die Wahlen ablehnen und die afghanische Verfassung 2004 für 'unislamisch' erklärten, keineswegs im Einklang mit der zuvor geltenden Rechtsordnung zur Macht gelangt."

In der NZZ erzählt die gerade in Israel lebende Schriftstellerin Mirna Funk, wie es ist, mit seinen Kindern unter dem Raketenbeschuss aus Gaza zu leben: "Alltag in Israel. Da macht dir der Islamische Jihad eben die Wochenendplanung kaputt. Dann Essen. Kein Wort zum Konflikt. Wozu auch? Alles schon hundertmal erlebt. Alles schon hundertmal durchgekaut. Eine Existenz im Grenzbereich zwischen Leben und Tod. Und das in Dauerschleife. Da wird man mürbe und auch ein bisschen resilient."

Vor 75 Jahren wurde das britische Indien in Indien und Pakistan aufgeteilt. Das gab Hunderttausende Tote, und die beiden Nationen leben seitdem in herzlicher Intimfeindschaft. Der indische Autor Pankaj Mishra und sein pakistanischer Kollege Ali Sethi sehen im Guardian Hoffnung im gemeinsamen kulturelllen Erbe, das trotz der strikten Abschottung der Länder lebendig bleibe: "Kein anderer Langzeitkonflikt, sei es zwischen Nord- und Südkorea oder Israel und Palästina, bietet solche Beispiele für tiefgreifende Affinitäten über streng kontrollierte Grenzen hinweg. Nirgendwo sonst auf der Welt unterlaufen emotionale und philosophische Fähigkeiten, die über Jahrhunderte hinweg gediehen sind, weiterhin so sehr das moderne politische Ultimatum, sich einer brutal monolithischen Identität anzupassen."

Ist ein Krieg zwischen den USA und China überhaupt noch zu verhindern, fragt Mark Siemons in der FAS. Er verweist auf das Buch "The Avoidable War" des ehemaligen australischen Premierministers Kevin Rudd. Es sei "eine einzige Warnung davor, dass die Welt sich in einen apokalyptischen Krieg hineinredet, indem sie sich wie vor dem Ersten Weltkrieg weismacht, mit einer begrenzten Konfrontation lasse sich irgendeine Spannung lösen. Jedoch: 'History tends not to believe in limited wars.' Für beide Seiten sei es leicht, sich unilaterale Maßnahmen auszudenken, wie sie der anderen begegnen könne."

Ebenfalls in der FAS beschreibt die frühere Kulturministerin Taiwans und Publizistin Lung Yingtai die Stimmung unter Intellektuellen in Taiwan: "Die Ukraine gibt auch ein erschreckendes Beispiel ab. Mut ist zweifellos bewundernswert, doch die fürchterliche Aussicht auf Vernichtung sollte gleichfalls zu denken geben. Von den USA abhängig sein? Wann hätten die USA sich jemals als zuverlässig erwiesen? Die politischen Umstände diktieren die Ausrichtung der Macht, und nationale Interessen haben größeres Gewicht als internationale Gerechtigkeit."

In der NZZ scheint Junhua Zhang vom European Institute for Asian Studies einen Krieg mit China für fast unvermeidbar zu halten: "Die Uno ist in ihrem Ist-Zustand nicht in der Lage, das Problem zu lösen. ... Die große chinesische Militärübung hat den sicherheitspolitischen Status quo erheblich verändert, da Schiffe und Flugzeuge der PLA künftig routinemäßig östlich der bisher respektierten Mittellinie in der Meerenge trainieren werden. Auch als Fischerboote getarnte Schiffe oder Drohnen werden diese Grenze häufiger durchstoßen. Und die taiwanischen Behörden werden sich den Kopf darüber zerbrechen, wie sie darauf reagieren sollen. Mittelfristig haben ausländische Investoren noch ein paar Jahre Zeit, um, vom Krieg verschont, in China aktiv zu sein. Aber die Zeitbombe eines umfassenden Konflikts mit Taiwan wird noch zu Xis Amtszeit explodieren. Darauf sollte die Welt gefasst sein."
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Ideen

Und was auf Twtter sonst noch so los ist:

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Gesellschaft

Hat es so etwas in der FAZ schon gegeben? Hinnerk Feldwisch-Drentrup publiziert als Feuilletonaufmacher einen wahren Rundumschlag gegen die Anthroposophie. Sie ist wohl auch das wirksamste Uboot der Impfgegner im Mainstream - Unternehmen wie Alnatura, Dennree, Voelkel oder Tegut, die GLS-Bank und so weiter fühlen sich sämtlich der Lehre Rudolf Steiners verpflichtet. Feldwisch-Drentrup spricht auch mit Harald Matthes von der anthroposophischen Klinik in Berlin-Havelhöhe, der Corona auch mit "Meteoreisen-Globuli" bekämpft. Und auch hier wieder beste Vernetzung: "In Deutschland gibt es inzwischen einige anthroposophische Kliniken und Lehrstühle - Matthes etwa ist Inhaber eines solchen an der Charité, finanziert von der anthroposophisch ausgerichteten, milliardenschweren Software AG Stiftung. Der Charité-Leitung bereitet er teils Probleme: So mit einer simplen Umfrage zu Nebenwirkungen von Corona-Impfungen, die anfangs unter Homöopathen und Anthroposophie-Anhängern gestreut wurde und bei der mehr als 40.000 Menschen mitgemacht haben sollen. Dem MDR sagte Matthes, demnach seien vierzigmal so viele schwere Nebenwirkungen aufgetreten wie amtlich bekannt - 'Halbe Million Fälle mit schweren Impf-Nebenwirkungen', titelte die Berliner Zeitung, der MDR berichtigte seinen Bericht später. Die Charité distanzierte sich."
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Europa

"Ich will daran mitwirken, die Dekolonisierung der postsowjetischen Länder von Russland voranzubringen", erklärt der Kiewer Kulturwissenschafter Vasyl Cherepanyn im Interview mit dem Standard. Er hat keinen Zweifel, dass der Krieg gegen die Ukraine ein Kolonisierungsprojekt ist: "Im Westen haben beim Thema Dekolonisierung alle nur den Globalen Süden vor Augen. Dieselben Standards müssten aber im postsowjetischen Raum auch angewandt werden. Es ist versteckter Kolonialismus, der hier passiert. Dieser ist nur nicht so sichtbar, weil es dabei nicht um Hautfarbe geht."

Vor genau 15 Jahren wurden vor einem Duisburger Restaurant sechs Italiener förmlich niedergemäht. Die Morde waren Teil eines Kriegs zwischen zwei Clans der 'Ndrangheta. "Wer nun denkt, dieses blutige Ausrufezeichen hätte die bundesrepublikanische Öffentlichkeit dauerhaft wachgerüttelt, der irrt", konstatiert die Politologin Theresa Reinold in der taz: und fragt, ob Geld und Netzwerke im Spiel sind: "Indizien deuten jedenfalls auf eine durchaus kuschelige Beziehung zwischen Thüringer Eliten und kalabrischer Mafia hin." Ein Untersuchungsausschuss soll jetzt klären, warum Ermittlungen gegen die 'Ndrangheta einfach eingestellt wurden.
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