9punkt - Die Debattenrundschau

Sichtbar Respekt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.09.2022. Das Humboldt-Forum ist nun komplett eröffnet, wenn auch niemals fertig. Die Zeitungen sind halb froh, halb unfroh. Putin Und Xi Jinping haben sich auf Xis erster Auslandsreise seit Corona zum ersten Mal getroffen - aber nicht zum Dinner, meldet Reuters. Die FAZ ist erleichtert, dass Politik in Deutschland nicht läuft wie in Großbritannien: Sonst würden Politikerreden von Theaterkritikern zerfetzt. Rubin fragt, warum der Untergang des Textilindustrie in NRW längst nicht so viel Phantomschmerzen verursacht wie der des Bergbaus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.09.2022 finden Sie hier

Kulturpolitik

Gedenkkopf einer Königinmutter (Nigeria) im Ausstellungsbereich "Benin-Bronzen in Berlin" des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum © Staatliche Museen zu Berlin / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss / Alexander Schippel

Es ist so weit: Das Humboldt Forum öffnet die letzten Pforten, ab heute ist neben dem Asiatischen Museum auch das Ethnologische Museum geöffnet. In der SZ traut Jörg Häntzschel direkt am Eingang seinen Augen kaum, wenn in einem Wandtext die Worte "Erwerbungen" und "Sammlungen" in Anführungszeichen gesetzt sind. Radikaler kann man seine gesamte Existenz nicht als "fragwürdig bis verlogen" bloßstellen, meint er. Immerhin, der Benin-Saal, der vierzig Bronzen zeigt, sei als einer der wenigen Säle nicht von "Ratlosigkeit und Verzagtheit" erfüllt. Der Rest: "Konzeptuell verloren". "Warum ist ein Saal achselzuckend mit 'Aspekte des Islam' überschrieben, statt dort zum Beispiel eine Geschichte der Islamophobie oder des radikalen Islamismus zu erzählen? 'Wir sehen die Sammlung nicht als Last, sondern als Chance', verkündete Parzinger bei der Pressekonferenz am Donnerstag - und gab damit ungewollt zu, wie schwer es ihm und seinen Mitarbeitern offenbar fällt, die tausenderlei alten Dinge mit dem 'neuen Diskurs' zu vereinbaren, den er 'wagen' will - in jener Zukunft, die das Humboldt-Forum nun schon seit seiner Erfindung vor zwanzig Jahren vor sich herschiebt."

Als das Humboldt-Forum vor zwanzig Jahren konzipiert wurde, sollten die Schätze des Ethnologischen und des Asiatischen Museums die Weltoffenheit der neuen Institution mitten in der restaurierten Mitte Berlins unterstreichen, erinnert Andreas Kilb in der FAZ. Und resümiert in drei Sätzen, was danach kam: "Inzwischen hat sich die Beweislast zuungunsten der Museen umgekehrt. Jetzt hängt ihre Zukunftsfähigkeit an ihrer Bereitschaft, ihre Stücke zurückzugeben oder von Kuratoren aus den Herkunftsländern neu deuten zu lassen. Das Humboldt-Forum ist, wie es Hermann Parzinger, der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, bei der Vorstellung der neuen Museumssäle im Ostflügel ausdrückte, vom Ausstellungs- zum Aushandlungsraum geworden." Aber die Fokussierung auf Afrika drängt auch andere Höhepunkte der Schau in den Hintergrund, versichert Kilb und rät zum Besuch.

In der Welt streift Matthias Busse an leeren Vitrinen vorbei und notiert, was fehlt. Neben einigen eingeplanten Objekten vor allem im Benin-Saal auch Informationen: "Der Saal soll angeblich ein in Nigeria herrschendes Museumsverständnis vermitteln. Auf Zetteln werden lediglich technische Daten zum Objekt geliefert: zum verwendeten Material und dem Sammler. Dürftige, über die Objekte gepinnte Erklärungen bleiben weit dahinter zurück, was Stand der 120 Jahre andauernden Benin-Forschung ist. Es stellt sich daher die Frage, welche neuen Erkenntnisse die zehnjährige Zusammenarbeit des Museums innerhalb der Benin-Dialoggruppe mit nigerianischen Wissenschaftlern und Vertretern des Hofes brachten?" Versöhnlicher klingt Nicola Kuhn bei Tagesspiegel+: "Der Geschichte Benins wird sichtbar Respekt gezollt, und auch die kümmerlichen Reaktionen des Berliner Völkerkundemuseums auf die ersten Restitutionsersuchen in den 1930er Jahren werden ungeschönt dargestellt."

Maritta Adam-Tkalec hat für die Berliner Zeitung unter anderem mit Wynema Morris, die dem indianischen Volk der Ohama gesprochen, die viele Ohama-Werke erstmals in Berlin sah. "'Der Wunsch, das kulturelle Erbe wieder zu erobern, ist erwacht', berichtet Wynema Morris von den Omaha, 'aber es tut sich ein Schlachtfeld auf.' Die amerikanische Regierung habe zwar die Möglichkeit eröffnet, Objekte zurückzufordern - jedenfalls von den großen, föderalen Museen wie dem Smithsonian oder dem in Berkeley, die über entsprechende Sammlungen verfügen: 'Das Gesetz ist auf Seiten der Indianer, die spannen die Muskeln. Doch die Museen kooperieren nicht.' Noch komplizierter liegt die Frage der sogenannten Repatriierung im Falle privater Museen."
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Politik

Xi Jinping blieb gestern Abend dem Dinner mit Wladimir Putin lieber fern, meldet Reuters. Dabei befindet sich Xi auf seiner ersten Auslandsreise seit Jahren und soll Putin in einem Asien-Gipfel Rückendeckung geben. Aber offenbar fand sich kein Tisch, der lang genug war, um Xis Angst vor Corona Ausdruck zu geben! "Xi, der seine erste Auslandsreise seit Beginn der Pandemie unternimmt, nimmt diese Woche an einem Treffen der von China und Russland geführten Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit in der usbekischen Stadt Samarkand teil. Er war jedoch nicht auf den Gruppenfotos zu sehen, die am späten Donnerstag veröffentlicht wurden, als die Staats- und Regierungschefs, darunter der russische Präsident Wladimir Putin und der türkische Präsident Tayyip Erdogan, zum Abendessen gingen."
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Stichwörter: Corona

Europa

Russische Trolle manipulierten neulich eine Rede Annalena Baerbocks, wo sie versprach, weiter für die Ukraine einzustehen, und ließ ihre Intervention so erscheinen, als wäre ihre Loyalität gegenüber der Ukraine größer als gegenüber ihren eigenen Wählern. Die Manipulation verfing in sozialen Medien und bei Putin-Freunden, schreibt Richard Herzinger in seinem Blog: "Die dahinter steckende Propagandalüge, nach der Europa nur in gutem Einvernehmen mit Russland wirtschaftlich prosperieren könne, wird in Deutschland von der rechtsextremen AfD ebenso eifrig verbreitet wie von großen Teilen der SED-Nachfolgepartei Die Linke. Doch auch die Argumentation vermeintlich seriöser Politiker der 'bürgerlichen Mitte' folgt diesen vom russischen Aggressor vorgegebenen Prämissen russischer Desinformation."

Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten sind die größten Sieger der jüngsten schwedischen Wahlen und werden wohl eine konservative Minderheitsregierung stützen, vermutet die Politologin Jenny Jansson im Gespräch mit Klaudia Lagozinski von der taz. Auf die Frage, ob die Partei so rechts sei wie die AfD, antwortet sie: "Die Schwedendemokraten haben sich verändert, seit sie im Parlament sitzen. Doch ihre Wurzeln liegen in der Neonazi-Bewegung im Schweden der 1980er Jahre, in rassistischen Organisationen wie Bevara Sverige Svenskt. Der durchschnittliche Schwedendemokrat ist heute wahrscheinlich nicht rechtsradikal. Sind sie eine Gefahr für das System? Nun, sie sind ziemlich klug. Sie könnten das System auf lange Sicht stören und etwa dafür sorgen, dass in Zukunft weniger Migranten in Schweden leben." Von den außenpolitischen Positionierungen der Partei ist im Gespräch leider nicht die Rede.

Liz Truss wirkt in öffentlichen Reden unbeholfen und macht damit das britische Publikum unglücklich. Und die Presse spottet. Wie würde sie erst deutsche Politiker bewerten, fragt man sich, wenn man Eva Ladipo in der FAZ liest: "Quentin Letts ist Theaterkritiker der Times. Außerdem rezensiert er regelmäßig die Auftritte britischer Politiker: 'Das Parlament ist eine Bühne', sagt er. Denn jede Woche muss der hiesige Regierungschef unter lautem Grölen seiner Fraktion vors Unterhaus treten, sich rhetorisch mit dem Oppositionsführer messen und die Vorführung von der versammelten Presse bewerten lassen. Für deutsche Kanzler und Kanzlerinnen unvorstellbar."
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Medien

Die ARD gab eine Pressekonferenz mit WDR-Intendant Tom Buhrow und dem neuen ARD-Vorsitzenden Kai Gniffke. Der RBB-Skandal irrlichterte nur noch von ferne, man wolle sich neue Compliance-Richtlinien geben, berichtet Michael Hanfeld in der FAZ. "Jetzt, so hat man den Eindruck, sollen die Dinge wieder ihren Gang gehen." Und "im nächsten Atemzug ist dann schon wieder von 'knapper werdenden Ressourcen' die Rede und Belegschaften, die das hart treffe. Wie bitte? Knapp bei Kasse sind die Öffentlich-Rechtlichen nicht wirklich, sie haben mehr Geld denn je: 8,4 Milliarden Euro aus dem Rundfunkbeitrag plus mehr als eine Milliarde Zusatzeinnahmen." Alle Landesrgierungen sind zufrieden mit ihren Sendern, nur in Sachsen-Anhalt und in Thüringen regt sich noch Widerspruch, schreibt Helmur Hartun in einem zweiten Artikel.
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Geschichte

Im Grunde war Michail Gorbatschow ebenso wenig Demokrat wie sein langjähriger Freund, der tschechoslowakische Politologe Zdeněk Mlynář, der vermutlich wichtigste Theoretiker des Prager Frühlings, schreibt der schwedische Schriftsteller Richard Swartz in der NZZ. Gorbatschow, früh geprägt von Mlynář, glaubte bis zuletzt, das System hätte reformiert werden können, vermutet Swartz: "Fest steht, dass Gorbatschows Reformen Anbindungen an den Prager Frühling im Allgemeinen und an dessen Aktionsprogramm im Besonderen hatten. Hier fand er seine Vorbilder: eine Gesellschaft für und nicht gegen ihre Bürger, die Einsicht, in der Wirtschaft dem Markt einen größeren Einfluss zulasten des Plans zu gewähren, mit höherem Konsum und Preisen, die Angebot und Nachfrage widerspiegelten, nicht politisch diktiert waren. Fest stand auch, dass Veränderungen dieser Art vom existierenden System rasch erstickt würden, wenn nicht zeitgleich die Meinungsfreiheit die Zensur ersetzte. Mlynář hatte in seinem Aktionsprogramm mehrfach die Notwendigkeit von 'Pluralismus' betont, ohne damit ein Mehrparteiensystem zu befürworten."

Die Bekleidungsindustrie hatte in NRW einst genauso viel Beschäftigte wie der Bergbau. Heute weiß das allerdings kaum noch jemand, notieren die Ruhrbarone und verweisen auf einen Artikel in Rubin, einem Online-Magazin der Ruhr-Universität Bochum. In dieser Industrie arbeiteten vor allem Frauen, und die wurden von der Politik wissentlich geopfert, heißt es dort unter Bezug auf die Historikerin Alice Gorny, die zum Thema forscht: "In den 1970er-Jahren sah sich die exportstarke Bundesrepublik gezwungen, den Aufbau von Industrien in den damaligen Schwellenländern zu unterstützen und Waren zu importieren - um im Gegenzug neue Märkte für den Export zu erschließen. Die Schwellenländer sollten lieber in der Bekleidungsbranche erstarken als im Technologiesektor, in dem Deutschland selbst Ambitionen hatte. 'Die Politiker sahen auch keine Notwendigkeit, dass Frauen Arbeit hatten, weil sie ja noch einen Ernährer zuhause hatten. Außerdem herrschte die Meinung vor, dass es in der Bekleidungsindustrie sowieso keine schönen Jobs gäbe', führt Gorny aus." Mehr auch in einem Blogbeitrag Gornys.

Außerdem: In einer ausführlichen Reportage erinnert Hanna Voß in der taz an die Massaker von Sabra und Schatila vor vierzig Jahren.
Archiv: Geschichte