9punkt - Die Debattenrundschau

Zu keiner Zeit freiwillig

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.10.2022. "Und dann wickeln sie dich wieder in einen Schleier, um zu verstecken, was sie dir angetan haben", sagt Nasrin Sotudeh im Gespräch mit der Zeit. In der FAZ und der NZZ wird über das Thema Integration nachgedacht. In scharfem Ton fordert der polnische Journalist Grzegorz Jankowski in der Welt die deutsche Regierung auf, die polnischen Reparationsforderungen von 1,3 Billionen Euro zu akzeptieren. Auch Ronen Steinke findet die polnische Forderungen in der SZ keineswegs abwegig.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.10.2022 finden Sie hier

Europa

In aller Schärfe fordert der polnische Journalist Grzegorz Jankowski in der Welt die deutsche Regierung auf, die polnischen Reparationsforderungen von 1,3 Billionen Euro zu akzeptieren, um die deutsche Schuld zu tilgen - und dafür zu sorgen, dass "Polen nicht noch einmal in die mörderischen Klauen von Ost und West gerät": "Wenn Berlin die Forderung ablehnt, sich an den Verhandlungstisch über die Kriegsreparationen zu setzen, zeigt es Polen und ganz allgemein Mitteleuropa, dass es unsere Region weiterhin als ein Feld der reinen wirtschaftlichen Ausbeutung behandeln wird. Langfristig ist dies jedoch eine destruktive Politik, die das Potenzial für weitere Konflikte und neue Kriege (wie den in der Ukraine) in sich trägt. Es ist eine Politik, die sich im Grunde immer mit der Politik Moskaus decken wird, die von der Annahme ausgeht, dass an der Westgrenze Russlands kein Platz für starke Staaten ist."

Abwegig findet Ronen Steinke in der SZ die polnischen Reparationsforderungen keineswegs. Israel und westeuropäische Länder haben nach dem Krieg  Zahlungen erhalten, wenn auch längst nicht in der von Polen geforderten Höhe. Stalin hatte nach dem Krieg solche Forderungen unterbunden, erläutert Steinke: "Polen ist nach 1945 zu keiner Zeit freiwillig von Reparationsansprüchen zurückgetreten. Sondern das Land hat sich, befreit durch die Rote Armee, einem Diktat aus Moskau beugen müssen, das lautete: Von Westdeutschland wird kein Geld gefordert. Der polnische Ministerrat erklärte 1953 ebenso wie die UdSSR den Verzicht auf weitere deutsche Kriegsreparationen, 1970 bestätigte Polens Vizeaußenminister Józef Winiewicz dies noch einmal." Deutschland beruft sich in seiner Antwort auf Polen auf einen bloß formal gültigen Rechtsakt, so Steinke.

Durch den Wahlerfolg der Fratelli d'Italia droht nicht ein neuer Faschismus in Italien, schreibt der Politologe Angelo Bolaffi in der FAZ. Beunruhigend ist er dennoch, aber vor allem, weil zuvor durch einen Mischmasch politischer Spekulaton aus allen Parteien die erfolgreiche und populäre Regierung Mario Draghi abgesetzt wurde: "Eine Kamarilla von Parteien hat, statt von der 'Regentschaft Draghi' zu profitieren und einen programmatischen Neuanfang zu wagen, gleich einem Zauberlehrling einen Prozess in Gang gesetzt, der sie dann selbst überrollte. Dadurch gelangte FdI ins Blickfeld der Wähler, die darin vielleicht nicht die bessere Wahl, aber das 'kleinere Übel' sahen. Diese Wähler, die laut Meinungsumfragen sehr zufrieden waren mit der Regierung Draghis, gaben ihre Stimme nun der einzigen Partei, die in der Opposition Entschlossenheit gezeigt hat - ein Paradox, das unter anderen Umständen völlig unverständlich wäre."
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Medien

Auf ein Medienkuriosum macht Ralf Leonhard in der taz aufmerksam. Die Wiener Zeitung, meldet er, wird demnächst nur mehr monatlich erscheinen: "Die Zeitung steht seit 1918 im Alleineigentum der Republik, die sie auch finanziert. Zusätzlich müssen Unternehmen Insolvenzen, Gründungen und Ähnliches im beiliegenden Amtsblatt veröffentlichen und dafür bezahlen. Diese fallen aber demnächst weg, weil eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2019 exklusive Bekanntmachungen als indirekte Subvention verbietet." Trifft so etwas auch auf Deutschland zu - auch hier gibt es in den Zeitungen ja amtliche Bekanntmachungen?
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Politik

"Der Iran hat schon mehrere Aufstände erlebt - aber in keinem ging es so unmittelbar um die körperliche Lebenswirklichkeit von Frauen", schreibt Mariam Lau in der Zeit. "Die Anwältin Nasrin Sotudeh, selbst jahrelang vom Regime inhaftiert und derzeit auf Hafturlaub, beschreibt in einem Zoom-Gespräch, wie sie diese Tage erlebt: 'Für uns ist das seit 43 Jahren eine konkrete, physische Erfahrung. In einem Urteil nach dem anderen, in einem Gesetz nach dem anderen wird durch Kleidervorschriften nach unseren Körpern gegriffen', so Sotudeh, die jederzeit damit rechnen muss, erneut ins berüchtigte Evin-Gefängnis gebracht zu werden. 'Es geht nicht nur um einen Dresscode. Es geht um Vergewaltigung und andere Übergriffe. Sie schlagen dich grün und blau, und dann wickeln sie dich wieder in einen Schleier, um zu verstecken, was sie dir angetan haben.'"

Nein, es ist nicht dasselbe, wenn Frauen Kopftuch tragen müssen - und sie andernorts daran gehindert werden, das Kopftuch tragen zu dürfen, ruft Shila Behjat in der Welt (in der Rubrik "Zu Guter Letzt"): "Dies zu behaupten, ist eine gerade zu unbarmherzige Missachtung, dessen, was derzeit passiert. Junge Frauen, junge Menschen sterben auf den Straßen iranischer Städte, und zwar genau jetzt, aber eben nicht erst seit jetzt: Im Grunde ist es für Frauen in Iran seit über 140 Jahren eine blutgetränkte, zähe, niederschmetternde Befreiungsgeschichte. Doch nun holen viele, die sich als Feministinnen bezeichnen, vom Sofa aus zum relativierenden Rundumschlag aus: Dies sei eben der Kampf, den Frauen derzeit weltweit kämpfen müssten - ob in Iran, wo sie sich vom Kopftuch befreien wollen, in Indien, wo Mädchen mit Kopftuch daran gehindert werden, in die Schule zu gehen, oder in den USA, wo das Recht auf eine legale Abtreibung gekippt wurde. So wird die Debatte sterilisiert, entpersonalisiert und verwässert."

Auch in Ankara demonstrierten Exil-Iranerinnen, um sich mit den Protesten in der Heimat zu solidarisieren, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. "Und welchen Ort wählten die Iranerinnen für ihre Kundgebung? Das Mausoleum Atatürks, des Gründers der modernen Türkei, der die Fundamente für die laizistische Lebensform legte. Während wir uns in unserem Land, in dem in den Neunzigern die Parole lautete, die Türkei werde nicht Iran, durch die Maßnahmen des Palastregimes Schritt für Schritt Iran annähern, strömen Menschen aus Iran bei uns auf die Plätze, damit ihr Land wie die alte Türkei wird."

600 deutsche Kulturschaffende solidarisieren sich in einem offenen mit den demonstrierenden Frauen im Iran, meldet unter anderem der Tagesspiegel. Das Kopftuch wird in dem Brief, der hier online steht, nicht benannt. Stattdessen heißt es: "Ihr zeigt euren Willen und eure Stärke. Ihr zeigt, dass ihr keine Gesetze hinnehmen möchtet, die eure körperliche Autonomie und eure Meinungsfreiheit einschränken. Ihr zeigt, dass die Befreiung von Frauen und queeren Menschen der Weg zur Befreiung aller ist."

Noch im Oktober wird Xi Jinping seine Macht für eine dritte Amtszeit betonieren. Seit Mao Zedong hatte kein Machthaber mehr das Land so im Griff, schreibt Xifan Yang in der Zeit: "Wer erfahren will, wie die Bevölkerung in China über den mächtigen KP-Führer denkt, stößt schon seit einiger Zeit auf eine Mauer des Schweigens. Auf den Straßen schauen Menschen verschreckt über ihre Schulter, sobald sie den Namen Xi Jinping hören. Im Netz wachen Zensoren so eifrig über jede Nennung des Staatschefs, dass viele nur noch 'er' oder 'derjenige' schreiben. Laut dem Internetportal China Digital Space sind 35.467 Ausdrücke im Zusammenhang mit Xi verboten. Selbst der einst geläufige, wohlwollende Spitzname 'Xi Dada', Onkel Xi, darf nicht mehr verwendet werden."
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Gesellschaft

"Dass Mädchen als 'unislamisch' gemobbt, judenfeindliche Beschimpfungen gerufen und demokratische Werte verachtet werden, ist Alltag in deutschen Klassenzimmern - und ein Tabuthema", schreibt der Psychologe Ahmad Mansour zum Auftakt der sechsteiligen Welt-Serie "Integration - die große Überforderung". Lehrer haben Angst, sofort als rassistisch oder islamophob bezeichnet zu werden, wenn sie die Probleme ansprechen, nicht zuletzt dank hunderter, von staatlich finanzierten NGOs entsandten Antirassismus-Experten, die die Schulen aufsuchen, fährt er fort: "In Politik und Medien sind Kräfte am Werk, die all das nicht hören wollen. Sie sind auf der Suche nach Akteuren, die ihnen Fantasien über Integration verkaufen. Nach dem Motto, 'Je mehr Konflikte, desto besser - die Integration funktioniert'. Die Zusammenhänge zwischen Migration und Messerangriffen werden geleugnet, Ehrenmorde als Femizide bezeichnet, kulturelle Ursachen verdrängt und Antisemitismus unter Muslimen durch Judenfeindlichkeit in der deutschen Mehrheitsgesellschaft relativiert. Anstatt Muslime oder Flüchtlinge als mündige Menschen zu behandeln, die für ihr eigenes Handeln Verantwortung übernehmen können und sollen, werden sie nur als Opfer angesehen."

Die FAZ zitiert Ergebnisse einer Studie des "Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR)" eines Expertengremiums, das die Politik berät. Antimuslimische und antisemitische Einstellungen werden hier auch getrennt für die Bevölkerung mit Migrationshintergrund erfasst. Beides gibt es in beiden Gruppen. Als antimuslimische Einstellung wird offenbar auch angesehen, dass vier von zehn Befragte angeben, "unter Muslimen in Deutschland seien viele religiöse Fanatiker": "Letzteres bejahen 38 Prozent der Personen ohne Migrationshintergrund, von den Befragten mit Migrationshintergrund sehen das rund 43 Prozent so." Zum Antisemitismus lautet das Resümee: "In der Bevölkerung mit Migrationshintergrund neigen Muslime häufiger zu antisemitischen Einstellungen als Christen und Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören."

Nach dem rechtsextremen Anschlag von Halle vor drei Jahren und einem vereitelten islamistischen Anschlag in Hagen im letzten Jahr konnten die jüdischen Gemeinden auch dies Jahr nicht unbehelligt Jom Kippur feiern, meldet unter anderem rnd.de: In der Synagoge in Hannover wurde während des Gottesdienstes ein Fenster eingeworfen.

Die NZZ startet eine Kolumne, in der sich die jüdischen Autorinnen Dana Vowinckel und Zelda Biller Briefe aus Berlin und Tel Aviv schreiben und über Antisemitismus in Deutschland austauschen. "Du sagst, du denkst nicht täglich an den Holocaust. Ich nehm dir das nicht ab. Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du denkst, das wird sich in Israel ändern, aber wo besser an den Holocaust denken als in Deutschland?", fragt Vowinckel. Biller, die nach Israel ziehen wird, antwortet: "Während du zu einer ostdeutschen Therapeutin gehst, die wahrscheinlich mehr von dir therapiert wird als du von ihr, mache ich eben Witze. Das heißt nicht, dass ich den immer dreister werdenden Antisemitismus nicht ernst nehme, es ist bloß mein Versuch, nicht verrückt zu werden. Meine Therapie. Ich gehöre außerdem nicht zu den Juden, die denken, dass es ihre Aufgabe ist, die Deutschen umzuerziehen. Das müssen die schon irgendwie selber hinbekommen - oder eben nicht. Ich amüsiere mich über diese Shitshow einfach so lange, bis ich keine Lust mehr habe, in einem Land zu leben, in dem kaum jemand ohne Scham oder Abscheu das Wort 'Jude' aussprechen kann."
Archiv: Gesellschaft