Efeu - Die Kulturrundschau

Die Referenzen sind mörderisch

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06.10.2022. Wer wird heute den Literatur-Nobelpreis erhalten? Das Komitee winkt auf Twitter schon mal mit dem Zaunpfahl. Der Tagesspiegel schaut in der Hamburger Kunsthalle auf den Atem. Die "weißen Boomer" sind schuld, dass die Jugend so woke ist, befindet die Dramaturgin Sabine Reich in der nachtkritik. Teodor Currentzis hat nie eine weltanschauliche Affinität zum russischen Regime erkennen lassen, insistiert das Van-Magazin, der Tagesspiegel widerspricht. Und nach dem Tod Godards verabschieden die Zeitungen mit Wolfgang Kohlhaase ein weiteres "wichtiges Kapitel der Nachkriegsfilmgeschichte".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.10.2022 finden Sie hier

Literatur

Das Nobelpreiskomitee erinnert mit einem Tweet an den ersten indischen Literaturnobelpreisträger: Rabindranath Tagore, der die Auszeichnung 1913 erhielt. Ein Wink mit dem Zaunpfahl, wer in diesem Jahr den Literaturnobelpreis erhält?


Außerdem: Lilly Brosowsky und Carlotta Wald machen sich in der SZ darüber Gedanken, wer in diesem Jahr wohl den Literaturnobelpreis erhalten könnte. In der NZZ setzt der Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort.

Besprochen werden unter anderem Linda Boström Knausgårds "Oktoberkind" (NZZ), Michael Manns Romanfortsetzung zu seinem Kinothriller "Heat" (TA), Helena Adlers "Fretten" (Standard), Seishi Yokomizos Krimi "Die rätselhaften Honjin-Morde" (FR) und Karine Tuils "Diese eine Entscheidung" (FAZ).
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Film

Der große Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase ist tot. Kurz nach dem Tod Godards (mehr dazu hier und dort) sieht FR-Kritiker Daniel Kothenschulte erneut "ein wichtiges Kapitel der Nachkriegsfilmgeschichte" abgeschlossen. Kohlhasse wirkte bei der Defa, dort "machte er sich einen Namen als Erneuerer des Studiokinos, als er mit dem Regisseur Gerhard Klein einen ostdeutschen Neorealismus prägte. ... Viele von Kohlhaases Drehbüchern porträtieren die DDR in einem selten gelebten Idealzustand, doch für Propaganda waren ihre Figuren dann doch zu individualistisch. 'Berlin um die Ecke' (1965), eine weitere Zusammenarbeit mit Klein, wurde noch im Rohschnitt verboten und konnte erst nach dem Mauerfall vollendet werden. Als Meister des Dialogs garantierte Kohlhaase seinen realistischen Stoffen einen menschlichen, stets geerdeten Tonfall." Und dass seine Karriere auch nach der Wende nicht abbrach, hatte auch damit zu tun, "dass er etwas beherrschte, was im bundesdeutschen Kino nach dem Ende des Neuen Deutschen Films zur Mangelware wurde: Eine glaubhafte soziale Verortung, verbunden mit einer selbstverständlichen Kombination aus Komik und Melancholie."

Kohlhaase hat sich bis zuletzt "seine unglaubliche Beweglichkeit bewahrt, zart und robust zugleich", schreibt Fritz Göttler in der SZ. "Er hat mit Unbestechlichkeit die Irrwege der DDR und danach des wiedervereinigten Deutschland registriert, all die sanften Widersprüche und Verletzungen, exemplarisch in drei Filmen mit Andreas Dresen ('Sommer vorm Balkon'). ... Die Vergangenheit in die Zukunft überführen, das ist das Kinoprojekt von Wolfgang Kohlhaase, das macht die Gegenwärtigkeit seiner Filme aus." Valerie Dirk erinnert im Standard an "Solo Sunny", Kohlhaases zu Zeiten der DDR im Westen wohl bekanntesten Film. "Wenn dort Renate Krößner als Ingrid 'Sunny' Sommer mit der Stimme von Jazzsängerin Regine Dobberschütz den melancholischen Song der staatlich verhinderten Diva in die Kamera singt, während ein beanzugter Mann sein Essen in sich hineinschaufelt, dann weiß man ganz genau: Im Realsozialismus stießen kreative Frauen auf ähnliche Hürden wie im Kapitalismus."



"Ich teile nicht den typischen Mittelschichtsblick auf die Welt: Die Armen sind nett und selbstlos und die Reichen böse und egoistisch", sagt Ruben Östlund im Zeit-Gespräch mit Thomas Assheuer und Katja Nicodemus, in dem erklärt, weshalb ihn der Kapitalismus fasziniert und er Angst vor der Modeindustrie hat: "Weil Schönheit zur Währung wird und Hierarchien bildet. Schönheit ist ein Ticket für den Aufstieg und überwindet Klassen. Im großen Gesellschaftsspiel ist das für Frauen in viel größerem Maße von Vorteil. Deshalb finde ich die MeToo-Bewegung so interessant. Sie sieht Sexualität und Schönheit nicht als eine Währung, die Macht bedeutet. Es geht mehr um Geschlechterrollen. Damit Sie mich nicht missverstehen: Ich will nicht die schrecklichen Erfahrungen von Frauen und gelegentlich auch Männern kleinreden. Doch wenn ich mich zu jemandem begebe, der eine Machtposition innehat, dann sollte ich nicht naiv sein und ignorieren, dass ich in diese Situation auch mit meiner eigenen Währung reingehe. Und diese Währung kann Sexualität sein."

Weiteres: Zig Filme und Serien, dazu ein Roman von Karen Duve: Marie Schmidt denkt in der SZ darüber nach, warum sich derzeit alle auf Kaiserin Sisi stürzen. Besprochen werden Ulrich Seidls "Rimini" (Perlentaucher, taz, NZZ, mehr dazu hier), Gina Prince-Bythewoods Historienspektakel "The Woman King" (Tsp, taz), die Wiederaufführung von Beatrice Manowskis Berliner Undergroundfilm "Drop out - Nippelsuse schlägt zurück" aus dem Jahr 1998 (Perlentaucher), Kristina Buozytes und Bruno Sampers SF-Film "Vesper" (SZ), die DVD-Ausgabe von Kenji Misumis "The Tale of Zatoichi" von 1962 (taz), die Disney-Serie "Pistol" über die Geschichte der Sex Pistols (taz) und Kurt Langbeins Dokumentarfilm "Der Bauer und der Bobo" (Tsp).
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Kunst

Bild: Installation, Serie von Fotografien und Glaskästen mit spezifischen geografischen Koordinaten. Privatbesitz. Courtesy the artist and Nature Morte, Delhi. Foto: Vibha Galhotra

Wir atmen etwa 23.000 Mal am Tag, der Atem ist in fast allen Weltkulturen gleichbedeutend mit der Seele, jüngst ist er dennoch in Verruf geraten, notiert Gunda Bartels im Tagesspiegel+. Wie aber macht man ihn sichtbar? Dieser Frage stellt sich die Hamburger Kunsthalle mit Werken von Francisco de Goya bis Jenny Holzer und Marina Abramovic in einer so "poetischen" wie "politischen" Ausstellung, fährt Bartels fort: "Nicht nur Krankheiten rauben Menschen den Atem, auch der Staat und die Industrie mit Smog als sicht- und riechbarem Fallout. Ihn versucht die indische Künstlerin Vibha Galhotra in ihrer Installation 'Breath by Breath' von 2016 wortwörtlich einzufangen. Wie eine Ritterin der traurigen Gestalt in einer pervertierten Spitzweg-Szenerie schwenkt sie ihr Schmetterlingsnetz in den Miasmen der Müllkippen und Schnellstraßen der Megacity Neu-Delhi. Dicke Luft allüberall. Saubere dagegen wird für Kaufkräftige im Internet feilgeboten, wie die Künstlerin festgestellt hat."

In der FR springt heute Harry Nutt Georg Baselitz zur Seite, der forderte, Adolf Zieglers NS-Triptychon "Die vier Elemente" aus der Ausstellung der Münchner Pinakothek der Moderne zu entfernen (unsere Resümees). "In Fall Ziegler mutet es besonders bitter an, dass einem rücksichtslosen Karrieristen der NS-Diktatur, der das Leben und Arbeiten von sehr vielen, heute oft weitgehend unbekannten Menschen - darunter viele jüdischer Herkunft - zerstört hat, ein kunsthistorisches Andenken in einem der wichtigsten deutschen Museen gewährt wird. Der 1959 gestorbene Ziegler wurde nie zur Rechenschaft gezogen, nach 1945 war er lapidar als Mitläufer 'entnazifiziert' worden. Es wäre also völlig falsch, den Einspruch des 84-jährigen Malers Baselitz der auffälligen Konjunktur von Verbotsforderungen zuzuschlagen, für die das modische Etikett Cancel Culture in Umlauf ist.Vielmehr verweist die energische Reaktion des einflussreichen Vertreters der Nachkriegsmoderne auf eine lückenhafte historische Aufarbeitung der Geschichte deutscher Kulturinstitutionen."

Außerdem: In der Zeit fragt sich Hanno Rauterberg, was Computerprogramme wie Dall-E-2, mit dem sich "aberwitzige" (Kunst-)Motive produzieren lassen, für Künstler und Kunstmarkt bedeuten: Den Künstlern erwächst durch die Bildmaschinen "ein schier allmächtiger Konkurrent, einer, der sie obendrein noch beklaut, weil so ziemliches alles, was im Internet an Bildern publik wird, in den Datenschatz der Generatoren einfließt. Je mehr sich also die menschlichen Gestalter ausdenken, desto mächtiger wird ihr maschinelles Gegenüber. Am Ende droht ihnen sogar, von den Maschinen verschluckt zu werden, so wie es dem polnischen Künstler Greg Rutkowski bereits passiert, dessen Stil von den Bildgeneratoren derart oft kopiert worden ist, dass sich seine Originale im Netz kaum mehr auffinden lassen." Besprochen wird die Ausstellung "Füssli, entre rêve et fantastique" im Musée Jacquemart-André in Paris (NZZ).
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Bühne

"Müssen nicht wir, die Generation zwischen 50 und 60, die weißen 'Boomer', die Verantwortung für die Verhältnisse übernehmen, zum Beispiel dafür, dass die Jugend so ernst, so woke ist und eine Moral einklagt, die sie anscheinend nirgendwo vorfinden?", fragt die Dramaturgin Sabine Reich in der nachtkritik in einem Essay, in dem sie eigentlich über ein freieres und offenes Stadttheater nachdenken will: "Waren wir nicht in den letzten 30 Jahren damit beschäftigt, öffentliche Räume und Institutionen zu vernichten, zu privatisieren, zu ökonomisieren, zu globalisieren, Märkte zu deregulieren? Uns selbst achtsam zu optimieren und nachhaltig zu konsumieren? Wird nicht das Gemeinwohl auch von denen besonders verteidigt, die jahrzehntelang freie Märkte und die Eigenverantwortung des Individuums predigten? Dreißig Jahre neoliberale Politik und nun soll das Aufbegehren der Minderheiten Schuld daran sein, dass es kein Gemeinwohl mehr gibt?" Sie fordert ein Schuldbekenntnis, auch für Sklaverei, Kolonialismus und Rassismus - und "auch das Theater als weiße, bürgerliche Institution ist Problem und Teil der Lösung. Und wie der Humanismus braucht es einen Striptease: Es entblößt sich und wird durchsichtig."

Außerdem: Lin-Manuel Mirandas Hip-Hop-Musical "Hamilton", in dem People of Colour und Latinos die Gründerväter der USA spielen, wurde spätestens zum Politikum, als Darsteller Brandon Dixon auf der Bühne den anwesenden Vize-Präsidenten Mike Pence kritisierte und Trump per Twitter zum Boykott des Stückes aufrief, erinnert Jakob Biazza in der SZ. Jetzt kommt das Erfolgsstück nach Deutschland und vor allem die deutsche Übersetzung stellte die Beteiligten vor große Hürden: "Fast 25 000 Wörter enthält 'Hamilton' - ungefähr dreimal so viele wie in durchschnittlichen Musicals. Die Textdichte, die Schlagzahl, der Rhythmus, die Komplexität der (Binnen-)Reime, Wortspiele, Metaphern und Referenzen sind mörderisch." Im Van Magazin porträtiert Albrecht Thiemann den brasilianischen Pianisten, Komponisten, Schriftsteller und Kulturpolitiker Mário de Andrade, dessen in den 1930er Jahren verfasste Choroper "Café" in São Paulo nun erstmals auf die Bühne kommt. Matthias Pees, der neue Intendant der Berliner Festspiele, schafft den Stückemarkt des Theatertreffens ab, meldet die Berliner Zeitung. Besprochen wird Magdalena Fuchsbergers Inszenierung von Ernst Kreneks Oper "Leben des Orest" am Theater Münster (FAZ).
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Musik

Hartmut Welscher ärgert sich im VAN-Magazin darüber, wie alle sich auf Teodor Currentzis stürzen: Dass dieser 2025 seinen Posten beim SWR-Symphonieorchester abtritt (unser Resümee), habe bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine festgestanden, wird aber politisch gedeutet. Darüber hinaus basierten sämtliche Angriffe auf den Dirigenten auf bloßen Spekulationen: "Tatsächlich hat Currentzis im Gegensatz zu Gergiev, der so etwas wie der kulturelle Arm von Putins Oligarchie ist, nie eine weltanschauliche Affinität zum russischen Regime erkennen lassen. In Russland sei 'alles korrupt, wir kennen das seit mehr als 1000 Jahren', schrieb er vor vier Jahren anlässlich der Uraufführung von Philippe Hersants Tristia. 2017 kritisierte er in einem schriftlichen Statement die Verhaftung des Regisseurs Kirill Serebrennikov. ... Menschen, die Currentzis in den letzten Monaten gesprochen haben, sagen, dass sich an dessen Ablehnung des Putinismus nichts geändert hat. Auch das unterscheidet ihn von Gergiev, der weder im bilateralen Gespräch noch öffentlich jemals einen Hehl aus seiner Loyalität gegenüber Putin gemacht hat."

Völlig anders sieht es Axel Brüggemann im Tagesspiegel: "Nach Kriegsausbruch hatte Teodor Currentzis kein Problem damit, auf Putins Wirtschaftsforum in St. Petersburg aufzutreten, distanzierte sich nie davon, dass VTB-Chef Kostin erklärte, der Dirigent habe Russland die Treue geschworen, noch am 2. September spielte Currentzis vor Gazprom-Chef Alexey Miller in St. Petersburg und ließ sich von ihm per Handy fotografieren. Zuvor gingen Currentzis und MusicAeterna noch auf Gazprom-Tour quer durch Russland und spielten vor den Firmen-Belegschaften an unterschiedlichen Standorten." Und was die Ansprechbarkeit betritt: "Currentzis spielt Katz und Maus mit seinen Partnern und Förderern in Europa." Derweil hat Currentzis' neues Orchester Utopia sein erstes Konzert gegeben - SZ und Standard berichten.

Außerdem: In der FR spricht Daniel Kothenschulte mit Igor Levit über die (in der FAZ besprochene) Kino-Doku "No Fear", die den Pianisten porträtiert. Für ZeitOnline spricht Jens Balzer ausführlich mit Martin L. Gore über das kommende Album von Depeche Mode und die Geschichte der Band. Daniel Barenboim zieht sich wegen eine "schweren neurologischen Erkrankung" fürs Erste vom Dirigieren zurück, meldet Reinhard J. Brembeck in der SZ. Im VAN-Magazin spricht der Dirigent Michael Hofstetter über den Komponisten Christoph Willibald Gluck. Außerdem setzt Arno Lücker seine VAN-Reihe über Komponistinnen hier über Kassia und dort über Josepha Auernhammer fort. Nachrufe auf die Countrymusikerin Loretta Lynn schreiben Julian Weber (taz), Harry Nutt (BLZ), Edo Reents (FAZ), Albert Koch (ZeitOnline) und Matthias Heine (Welt) - weitere Nachrufe zitierten wir bereits hier.

Besprochen werden Bob Dylans Auftritt in Berlin (Tsp), ein Konzert der Pianistin Beatrice Rana in Frankfurt (FR), Judith Holofernes' autobiografisches Buch "Die Träume anderer Leute" (SZ), Lucianos Rap-Album "Majestic" (ZeitOnline) und das neue Album der ukrainischen Folkpunkband Gogol Bordello (taz).

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