9punkt - Die Debattenrundschau

Rund um das Sternchen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.12.2022. Die taz beschreibt die Rolle der russischen Soldatenmütter, die zugleich besorgt und ergeben sind. In Deutschland wurde in einer riesigen Polizeiaktion das Netzwerk der "Reichsbürger" ausgehoben, melden alle Medien.  Die SZ philosophiert mit Hilfe künstlicher Intelligenz über dieselbe. Eine Gruppe von Autoren und Forscherinnen wendet sich in der FAZ gegen die heute wieder beginnende Islamkonferenz, die alles, nur den Islamismus nicht thematisiere. Zeit online begleitet das Erzbistum Köln ins jüngste, nämlich weltliche Gericht und der Guardian  Mark Zuckerberg auf dem Weg bergab. 
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.12.2022 finden Sie hier

Europa

taz-Korrespondentin Inna Hartwich beleuchtet die Rolle der russischen Soldatenmütter, die sich um ihre Söhne sorgen, aber an traditionellen Heldenbildern festhalten und der Obrigkeit ergeben sind: "Für ihre Söhne packen manche russische Mütter derzeit warme Socken und Thermounterwäsche zusammen, sie verehren ihre Helden, die Gewalt und Leid in die Ukraine bringen, und verstehen oft nicht, was 'hinter dem Band' passiert, wie sie das Kampfgebiet hinter der Grenze nennen. Wenn sie zu verstehen beginnen, sind sie zuweilen erschrocken. Der Sohn im Kampf ohne ordentliche Stiefel und gute Kalaschnikows? Das ist es, was sie umtreibt. Das ist es, wofür sie sich in kleinen Gruppen zusammenschließen und Stunden anstehen - im Verteidigungsministerium, in der Kreml-Administration, beim Militärstaatsanwalt. Sie haben Fragen und bekommen kaum Antworten. Den Staat stellen sie dabei nicht in Frage, aus Angst oft und wegen der Verfolgung. Aber auch, weil sie der Propaganda glauben."

Protest geht nur vom "Rat der Mütter und Ehefrauen" aus, schreibt Hartwich in einem zweiten Artikel. Aber das sind dann auch gleich Verschwörungstheoretikerinnen, die glauben, dass Putin ein CIA-Agent sei, "der ihr Land 'im Namen des Westens' zerstören und 'das besondere russische Volk' der 'Gier' dieses Westens preisgeben wolle".

Die Behörden haben zu einem gewaltigen Schlag gegen den Rechtsextremismus in Deutschland ausgeholt und sind mit einem Großeinsatz gegen "Reichsbürger" um "Prinz Reuß" vorgegangen, meldet Spon (hinter der Bezahlschranke). 3.000 Polizisten waren im Einsatz, auch in Österreich und Italien, heißt es in dem Bericht: "Nach Erkenntnissen der Ermittler planten die Beschuldigten um Prinz Reuß seit November 2021 einen bewaffneten Angriff auf den Bundestag sowie die Festnahme von Politikern. Offenbar gingen die Männer und Frauen davon aus, dass daraufhin Unruhen in Deutschland ausbrechen würden. In ihrer Vorstellung hätten sich sodann Teile der Sicherheitskräfte solidarisch mit der Terrorgruppe gezeigt, woraufhin es zu einem 'Umsturz' gekommen wäre." Mehr bei der SZ und hier bei Zeit online.

Europäische Annäherungen. EU-Offizielle betrachten beim Westbalkan-Gipfel albanische Volkstänze:

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Wissenschaft

Andrian Kreye hat für die SZ mit dem Chatbot Chat GPT über Wittgenstein geplaudert. Das war amüsant, aber beweist es Intelligenz? "Die Erklärung liefert Chat GPT gleich selbst. Auf die Frage, wie viele Parameter er selbst habe, weicht er höflich aus: 'Als Sprachmodell habe ich keine physischen Synapsen wie ein menschliches Gehirn. Ich existiere lediglich als eine Sammlung von Algorithmen und Daten, die es mir ermöglichen, Text zu verarbeiten und zu generieren.' Hätte man nicht besser formulieren könne. Uff."

Auf Zeit online möchte Eike Kühl festhalten, dass auch dieser Chatbot nicht wirklich intelligent ist, sondern ihm nur besonders viele Daten eingespeist wurden: "Tatsächlich gibt es gefühlt für jede beeindruckende Antwort von ChatGPT ein Beispiel für eine Antwort, mit der das System daneben liegt, mit teils lustigen Ergebnissen. Nicht nur scheint ChatGPT so seine Probleme mit Matheaufgaben und Grundschulrätseln zu haben, auch simple Fragen etwa nach dem größten mittelamerikanischen Land, das nicht Mexiko heißt, oder nach dem schnellsten Meeressäugetier kann das System nicht richtig beantworten. Es versucht dann lieber, den Wanderfalken, der zwar im Sturzflug das schnellste Tier der Welt, aber weder Meeres- noch Säugetier ist, als die richtige Antwort zu argumentieren." Das klingt nicht intelligent, aber sehr menschlich.
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Medien

Die lettischen Behörden haben den exilrussischen Oppositionssender Doschd verboten, weil dort eine russlandfreundliche Äußerung gefallen ist, für die sich der Sender schnell entschuldigte. Inna Hartwich berichtet darüber in der taz. Die Kollegen vom ebenfalls aus Lettland operierenden Senders Meduza.io wenden sich in einer Erklärung gegen die lettische Entscheidung: "Behauptungen, dass diese Verstöße eine 'nationale Sicherheitsbedrohung' darstellen, sind nicht überzeugend. Die Antikriegsposition des Senders ist offensichtlich, ebenso wie seine kritische Haltung gegenüber dem Putin-Regime. Die Bedeutung von Doschd im Kampf gegen die russische Staatspropaganda ist kolossal. Das Geschrei über 'nationale Sicherheit' verschleiert, was in Wirklichkeit ein schwerer Schlag für die Meinungsfreiheit und letztlich auch für die europäische Sicherheit ist. Vor allem ohne unabhängige Medien kann es keine Demokratie geben, und ein undemokratisches Russland wird eine Bedrohung für seine Nachbarn und die ganze Welt bleiben."

Außerdem: In der FAZ berichtet Helmut Hartung, dass die Bundesländer die öffentlich-rechtlichen Sender auf striktere Compliance-Regeln verpflichten.
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Gesellschaft

Eine Gruppe von Autoren und Forscherinnen wie Mouhanad Khorchide, Ruud Koopmans, Susanne Schröter aber auch Politiker wie Jens Spahn kritisieren im politischen Teil der FAZ die für heute angesetzte Tagung der "Islamkonferenz", wo Vertreter des Staates und der Religion über Muslimfeindlichkeit, aber nicht über Islamismus sprechen wollen: "Tatsache ist, dass in Deutschland einflussreiche islamistische Organisationen und Netzwerke existieren, die Andersdenkende und Konvertiten bedrohen, Demokratie und Freiheitsrechte ablehnen. Das ist nicht zu leugnen. Forschung ist hierzu dringend nötig. Es existiert aber kein universitärer Lehrstuhl zum Islamismus. Kein einziger! Zudem wurde kürzlich der Arbeitskreis Politischer Islamismus im Innenministerium aufgelöst. Befürchtet man unliebsame Ergebnisse?"

Ein paar kritische Stimmen, darunter er selbst, seien immerhin eingeladen, schreibt Ahmad Mansour im Feuilleton der FAZ. Tiefgang sei allerdings nicht zu erwarten: Auch die aktuelle Regierung meide notwendige Diskussionen nicht zum ersten Mal: "Dass die Innenministerin es für notwendig hält, nach Katar zu fliegen, um mithilfe einer Armbinde ein Zeichen für sexuelle Selbstbestimmung zu setzen, mag diskutabel sein. Dass sie sich aber in ihrem eigenen Land nicht einmal die Mühe macht, mit einheimischen Muslimen Themen wie Sexualität oder Gleichberechtigung auf der wichtigsten existierenden Dialogplattform zu besprechen, zeigt nicht nur, wie inhaltlos und mutlos solche Aktionen sind. Es zeigt die Doppelmoral vieler Politiker: den Willen zur Inszenierung und den Unwillen zur Kontroverse."

Das hat gedauert. Aber jetzt steht mit dem Erzbistum Köln erstmals die Katholische Kirche vor Gericht, einem richtigen Gericht, keinem Kirchengericht, nachdem Georg Menne sie wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt hat. Der Vorsitzende Richter erklärte gleich zu Verhandlungsbeginn, es stehe "außer Frage, dass das Amtshaftungsrecht anwendbar ist", berichtet Georg Löwisch auf Zeit online. "320 Mal, so steht es in der Klageschrift, hat ihn der Priester missbraucht und vergewaltigt. Menne, selbst beim Erzbistum angestellt, hat von der Kirchenkommission 25.000 Euro erhalten. Ihm reicht das nicht, er hat den Klerus mit der Justiz konfrontiert. Die Kirche prallt auf den Rechtsstaat. Die Taten sind gut belegt, der Priester hat in einem Brief und gegenüber Vorgesetzten einige seiner Verbrechen eingestanden, es gibt sogar Fotos, die die Brutalität dokumentieren. In einem Gutachten für das Erzbistum Köln steht, dass der Täter auch schon vor 1972 auffällig geworden sei. Ob auch schon damals hohe Kleriker Bescheid wussten, ist bisher nicht belegt, der damalige Kardinal Joseph Höffner und sein Generalvikar Norbert Feldhoff erfuhren laut dem Gutachten erst 1980 von Beschuldigungen gegen den Priester."

Claudia Mäder erzählt in der NZZ die Geschichte des Gendersterns, bei dem lesende Männer, Frauen und nichtbinäre Menschen mitdenken sollen. Ob das jeder weiß? "Erste Studien scheinen dagegenzusprechen. In einer Untersuchung von 2019 wussten selbst im Segment der Akademiker nur 50 Prozent der Probanden, wofür der Asterisk eigentlich stand. Das Zeichen, heißt das mit anderen Worten, ist für die Sprachbenutzer nicht selbsterklärend. Nur wer den Begleitdiskurs rund um das Sternchen kennt, kann das Abbild des Himmelskörpers so deuten, wie die Aktivisten sich das ursprünglich gedacht haben. Dass ein derart unklares Zeichen den gesamten deutschen Sprachraum eroberte, ist erstaunlich - und zuletzt vielleicht doch nur logisch. Denn womöglich begründet gerade die Unschärfe auch den Erfolg des Symbols: Es reicht, die eigenen Wörter mit einem Sternchen zu garnieren, um mit einer irgendwie fortschrittlichen Haltung zu glänzen."
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Ideen

Charlotte Wiedemann hat ein Buch vorgelegt, in dem sie fordert, dass Opfer von Holocaust und Nakba den "Schmerz der anderen" erfühlen sollen. "Die geschichtliche Verbindung zwischen diesen beiden unvergleichbaren Geschehnissen" sollte symbolischerweise am 9. November im Goethe-institut von Tel Aviv diskutiert werden, aber es gab Proteste, so dass die Veranstaltung abgesagt wurde (unsere Resümees). Wiedemann schreibt heute über diese ebenfalls sehr schmerzvolle Erfahrung in der taz, für die sie die Organisation Yad Vashem verantwortlich macht: "Was ist geschehen? Auf die kürzeste Formel gebracht, habe ich aus nächster Nähe erlebt, wie die Instrumentalisierung des Holocaustgedenkens funktioniert. In Gestalt von Dani Dayan brachte ein vormaliger Anführer der Siedlerbewegung die moralische Wucht von Yad Vashem in Stellung gegen die Redefreiheit an einer deutschen Institution. Der Soziologe Moshe Zuckermann kommentiert das so: Die Gedenkstätte sei zu einem 'Zweig israelischer Propaganda' verkommen. Als Sohn polnisch-jüdischer Holocaustüberlebender kann er anders formulieren, als es für mich angemessen wäre." Mit aller Entschiedenheit wendet sich Wiedemann auch gegen die bei uns "aus Scham resultierende Blockade, den Missbrauch von NS-Erinnerung in Staaten ehemaliger Opfer des Nationalsozialismus wahrzunehmen".

Außerdem: Frauke Steffens erklärt in der FAZ, was "Longtermismus" ist, eine Lehre, die von Philosophen wie William MacAskill und Nick Bostrom vertreten wird und die fordert, die Zukunft der Menschheit auf Hunderttausende von Jahren in den Blick zu nehmen - einen begeisterten Förderer finden diese Theorien in Elon Musk.
Archiv: Ideen

Internet

Vor einem Jahr verkündete Mark Zuckerberg groß, dass mit seinem "Metaverse" die Zukunft anbricht. Aber seine "virtuelle Realität" hat sich bisher nicht realisiert, im Gegenteil, berichtet Steve Rose im Guardian. Zuckerberg hat gerade 11.000 Mitarbeiter seines Konzerns entlassen: "Die Kassenschlager Facebook und Instagram verlieren Marktanteile und Nutzer der Generation Z an frischere Konkurrenten wie TikTok und Snapchat. Apples Änderungen am Datenschutz im letzten Jahr haben ebenfalls die Einnahmen dezimiert - die Einführung einer 'ask not to track'-Option auf iPhones hat Facebook effektiv um die lukrativen Daten gebracht, die es für gezielte Werbung nutzt. In der Zwischenzeit hat Meta bis heute unglaubliche 100 Milliarden Dollar in die Forschung und Entwicklung von Metaversen investiert, 15 Milliarden Dollar allein im letzten Jahr - und hat offenbar wenig vorzuweisen."
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