9punkt - Die Debattenrundschau

Horror-Schönheitswettbewerb

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2023. In der FAZ wirft die Osteuropaforscherin Gwendolyn Sasse dem Rechtsprofessor Reinhard Merkel "Falschaussagen über die Ukraine" vor. In der Zeit wirft Florian Illies Claudia Roth, die die Stiftung Preußischer Kulturbesitz umbenennen will, antiaufklärerischen Größenwahn vor. Ebenfalls in der Zeit hofft der Politologe Yascha Mounk  zaghaft auf das Überleben der amerikanischen Demokratie. In der taz will die Berliner Integrationsbeauftragte Katarina Niewiedzial nach den Silvesterkrawallen lieber nach sozialen Ursachen suchen. Die Welt beklagt "Anthro-Bashing".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.01.2023 finden Sie hier

Europa

Der Rechtsprofessor Reinhard Merkel hatte neulich in der FAZ auf einer moralischen Pflicht der Ukraine bestanden, dem Aggressor Konzessionen zu machen (unser Resümee). Eine dieser Konzessionen wäre für Merkel wohl, den Russen die Krim zu überlassen, die Merkel schon 2014 "im Dorf" lassen wollte (unsere Resümees damals hier und hier). Darauf antwortet heute die Osteuropaforscherin Gwendolyn Sasse. Es handelt sich hier nicht um ein Pro und Contra, macht sie eingangs klar. Denn sie wirft Merkel "Falschaussagen über die Ukraine" vor, und da kann die Wahrheit schlecht in der Mitte liegen. Eine der Falschaussagen ist die von der Mehrheit, die sich nach 2014 für die Rückkehr nach Russland ausgesprochen hätte. "Das von Russland in Präsenz bewaffneter Einheiten durchgeführte Scheinreferendum am 16. März 2014 entbehrte jedoch jeglicher Legitimität. Bei einer Abstimmung kommt es nicht auf das offizielle Ergebnis, sondern auf die Bedingungen der Abstimmung an. Die oft gestellte Frage, wie die Krimbevölkerung unter demokratischen Bedingungen abgestimmt hätte, ist spekulativ: Wir wissen es nicht und werden es nie wissen. Die Tatsache, dass es nach dem Auftauchen russischer Sondereinheiten und der Option einer Anbindung an Russland auch Unterstützung für letztere gab, ändert nichts daran, dass dies kein freies und faires Referendum war."

Die britischen Umfragen sind deutlich: selbst ehemalige Brexiteers wünschen sich eine Wiederannäherung an die EU, berichtet Eva Ladipo in der FAZ: "Und wie reagiert die Politik? Was tun die Verantwortlichen angesichts der um sich greifenden Reue und wachsenden Verzweiflung? Grob gesagt: nichts. Es ist, als ob die politische Klasse sich gegenseitig belauerte. Keiner will sich als Erster bewegen. Aus Angst, von der Gegenseite bezichtigt zu werden, den 2016 vermeintlich ein für alle Mal ausgedrückten 'Willen des Volks' zu torpedieren, wagt weder die Regierung noch die Opposition, die Debatte aufzunehmen und den ersten Schritt zu tun." Der Druck, so Ladipo, wird aus der Gesellschaft kommen müssen.
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Politik

Rieke Havertz und Jörg Lau von der Zeit unterhalten sich mit der ehemaligen Trump-Beraterin Fiona Hill und dem Politologen Yascha Mounk. Beide sind überzeugt, dass "eine zweite Amtszeit für Trump viel gefährlicher wäre, als die erste es war". Mounk führt aus: "Damals, 2016, verfügte Trump über keine politische Erfahrung, hatte nur wenige Leute, die ihm gegenüber loyal waren, und kaum Kontrolle über die Republikanische Partei. Jetzt ist er vier Jahre lang Präsident gewesen, kann auf eine viel größere Zahl Verbündeter zurückgreifen und kontrolliert die Partei. Sollte er wiedergewählt werden, wäre er viel effektiver - und würde von Tag eins an danach streben, Amerikas unabhängige Institutionen, wie das FBI oder den Obersten Gerichtshof, unter seine Kontrolle zu bringen. Dennoch bin ich im Laufe der vergangenen Jahre verhalten optimistisch geworden. Ich wage die Prognose: Die amerikanische Demokratie wird mit höherer Wahrscheinlichkeit überleben als sterben." Mounk hofft hier vor allem auf die starke Machtverteilung in den USA.

Hill ist pessimistischer: "Der Parteitag der Republikanischen Partei ist wie ein Horror-Schönheitswettbewerb. Auch die Demokratische Partei wird sich zerfleischen in der Frage, wer für sie antreten soll. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass eine neue Garde heranwächst, und es spricht nichts dafür, dass eventuelle Kandidaten tatsächlich das Land an die allererste Stelle stellen."
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Medien

Das Wort "Freiheit" wurde zur "Floskel des Jahres" gekürt, die "Jury" besteht allerdings nur aus zwei Journalisten, die ein Online-Projekt mit dem Namen "Floskelwolke" betreiben und vor allem Aufsehen erregen wollen, schreibt Christian Meier in der Welt. Die Onlineseiten von Spiegel, ZDF, Deutschlandfunk Kultur oder der Tagesschau brachten die Meldung, ohne Nachrichtenwert und Relevanz zu überprüfen: "Die Tagesschau verweist auf Nachfrage nur darauf, dass die Redaktion, wie 'viele Nachrichtenmedien' auch, die von den Nachrichtenagenturen dpa (Deutsche PresseAgentur) und epd (Evangelischer Pressedienst) verbreitete Meldung übernommen habe, so wie man auch auf eine 'Vielzahl von Nachrichtenquellen' zugreife. Was zeigt, dass das Nachrichtengeschäft im Grunde so funktioniert wie seit Jahrzehnten: Was über die Agenturen kommt, wird als besonders relevant und vertrauenswürdig wahrgenommen - und auch eine Top-Nachrichtenmarke wie die Tagesschau übernimmt das dann - gegebenenfalls ohne selbst die Relevanz eines Preises einzuschätzen, die in diesem Fall eher gering ist."

Charlie Hebdo hat einen Karikaturenwettbewerb zu den iranischen Unruhen ausgeschrieben und präsentiert die Ergebnisse jetzt in einem Sonderheft, gegen das die Mullahs schon bei der französischen vorstellig geworden sind (in der FAZ berichtet heute Marc Zitzmann). Alle Mullahs? Einer freut sich über die endlich gewonnene Freiheit:
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Stichwörter: Charlie Hebdo, Tagesschau

Gesellschaft

Auch die taz stellt sich nun der Frage, ob ein bestimmter Migrationshintergrund zu den Silvesterkrawallen gehörte. Die Integrationsbeauftrage der Sadt, Katarina Niewiedzial, verneint im Gespräch mit Dinah Riese und will die Ursache allein im Sozialen sehen. "Die Botschaft hinter den Angriffen lautet: Wir gehören nicht dazu. Es ist enorm wichtig, darauf als Staat nicht einzig und allein mit Law-and-Order-Politik zu reagieren. Als Berliner Beauftragte für Integration und Migration treibt mich die Frage um, wie wir es schaffen in einer von Migration geprägten Gesellschaft, Brücken zu bauen, mehr Teilhabe zu ermöglichen und strukturellen Rassismus abzubauen."
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Ideen

Rudolf Steiner allein auf seine rassistischen Äußerungen festzulegen ist unfair, beklagen der Ökonom und Ex-Waldorfschüler Philip Kovce und der ehemalige NDR-Redakteur Wolfgang Müller in einem großen Essay im Welt-Feuilleton. Immerhin wurde die Anthroposophie von den Nazis bekämpft, schreiben sie. Mit der Corona-Krise sei das "Anthro-Bashing" aber noch schlimmer geworden: Symptomatisch sei etwa "die bundesweite Rezeption einer 'Querdenker' Studie der Soziologen Nadine Frei und Oliver Nachtwey. Auch sie kamen zum Ergebnis, die Anthroposophie sei 'ein wesentlicher Faktor zum Verständnis der Corona-Bewegung'. Indes auf kümmerlicher Datengrundlage: Sie bestand aus Fragebögen ohne spezifischen Anthroposophie-Bezug, die nach Einladung in 'Querdenker-Telegram-Gruppen ausgefüllt wurden, sowie genau drei Interviews mit Anthroposophen, die zudem eher das Gegenteil nahelegten. Das windige Resultat aber passte so schön ins gängige Narrativ, dass es ohne jede kritische Einordnung allenthalben zitiert wurde." Zu einem anderen Schluss kam Hinnerk Feldwisch-Drentrup im FAZ-Feuilletonaufmacher vom 15.08.2022: Unser Resümee.
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Kulturpolitik

Mit ihrem Vorstoß, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz umzubenennen (Unsere Resümees), versucht Claudia Roth die deutsche Geschichte "besenrein" zu machen, ärgert sich Florian Illies in der Zeit: "Nur Diktaturen sind eigentlich so naiv und selbstberauscht, dass sie glauben, die Vergangenheit nachträglich begradigen zu können. Ein sinnloses Unterfangen, denn über kurz oder lang brechen alle historischen Sollbruchstellen wieder auf, Europas Geschichte seit 1989 erzählt von nichts anderem. (…) Der Versuch, die Vergangenheit aus einem eigenen moralischen Überlegenheitsgefühl heraus zu optimieren, ist ein antiaufklärerischer Größenwahn, der sich nur als Demut tarnt."

In der NZZ wehrt sich die Philologin Melanie Möller gegen Versuche, die Altertumswissenschaften als weiß, sexistisch und rassistisch zu diskreditieren: "Heißt das, dass man historische Ungerechtigkeiten, die den Namen verdienen, totschweigen sollte? Gewiss nicht; aber es bedarf schon einer genauen Kenntnis der Kontexte und einer soliden Achtung vor den Toten, um sie nicht dem gleichen Missbrauch zu unterwerfen, den man ihnen vorwirft. Denn wenn Aufklärung bedeutet, dass unliebsames Altes, wie als sexistisch deklarierte Frauenbilder, als rassistisch gedeutete Menschendarstellungen und vieles mehr, durch Verweigerung der Reproduktion eliminiert werden soll, ist das nichts als dümmliche Geschichtsklitterung."

Außerdem: In der SZ befürchtet Peter Richter, dass die ohnehin schon "verödete" Friedrichstraße nun endgültig der "religiösen Raserei" der noch amtierenden Grünen-Verkehrssenatorin Bettina Jarasch, die eine Fußgängerzone plant, zum Opfer fällt.
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