9punkt - Die Debattenrundschau

Ein laut und deutlich gesprochenes "Stopp!"

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.05.2023. Morgen ist Krönung. Den Medien ist teils feierlich zumute, teils gar nicht. Golem.de empfiehlt: Charles III. sollte sich nicht von den Pixies wecken lassen. Die Welt erzählt, wie Barack Obama gegen ein üppiges Honorar peinliche Fragen umgeht. Anhänger der Cancel Culture bestreiten, dass es sie gibt, heute Hadija Haruna-Oelker in der FR. Ebendort rät Felix Klein von Boykotten ab. In der SZ nimmt der Autor Norbert F. Pötzl Katja Hoyers DDR-Geschichte "Beyond the Wall" auseinander.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.05.2023 finden Sie hier

Internet

Guten Morgen. Wer in Wirklichkeit vermeiden will, sich vom Google-Wecker wecken zu lassen, obwohl er ihn pflichtgemäß programmiert hat, sollte einfach ein Stück von den Pixies als Weckton einstellen, empfiehlt Tobias Költzsch bei golem.de. Am besten nimmt man den Song "Where is my Mind" von 1988, hat ein Reddit-Nutzer herausgefunden: "Das Stück beginnt mit einer kurzen Gesangsphrase der Bassistin Kim Deal ('Uhhhuhhhhh'), der ein laut und deutlich gesprochenes 'Stopp!' folgt. Der Reddit-Nutzer hatte als Weckton für den Android-Alarm eine Spotify-Playliste eingestellt, die regelmäßig auch 'Where is my Mind' als erstes Lied spielte. Mit aktivierter Spracheingabe lassen sich Wecker bei Android auch ohne vorheriges 'Hey Google' mit dem Sprachbefehl 'Stopp' ausschalten."

Archiv: Internet
Stichwörter: Pixies, Spotify

Europa

Atomwaffen seien nicht seine größte Sorge, vielmehr sorgt ihn, dass Russland die ukrainischen Atomkraftanlagen Tschernobyl und Saporischschja eingenommen hat, sagt der ukrainische Historiker Serhii Plokhy im Tsp-Gespräch, in dem er ein "Fukushima-Szenario" befürchtet und das Budapester Memorandum kritisiert: "Es war ein großer Fehler der Vereinigten Staaten, wie die Denuklearisierung der Ukraine gehandhabt wurde. Als Historiker will ich nicht darüber streiten, ob es eine gute oder schlechte Idee war. Es war eine politische Entscheidung. Doch zu dieser Zeit beanspruchte Russland schon ukrainisches Gebiet für sich. Dadurch entstand eine riesige Sicherheitslücke mitten in Europa, die wurde behelfsmäßig mit Tapete überkleistert - und die Tapete nennt sich Budapester Memorandum … und als die Wand einstürzte, waren plötzlich alle überrascht, dass die Tapete sie nicht zusammengehalten hat. Das ist also eine Lektion für die Zukunft. Indem man Atomwaffen aufgibt, schafft man ein riesiges Sicherheitsvakuum. Vielmehr sind Vereinbarungen wie das Budapester Memorandum nur eine Einladung zur Aggression. Fraglich ist, ob wir in Zukunft Länder davon überzeugen können, im Austausch für ein Stück Papier auf Atomwaffen und ihre Entwicklung zu verzichten."

Dominic Johnson, der Brite unter den tazlern und nicht unaffiziert vom feierlichen Ereignis, das ansteht, bereitet das taz-Publikum auf die morgige Krönung Charles' III. vor. Am meisten gefällt ihm die Salbung, die im Verborgenen stattfinden wird: "Die Ölmischung von Charles III ist erstmals rein vegetarisch. Und das Öl stammt aus Jerusalem, vom Olivenhain am Ölberg - nicht nur eine der heiligsten Stätten mehrerer Weltreligionen, sondern auch die Grabesstätte von Charles' III. Großmutter väterlicherseits: Prinzessin Alice von Battenberg. Die Mutter von Prinz Philip, dem Ehemann der verstorbenen Queen, war eine Kusine des letzten deutschen Kaisers und wird heute in Israel als Retterin verfolgter Juden in Griechenland während der deutschen Besatzung als eine der Gerechten geehrt."

Gina Thomas denkt in der FAZ über das "Charisma der Krone" nach und stellt die Frage, warum die Leute die Krönung überhaupt wichtig fänden und verweist auf einen berühmten Essay der Soziologen Edward Shils und Michael Young, die die Krönung 1956 schön konservativ als einen "großen Akt nationaler Kommunion" beschrieben, "der dem Urbedürfnis einer Gesellschaft nach ritueller Bekräftigung und Erneuerung der für jeden verantwortungsvollen Staat erforderlichen moralischen Werte entspreche".

Gina Thomas mokiert sich zwar über die "griesgrämige Kampagne" des Guardian zur Krönung. Aber ein Artikel sei doch zitiert. David Pegg fragt, warum die Briten immer noch so wenig über den wirklichen Reichtum der königlichen Familie wissen. Grund ist für ihn unter anderem "die Kultur der extremen Untertänigkeit und Geheimhaltung, die die königliche Familie umgibt. Dies ist zum Teil Ergebnis eines Medienumfelds, in dem die Windsors als dysfunktionale prominente Aristokraten dargestellt werden, aber nicht als Personen von ernsthafter politischer oder verfassungsrechtlicher Bedeutung. Es hat eine Kultur geschaffen, in der die königliche Institution selbst über den normalen Standards der Überprüfung steht und in der jede auch nur im Entferntesten unbequeme oder bohrende Frage, egal wie berechtigt sie ist, ignoriert oder routinemäßig abgetan wird."

Warum sollte ich einem britischen Monarchen "mit seinen ererbten Privilegien Treue schwören?", fragt der australische Schriftsteller Garry Disher in der SZ. Es "repräsentiert in keiner Weise ein Land, das erwachsen geworden ist." "Unter dem gegenwärtigen System wird es nie zu einer umfassenden australischen Selbständigkeit kommen. Solange wir an eine andere Nation gekettet sind, werden wir keine erkennbar australische Identität besitzen und uns der Welt der Nationen nicht als völlig gleichberechtigt zurechnen können. Entscheidend ist auch die zunehmende Forderung der australischen Ureinwohner, anzuerkennen, dass sie ihre Eigenständigkeit nach der Gründung der britischen Kolonien in Australien ab 1788 niemals abgetreten haben. Die Narben der Kolonialbesatzung und der Enteignung bleiben.""

"Die Ernennung von Charles III. zum König, seine Krönung im Wortsinn, ist eine aus der Zeit gefallene Glitzer-Show", kommentiert Michael Neudecker ebenfalls in der SZ: "Und die Kosten dafür trägt der Steuerzahler: Die seriösesten Schätzungen gehen von einer dreistelligen Millionensumme aus. Nach einem Winter, in dem sich erschreckend viele Briten die 'heat or eat'-Frage stellen mussten, heizen oder essen. Für beides reichte oft das Geld nicht. Das Volk darbt, der König wird gesalbt."

Die Linke im westlichen Ausland sah die DDR gern als das "bessere Deutschland". In dieser Linie steht womöglich der britische Bestsellererfolg von Katja Hoyers Buch "Beyond the Wall - East Germany, 1949-1990" , das jetzt auch hierzulande erscheint und das Norbert F. Pötzl in SZ online heute ziemlich zornig bespricht: "Die 'neue Geschichte' entpuppt sich als die alte Erzählung von einer unter dem Strich ganz kommoden Diktatur... Einen dubiosen Kronzeugen für ihre DDR-Darstellung benennt Hoyer schon im Vorwort. Sie beruft sich ausgerechnet auf den notorischen Geschichtsklitterer Egon Krenz, den letzten SED-Generalsekretär, der bis heute die DDR als bessere Alternative zur alten Bundesrepublik schönfärbt. Als zweiten Gewährsmann führt Hoyer den DDR-Schlagersänger Frank Schöbel an, der als privilegierter Promi an der DDR natürlich nichts auszusetzen findet."

"Mir kommt es oft so vor, als sei die Alltagsgeschichte der DDR ein ungeliebtes Nebengleis, auf das man sich lieber nicht begibt", verteidigt sich Hoyer im Interview mit dem Spiegel. Auch in der Zeit erschien gestern ein Interview mit der 1985 geborenen, heute in Großbritannien lebenden Historikerin.
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Medien

"Ein Veranstaltungsunternehmer hatte Obama, der auch sonst gerne mal Vorträge für 400.000 Dollar Gage bei Investmentbankern hält, nach Europa geholt, damit er einfach mal erzählt", berichtet in der Welt Jörg Wimalasena, der sich bei Eintrittspreisen von mehreren hundert Euro ein bisschen mehr als "Plattitüden" erwartet hätte. "Dabei gäbe es genug offene Fragen. Etwa: Welchen Anteil hat Obama selbst an den schwierigen sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen im Land, die den Aufstieg Donald Trumps ermöglichten? (…) Die Gesundheitsreform 'Affordable Care Act' entpuppte sich weitgehend als Subventionsmaschinerie für die private Versicherungsindustrie, Obamas zurückhaltende fiskalische Reaktion auf die Finanzkrise hat dazu beigetragen, dass Millionen Menschen Häuser und Jobs verloren. Eine Brutstätte für künftige Trump-Wähler."
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Stichwörter: Obama, Barack, Trump, Donald

Gesellschaft

Von einer Cancel Culture wie in den USA will die Politikwissenschaftlerin Hadija Haruna-Oelker in der FR nichts wissen. Sie zitiert zum Beleg den Literaturwissenschaftler Adrian Daub: "Seine Auswertung von Text-Datenbanken der Feuilletons der vergangenen Jahre zeigt, dass das Gesamtbild der als entsprechend markierten Fälle uneindeutig, unterschiedlich, weniger dramatisch, wenn auch nicht unproblematisch ist. Es handle sich, so Daub, um überbewertete Einzelfälle, nicht um eine Kultur. Zumal der Befund meist an Anekdoten festgemacht werde, die oft nur aus der Perspektive der Opfer der Situation erzählten, die Gegenseite werde ebenso ausgeblendet wie der Kontext. Diese Logik und ihren Transfer aus den USA beschreibt Daub in seinem Buch 'Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erfasst'. Es geht um die Übernahme eines doppelten Diskurses, der eine Lehre über 'die Zustände dort' mit der Angst paare, dass diese auch 'zu uns' kommen könnten." Über Cancel Culture zu reden, helfe dabei, "nicht über Ungerechtigkeiten sprechen zu müssen. Und in den USA bedeutet es inzwischen, damit anti-woke Gesetze durchsetzen zu können".

Vier FR-Redakteure haben sich mit Felix Klein, dem Antisemitismus-Beauftragten des Bundes getroffen, um mit ihm ein zweiseitiges Interview über linken und rechten Antisemitismus zu führen. Damit sich so etwas wie der Skandal bei der Documenta 15 nicht wiederholt, will er in die Förderbescheide "entsprechende Passagen zum Thema Antisemitismus und Diskriminierung" aufnehmen, überhaupt erkennt er einen "weit verbreiteten israelbezogenen Antisemitismus" in Kunst- und Kulturkreisen. Zu BDS sagt er: "Boykott kann ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung sein. Aber beim genaueren Hinsehen erkennt man, dass sich - soweit ich weiß - kein Verantwortlicher der BDS-Bewegung für die Zweistaatenlösung ausspricht. Israel soll ganz klar in allen Bereichen isoliert werden, auch Israelis, die ihre Regierung sehr kritisch sehen. Es geht um Stigmatisierung und eine Kollektivhaftung aller Israelis. BDS richtet großen politischen Schaden an."
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Geschichte

Den Zusammenhang zwischen "Papier und Blut" dokumentiert eine die Ausstellung "Ein Polizeigewahrsam besonderer Art" in der "Topographie des Terrors" über ihren eigenen Ort, denn die Gedenkstätte befindet sich auf dem Geländes des einstigen Hausgefängnisses der Gestapo. Andreas Kilb hat die Ausstellung für die FAZ besucht und ist beeindruckt: "Einer der wichtigsten gestalterischen Einfälle der Ausstellung ist eine Folge von vier hölzernen Schreibtischen mit aufgeschlagenen Häftlingsakten. Die psychische und physische Vernichtung von Regimegegnern war bei der Gestapo penibel organisiert: Nach der Einlieferung und erkennungsdienstlichen Erfassung kam die Erstvernehmung, an die sich nach der offiziellen Einweisung weitere, stufenweise 'verschärfte' Vernehmungen anschlossen, die in den meisten Fällen in die Überstellung des Opfers an den Justizapparat oder in die Konzentrationslager der nationalsozialistischen Diktatur mündeten."

Rückblickend "erscheint das russische Vorgehen in Transnistrien wie das Drehbuch für die Aggression gegen die Ukraine 2014", schreibt Ulrich M. Schmid, der in der NZZ die Geschichte der Republik Moldau erzählt: "Der Kreml treibt einen Stachel in den Körper der postsowjetischen Staaten, um ihre Westintegration zu verhindern. Auch die angeblichen Lösungsvorschläge für diese absichtlich herbeigeführten Krisen gleichen sich. Im Jahr 2003 präsentierte Dmitri Kosak, ein enger Putin-Vertrauter, einen Plan zur Föderalisierung der Moldau. Dabei wäre Transnistrien zu einem Teil einer moldauischen Föderation geworden, hätte aber einen überproportionalen Einfluss auf die politischen Entscheidungsprozesse in Chisinau erhalten. Gleichermaßen konzentrieren sich die russischen Vorschläge zur Lösung des Donbass-Konflikts nach 2014 auf eine Föderalisierung der Ukraine. In beiden Fällen ginge das Zentrum geschwächt aus einem solchen Umbau hervor, und ein prorussisches Föderationssubjekt würde das Land im Einflussbereich Moskaus halten."
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