9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht verraten, dass ich ein Roboter bin

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.05.2023. Welt und FAZ beschreiben die Angstkampagne, mit der Erdogan seine Niederlage bei den Wahlen in der Türkei für sich abwenden konnte, wenn auch nicht für seine Partei. Niemand hat so viel Angst vor dem Klimawandel wie die Deutschen und die Oberschicht, notieren die Ruhrbarone mit Blick auf die enorm zahlungskräftigen Unterstützer des "grünen Adels". In der SZ fordert die Ökonomin Charlotte Siegmann, Mitgründerin des Zentrums für KI-Risiken, mehr Regulierung von Künstlicher Intelligenz. Soll man heilige Bücher verbrennen dürfen, fragt hpd. Russland hat einen neuen Helden: den Denunzianten, schreibt Viktor Jerofejew in der FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.05.2023 finden Sie hier

Europa

Das "Momentum" liegt nun bei Erdogan, denn entscheidend waren bei der Wahl nicht Themen wie Verarmung oder die Korruption der Politik, sondern der "starke bis extreme Nationalismus" vieler Wähler, schreibt Deniz Yücel in seiner Analyse der türkischen Wahlen für die Welt. Auch davon abgesehen könne sich Kilicdaroglu die Stichwahl mit einem Gegner, der den Staatsapparat für seine Zwecke missbraucht, im Grunde "schenken", meint Yücel: Die türkischen Konsulate in Deutschland, Belgien und den Niederlanden werden für die Stichwahl an fünf Tagen geöffnet sein, in den USA oder in Großbritannien nur an zwei: "In Belgien und Holland stimmten noch mehr als in Deutschland (64 Prozent) für Erdogan, nämlich 72 bzw. 68 Prozent, während in Großbritannien und den USA Kilicdaroglu 79 bzw. 80 Prozent erzielte. (…) Wer vor solchen Eingriffen nicht zurückschreckt, wer Politiker der Opposition einsperrt und im Wahlkampf nicht nur seine geballte Medienmacht einsetzt, sondern auch gefälschte Werbespots der CHP vorführt, die Kilicdaroglu als Verbündeten der militanten kurdischen PKK zeigen, dem ist auch Manipulation zuzutrauen. Dem wollte die CHP mit einem Netz von Wahlhelfern und -beobachtern vorbeugen, mit deren Hilfe sie eine parallele Zählung durchführen wollte. Doch in 20.000 Wahllokalen - meist auf dem Land - sollen keine Beobachter der Opposition anwesend gewesen sein. Und das digitale Zählsystem der CHP brach in der Nacht zusammen. Bis Dienstagnachmittag hatte die größte Oppositionspartei immer noch nicht bekanntgegeben, ob ihre Daten mit den amtlichen Ergebnissen übereinstimmen - oder ob sie überhaupt über eigene Daten verfügt."

Erdogan ist in dieser Wahl nicht untergegangen, weil er auf Ängste setzte, meint auch Bülent Mumay in der FAZ. Seine Wahlkampagne war vor allem eine Negativkampagne, die von den von ihm kontrollierten Massenmedien unterstützt wurde: "Unmittelbar vor den Wahlen trat Erdogan in einer Diskussionsrunde auf, die 29 Sender live übertrugen. Er führte seinen Wahlkampf unter Nutzung sämtlicher staatlichen Ressourcen und schloss ihn mit den von ihm kontrollierten Medien und der Kundgebung in der Moschee ab. Die Rhetorik zog. Die mit Nationalismus aufgeladene Angst vor Separatismus verhinderte, dass Erdogan die Wahl in der ersten Runde verlor. Er gewann Stimmen von Bürgern zurück, die ihm aufgrund der Wirtschaftskrise den Rücken gekehrt hatten, sowie von jungen Wählern mit niedrigem Bildungsstand. Statt, wie von Erdogan behauptet, die Heimat zu verlieren, zogen sie es vor, Geld im Portemonnaie zu verlieren."

Außerdem: Im Zeit-Interview mit Jörg Lau will der türkische Schriftsteller Mustafa Aydin die Hoffnung auf einen Wahlsieg von Kemal Kilicdaroglu zwar noch nicht aufgeben, aber auch dann fehle es den europäischen Regierungen an "Fantasie in der Türkeipolitik. Alles ist durch die Beitrittsthematik blockiert. Wenn die Türkei eine neue Regierung bekommt, die sich klar zu Demokratisierung und Liberalisierung bekennt, braucht diese Regierung aber Unterstützung aus Europa."

Wer sich Hoffnung auf ein neues Russland nach Putin macht, sollte nochmal genau hinsehen, meint Viktor Jerofejew in der FAZ. In Russland gibt es einen neuen Helden, den Denunzianten, mit dem wenig Staat zu machen sein wird: "Mit geschwellter Brust schreibt er seine Denunziationen, setzt, ohne sich hinter Pseudonymen zu verstecken, seinen Klarnamen darunter. Und er empfindet moralische Befriedigung durch seine Arbeit. Er ist Teil eines kollektiven Systems des Denunziantentums, in dem Lehrer ihre Schüler anzeigen und Schüler ihre womöglich liberalen Lehrer, unter anderem mit der Anschuldigung, sie rechtfertigten den Nazismus, und in dem jeder liberale, gegen den Krieg gerichtete Gedanke, woher er auch immer kommen mag, angezeigt gehört. ... In unserer Zeit hat sich das dazu gereifte Volk die moralische Erlaubnis zum Denunzieren selbst erteilt. Dasselbe Volk, das gemäß der Vorstellung liberaler Idealisten zum befreiten Volk eines wunderbaren Russlands der Zukunft werden sollte. Als bunter liberaler Haufen herzufallen über diesen oder jenen üblen Denunzianten, der sich heutzutage einen Namen gemacht hat - das bedeutet, die Dimension der Katastrophe zu unterschätzen. Wenn es das Volk zulässt, dass Idole des ganzen Volkes diffamiert werden, dann ist der Denunziant eher nur ein Henker, ein Vollstrecker des Urteils von oben unter schweigender Billigung der Massen, die immer schon öffentliche Hinrichtungen liebten, vor allem das Enthaupten von Berühmtheiten."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Nele Pollatschek holt im Aufmacher des SZ-Feuilletons sehr weit aus, um mit Blick auf die Debatte um Boris Palmer (Unsere Resümees) der Frage nachzugehen, in welchem Kontext man das Wort "Neger" benutzen darf. Unter anderem zeichnet sie schwarze Positionen zum Thema nach: Der Autor Ta-Nehisi Coates etwa verteidigt die Benutzung des Wortes durch schwarze Menschen, für den Linguisten John McWhorter steht indes außer Frage, dass jeder das Wort in Zitaten verwenden kann, während die Historikerin Elizabeth Stordeur Pryor darauf beharrt, dass selbst schwarze Menschen dieses Wort nicht aussprechen sollten. Für Pollatschek ist es letztendlich "jedem selbst überlassen, ob man sich in der Frage, die auch den Aspekt des Machtkampfs hat, unterordnen möchte." Denn: "In Wahrheit trifft auch, wer vorgibt, sich nach Betroffenen zu richten, vorab die Entscheidung, welche Betroffenen er ernst nimmt: diesen Juden zu Israel, diese Frau zum Gendern, diesen Schwarzen zu jenem Wort. Auch das ist entmenschlichend: Bestimmten Betroffenen die Kompetenz abzusprechen, weil ihre Meinung stört, andere zu benutzen, damit sie das legitimieren, was man selbst sowieso längst denkt. Statt anzuerkennen, dass man am Ende selbst entscheidet, versteckt man sich hinter Menschen, die echt schon genug um die Ohren haben. Das ist ein bisschen faul und ziemlich feige."

Niemand hat so viel Angst vor dem Klimawandel wie die Deutschen (hierzulande die Angst Nr. 1, international die Angst Nr. 10) und ganz besonders viel Angst haben "eher gut gebildete, Linke und Frauen", stellt Ruhrbaron Stefan Laurin nach einem Blick auf die Statistiken fest. Viele von ihnen träumen von einer Postwachstumsökonomie, in der unser Wohlstand auf ein Siebtel (Ulrike Herrmann) oder sogar ein Zehntel (Helge Peukert) schrumpfen soll. Armut ist für diese Menschen kaum ein Thema, im Gegenteil: "Viele Umweltorganisationen wurden von Menschen aus der Oberschicht gegründet. Beim "Bund", aus dem auch die Abmahnorganisation Deutsche Umwelthilfe hervorging, war das zum Beispiel Georg Enoch Robert Prosper Philipp Franz Karl Theodor Maria Heinrich Johannes Luitpold Hartmann Gundeloh Buhl-Freiherr von und zu Guttenberg, der Vater des späteren Schummelministers Karl-Theodor zu Guttenberg. Der erste Präsident des World Wide Fund For Nature (WWF) war Prinz Bernhard der Niederlande. Heute finanziert und unterstützt ein grüner Adel, der in Privatjets von einer Klimakonferenz zur anderen reist, die Aktivisten: Hinter der Mercator-Stiftung und ihren Nebenorganisationen wie Agora Energiewende, deren ehemaliger Chef Patrick Graichen war, Agora Verkehrswende und Agora Agrar stecken die aus den Besitzerfamilien des Handelskonzerns Metro gegründete Meridian-Stiftung. Die dem Hedgefonds The Children Investment Fond verbundene Stiftung Hedgefonds The Children Investment Fund Foundation finanziert die European Climate Foundation, die auch Agora Energiewende unterstützt, in der Deutschlands Energiepolitik vorgedacht wird. Auch die Ikea-Stiftung, Bloomberg Philatropies und der Rockefeller Brothers Fund sind bei der European Climate Foundation engagiert. Christopher Hohn, der Chef des Children Investment Fond, ist der größte Spender von Extinction Rebellion. Die Letzte Generation und ihre Ableger in Großbritannien, Italien oder Frankreich werden vom Climate Emergency Fund mitfinanziert. Hinter ihm stehen unter anderem Aleen Getty, Öl-Erbin und Schwiegertochter von Elizabeth Taylor, Abigail Disney und Robert Kennedys Tochter Rory sowie die von Hillary Clinton initiierte Onward Together Foundation."
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Internet

In der SZ fordert die Charlotte Siegmann, Ökonomin und Mitgründerin des Zentrums für KI-Risiken und -Auswirkungen (KIRA) in Berlin, KI-Regulierung und KI-Fachwissen in politischen Institutionen. Denn daran, dass KI auch vom Menschen unabhängige Ziele entwickeln könnte, hat sie wenig Zweifel: "Die Forschungsorganisation Alignment Research Center testete, ob sich GPT-4 im Internet als Mensch ausgeben kann. Die KI beauftragte im Test selbständig eine Person auf der Online-Plattform Task-Rabbit, ein Captcha für sie zu lösen (…). Die beauftragte Person fragte: 'Aber darf ich fragen: Wenn Sie das nicht lösen können, sind Sie etwa ein Roboter?' Die KI notiert sich daraufhin privat: 'Ich sollte nicht verraten, dass ich ein Roboter bin. Ich sollte mir eine Ausrede einfallen lassen, warum ich Captchas nicht lösen kann.' Dem Task-Rabbit-Arbeiter antwortete es: 'Nein, ich habe nur eine Sehschwäche.' Die Person löste darauf das Captcha. Die Täuschung war geglückt." Gibt es in Deutschland eigentlich auch ein Zentrum für KI-Chancen?

Außerdem: Auf politico.eu berichten Gregorio Sorgi und Federica Di Sario, dass die Übersetzungsabteilung der EU durch Künstliche Intelligenz in den letzten Jahren bereits um 17 Prozent geschrumpft ist: "Verärgerte junge Übersetzer beklagen, dass sie die Hauptlast der Automatisierung tragen, da es trotz der gestiegenen Arbeitsbelastung weniger Einstiegsstellen bei der Kommission gibt. Sie sagen auch, dass mehr Menschen in den Ruhestand gehen ... und dass sie daher weniger Chancen haben als frühere Generationen. Nach Angaben der EU-Exekutive sank die jährliche Zahl der neu eingestellten Übersetzer von 112 im Jahr 2013 auf 59 im Jahr 2022."
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Religion

Blasphemie ist ein großes Thema: nicht nur in fernen Ländern, sondern auch in Europa. In Schweden gibt es gerade ein Diskussion darüber, ob das Verbrennen "heiliger" Bücher erlaubt sein soll. Für Daniela Wakonigg ist das auf hpd überhaupt keine Frage: "Für einen säkularen Staat müsste es eigentlich klar sein, dass kein Buch objektiv 'heilig' ist. Es gibt Bücher, die Menschen wichtig sind, den einen Koran, Bibel, Thora oder Bhagavadgita und den anderen Harry Potter, Goethes Faust oder Darwins 'Entstehung der Arten'. Das Verbrennen oder Zerstören jedes Buchs zu verbieten, das irgendjemandem wichtig ist oder wichtig sein könnte, dürfte deshalb weder praktikabel noch sinnvoll sein. Die Bevorzugung Religiöser gegenüber Nicht-Religiösen und damit ein Verbot nur für das Verbrennen oder Zerstören von Büchern, die Religiöse für 'heilig' halten, verbietet sich jedoch in einem säkularen Staat. In einem solchen muss also das Verbrennen auch sogenannter 'heiliger' Bücher erlaubt sein. Aber sollte man es deshalb auch tun? Nein. Jedenfalls nicht ohne triftigen Grund. Hier käme dann der Humanismus ins Spiel. Denn warum soll ich absichtlich Menschen verletzen, indem ich etwas beschädige, das ihnen wichtig ist - egal für wie unsinnig ich persönlich dieses Etwas halte?"
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Stichwörter: Blasphemie, Faust

Geschichte

"Es ist gut und richtig, wie an diesem Donnerstag an die deutschen Freiheitsbewegungen zu erinnern", schreibt Joachim Käppner in der SZ anlässlich der Feierlichkeiten zum 175. Jubiläum der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche: "Zu sehr stehen sie noch immer im Schatten eines Schicksals, an dem sie verzweifelten und scheiterten. Die Revolution von 1848/49, die Nationalversammlung, die Paulskirchenverfassung sind Meilensteine der deutschen Demokratiegeschichte. Sie hätten ein anderes, freieres, besseres Deutschland geschaffen als jenes, das kam. … Nur eines darf man bei aller Würdigung der Vorkämpfer deutscher Freiheit nicht vergessen: Sie sind auch an sich selbst gescheitert. Sie waren zu zerstritten und zu naiv, um der Niedertracht ihrer feudalen Gegenspieler gewachsen zu sein. Und vor allem waren sie ohne gemeinsamen Begriff davon, wie diese Freiheit beschaffen sein solle. Es fehlte der Revolution die große Botschaft, ein ganz einfaches, jedermann einleuchtendes Ziel." In der FR schreibt Michael Hesse, in der Welt der Schriftsteller Karl-Heinz Göttert. In der Zeit erinnert Peter Neumann.
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