9punkt - Die Debattenrundschau

Die angebliche Ahnungslosigkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.05.2023. Die taz erklärt, was Erdoganismus ist: Nationalismus, kombiniert mit Islamismus, und in der Türkei sehr erfolgreich. Asena Günal von der Istanbuler Kulturorganisation Anadolu Kültür erklärt in SZ, was in der zweiten Runde der türkischen Wahlen auf dem Spiel steht. Dass die Benin-Bronzen dem Oba von Benin übergeben werden, ist schon lange bekannt und nicht das eigentliche Problem, behauptet die Welt. "Das Buch taugt nichts", sagt Ilko-Sascha Kowalczuk der FAS über Katja Hoyers "Diesseits der Mauer".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.05.2023 finden Sie hier

Europa

Eine Art Islam-Nationalismus, von Politologen Erdoganismus genannt, hat Tayyip Erdogan erneut reüssieren lassen, analysiert Jürgen Gottschlich in der taz, und dabei sei vor allem der islamistische Aspekt unterschätzt worden. "Erdogan geriert sich als der wahre Führer des sunnitischen Islam." Er "hat Istanbul zum Zentrum der Muslimbruderschaft gemacht, die gerade jetzt, wo sich abzeichnet, dass der syrische Diktator Baschar al-Assad seine Macht wieder konsolidieren kann, für ihre Basis in Istanbul kämpfen. Aber nicht nur die Muslimbrüder haben für eine Wiederwahl Erdogans getrommelt, von den Taliban im Osten bis zu diversen libyschen Scheichs im Westen haben alle zu Erdogans Wahl aufgerufen. Für seine Anhänger in der Türkei ein klares Zeichen, dass ihr 'Reis' tatsächlich der Führer der islamischen Welt ist."

Burhan Sönmez, Romancier und Präsident der Schriftstellervereinigung PEN International, will sich im Gespräch mit Uli Kreikebaum von der FR seinen Optimismus bewahren und hofft, dass die Opposition im zweiten Wahlgang noch siegen kann. Er macht sich allerdings keine Illusionen: "Es würde viele Jahre dauern, bis ein funktionierender Rechtsstaat und demokratische Verhältnisse wiederhergestellt wären - Kilicdaroglu stünde im Falle eines Wahlsieges eine sehr starke Opposition samt einer Mehrheit im Parlament gegenüber - über Jahre gesicherte politische Verhältnisse, die zu einer nachhaltigen Demokratisierung führen würden, wären aus meiner Sicht eher unwahrscheinlich. Wenn Erdogan gewinnen würde, könnte er auch nicht in Ruhe weiterregieren: Dazu ist die Gesellschaft zu tief gespalten."

Warum es bei der Wahl ging, resümiert Asena Günal, Geschäftsführerin der Kulturorganisation Anadolu Kültür in Istanbul, in einem bewegenden Artikel für die SZ. Hier ein kleiner Auszug: "Die Rückkehr meiner Akademikerkollegen in ihren Beruf, die ihre Jobs verloren, weil sie die 'Erklärung für den Frieden' unterzeichnet hatten, die Rückkehr vieler Exilanten aus dem Ausland: Auch dies hing von dieser Wahl ab - ebenso die Rückkehr der Türkei in die Istanbuler Konvention, die Frauen vor männlicher Gewalt schützt. Und dann hofften wir auf das Ende der Hassreden, der Diskriminierung von LGBT+-Menschen, sowie insgesamt darauf, dass junge Menschen ihre Zukunft hier suchen, und nicht im Ausland." Und natürlich ging es auch um den Gründer der Organisation Osman Kavala, der seit sechs Jahren nach einem fabrizierten Urteil im Gefängnis sitzt.

Die Ampelkoalition hat ein neues Einbürgerungsgesetz beschlossen, das deutlich auch auf die Gewinnung neuer Arbeitskräfte zu zielen scheint. Einbürgerungen sollen schon nach fünf, ja drei Jahren möglich werden, wenn die Personen Arbeit haben und Deutsch lernen, berichtet etwa Hans Monath im Tagesspiegel-Aufmacher Außerdem "will die Ampelkoalition den Grundsatz aufgeben, dass eine Doppelstaatlichkeit zu vermeiden sei. Migrantinnen und Migranten dürfen demnach auch nach der Einbürgerung ihre bisherige Staatsangehörigkeit behalten, damit sie die Verbindung zu ihrem Herkunftsland nicht aufgeben müssen. In der Praxis sei das Prinzip ohnehin nicht mehr angewendet worden, heißt es."

Das mit der Doppelstaatlichkeit sorgt auf Twitter jetzt schon für Diskussionen:
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Kulturpolitik

Dass die Benin-Bronzen aus deutschen Museen in die Obhut des Oba von Benin übergeben werden, war schon seit längerem bekannt, behauptet Matthias Busse in der Welt und verweist auf einen Bericht des nigerianische Senders Arise. Demnach hat der Oba auch versprochen, die Werke in einem Museum öffentlich zu machen. Nicht die Meldung von der Zuständigkeit des Oba ist erstaunlich, so Busse. "Viel mehr erstaunt die angebliche Ahnungslosigkeit deutscher Verantwortlicher. Was bedeutet das für die Qualität der viel beschworenen Museumskooperationen, die Hermann Parzinger mit den Rückgaben anschieben möchte? Immerhin ist der SPK-Präsident in dieser Frage nicht irgendwer, sondern seit 2021 der Koordinator der Bundesregierung für diese Rückgaben - neben der ebenfalls von der Eigentumsübertragung an den Oba überraschten Direktorin des Museums am Rothenbaum in Hamburg, Barbara Plankensteiner."
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Gesellschaft

Ziemlich zornig spricht Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im Interview mit Stefan Locke von der FAS über Versuche, die DDR als lauschige Idylle zu verklären, in der man Diktatur so mir nichts dir nichts von sich wegschieben konnte. Katja Hoyers Buch "Diesseits der Mauer" feiert mit dieser Darstellung der DDR große Erfolge: "Es taugt nichts, weil es Alltag und Diktatur getrennt voneinander betrachtet. Die Autorin verharmlost nicht das politische System - das kann man ihr nicht vorwerfen -, aber sie entkoppelt es komplett von Gesellschaft und Alltag. Als ob das nichts miteinander zu tun hätte! Von SED über Mauer bis politische Indoktrination fehlt praktisch alles, was ihren Erzählfluss vom kuscheligen Leben stören würde. Dieses Buch ist aus wissenschaftlicher Sicht unmöglich. Gleichwohl bedient es eine Lücke. Wir haben es bisher alle in der Öffentlichkeit nicht geschafft, Gesellschaftsbilder über die DDR tragfähig zu machen, in denen sich viele Menschen wiederfinden. Die meisten fühlen sich ausgeschlossen von historischen Debatten über die DDR. Das ist ein Problem und die Begründung, warum diese populistischen Bücher so einen Erfolg haben."

Diese Lücke beklagt im Gespräch mit Anja Reich von der Berliner Zeitung auch der Historiker Rainer Eckert, der nach einigem Ärger aus dem Stiftungsrat der Bundesstiftung für Aufarbeitung der SED-Diktatur ausgetreten ist. In seinem Buch "Umkämpfte Vergangenheit" schildert er die scharf gespaltene "Aufarbeitungsszene". Das Buch sollte verhindert werden, er musste den Verlag wechseln. Eckert kritisiert, "dass sich die Diskussion viel zu lange und zu intensiv um Repression, Staatssicherheit und das SED-Unrecht drehte. Das waren alles wichtige Themen, aber die Mehrzahl der Ostdeutschen lebte ihren normalen Alltag, und eine starke Minderheit war begeisterter Anhänger der Diktatur. Und was uns wirklich fehlt, ist der Stolz auf unsere Friedliche Revolution."
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Geschichte

Sandra Kegel kommt in der FAZ auf die Feierlichkeiten in der Paulskirche zum Gedenken an 1848 zurück und erinnert daran, dass damals auch die erste Frauenbewegung in Deutschland entstand - obwohl die Frauen auch von den Parlamentariern der Paulskirche nach Kräften ausgeschlossen wurden: "Maßlos enttäuscht waren sie darüber, dass Menschenrechte in den deutschen Staaten noch immer nur mit Männerrechten gleichgesetzt wurden, während in Frankreich eine Olympe de Gouges bereits 1791 ihre Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin veröffentlicht hatte und volle Gleichberechtigung forderte. Das griff Amalie Struve in ihrem Kampf gegen weibliche Rechtlosigkeit auf, da ihr zufolge mit der Gleichstellung von Frauen und Männern nur erreicht werden solle, 'dass ein ewiges Menschenrecht, welches Jahrtausende hindurch mit Füßen getreten wurde, endlich zur Wahrheit werde'."
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Medien

War der "Stern-Skandal" um die gefälschten Hitler-Tagebücher auch ein Bertelsmann-Skandal? Erst jüngst stellte sich durch NDR-Recherchen heraus, dass die "Tagebücher", die jahrtzehntelang unter Verschluss gehalten wurden, Hitlers Rolle beim Holocaust systematisch verharmlosten (unsere Resümees). Dass dieser Aspekt Bertelsmann und seinen Eigentümer Reinhard Mohn besonders interessierte, ist laut Thomas Schuler und Steffen Grimberg in der taz nicht erwiesen. Aber Bertelsmann hatte damals schon Gruner-und-Jahr-Anteile, und der der damalige G+J-Chef und spätere Bertelsmann-Vorstandsvorsitzende Manfred Fischer "witterte für den Konzern ein Riesengeschäft beim weltweiten Verkauf der Buchrechte. Der Stern war bloß für die Vermarktung vorgesehen. Bertelsmann-Eigentümer Reinhard Mohn wurde von Fischer frühzeitig eingeweiht - auch in das mögliche finanzielle Risiko. Mohn war ebenso begeistert wie Fischer."

Der sehr beliebte und eher links fühlende RAI-Moderator Fabio Fazio verlässt den Staatssender. Sein Vertrag wurde unter der postfaschistischen Premierministerin Giorgia Meloni nicht verlängert. Diese agiert ziemlich geschickt, konstatiert Marc Beise in der SZ: "Mehr und mehr zeigt sich, dass die erste Frau an der Spitze einer italienischen Regierung, die mancher nach dem überraschenden Wahlsieg für eine kurzzeitige Erscheinung hielt, einen langen Atem hat und eine klare Agenda. Sie scheint entschlossen zu sein, dem Land ihren Stempel aufzudrücken. In der Debatte, wie rechts die Regierung wirklich ist, bestärken die Personalentscheidungen die Befürchtungen jener, die einen Kulturwandel befürchten."
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