9punkt - Die Debattenrundschau

Das Monster in unserer Mitte

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.01.2014. Der Princeton-Historiker Sean Wilentz attackiert Edward Snowden, Glenn Greenwald und Julian Assange in der New Republic als "paranoide Libertäre", während Eric Jarosinski in der FAZ Sascha Lobo mit Karl Kraus tröstet, Will Self denkt im Guardian über Englishness nach. Überhaupt Identitäten: Boggie macht sich schön. Alain Finkielkraut löst mit seinem Buch "L'Identité malheureuse" Stürme der Entrüstung aus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.01.2014 finden Sie hier

Europa

"Zumindest auf dem Papier ist die Ukraine jetzt eine Diktatur", resümiert zornig der Historiker Timothy Snyder im Blog der NYRB. Die jüngsten Gesetze, die Präsident Viktor Janukowitsch durchs Parlament gepeitscht hat, sprechen grundlegendsten demokratischen Rechten Hohn. Öffentliche Demonstrationen, auch friedliche, sind verboten. "In den letzten zehn Jahren gehörten die Ukrainer zu den beeindruckendsten Verteidigern ihrer Rechte. In den letzten Wochen haben die Ukrainer die Idee von Europa verteidigt und die Europäer selbst inspiriert. Wird irgendjemand die Zivilgesellschaft in der Ukraine verteidigen?"
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Gesellschaft

In Italien ist es für Frauen fast unmöglich geworden, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. In Spanien wurden die diesbezüglichen Gesetze verschärft. Im Europaparlament wurde der Estrella-Bericht über "Sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte" abgewiesen. Und Renée Greusard fragt in Rue89: "Wird es uns in Frankreich wie den Spanierinnen ergehen und die Abtreibung aus unseren Rechten verschwinden sehen? An diesem Wochenende protestierten zwischen 16.000 und 40.000 Menschen gegen Abtrreibung - da konnte man sich diese Frage stellen. Sie traten als Familien auf, oft in den Farben Spaniens, lächelnd und voll Zorn."

Ruth Rendell, englische Krimiautorin und Mitglied im House of Lords, fordert in der Daily Mail, dass in Britannien endlich etwas gegen die Beschneidung von Mädchen getan wird. Als sie und ihre Kollegen 2003 ein Gesetz auf den Weg gebracht hatten, das die Beschneidung von Mädchen mit bis zu 14 Jahren Gefängnis bestraft, waren alle Beteiligten fest davon überzeugt, dass es mit dieser grausamen Sitte bald ein Ende haben würde. "Aber nichts geschah. Mehr als zehn Jahre sind vergangen und es gab nicht eine einzige Anklage. In Frankreich wird häufig Anklage erhoben. In Ost-Kuria, einem Distrikt in Kenia, wurden die Eltern eines 13jährigen Mädchens ins Gefängnis geschickt und die Frau, die die Beschneidung vornahm, erwartet ein Gerichtsverfahren. Aber hier passiert nichts."

Heribert Prantl erinnert in der SZ angesichts der vorsintflutlichen Erziehungspraktiken der Sekte "Zwölf Stämme" daran, dass in Deutschland körperliche Züchtigung von Kindern erst seit 14 Jahren verboten ist.



Der britische Autor Will Self lässt in einem ellenlangen Essay im Guardian seinen Gedanken zur Englishness und ihrem Wandel in den letzten zwanzig Jahren freien Lauf: "Englishness ist eine Praxis - eine Art, an Dinge heranzugehen - und zugleich eine Art, etwas ins Englische umzuwandeln, was es bisher nicht war - Shish Kebab, Zwiebel-Bhajji, Ackee und gesalzenen Fisch. Das Problem der Englishness besteht darin, dass sie mitunter zu viel ist und zu unterschiedslos, das ist nicht gesund für einen alternden Nationalcharakter. Fish and Chips (ein gutes Beispiel für englische Praxis: belgische Pommes, gemischt mit aschkenasischem Bratfisch) wurde traditionell in Zeitungspapier eingewickelt; aber es entspringt nicht meiner Parteilichkeit als Journalist, dass ich glaube, die Engländer hätten besser daran getan, das Essen loszuwerden und die Verpackung zu behalten. Zumindest hätte ich gewünscht, das sie das getan hätten, wäre ihr großer und leidenschaftlicher Glaube an die Freiheit und Unabhängigkeit ihrer Presse - wie so vieles, das bis ins Mark Englisch ist - nicht ein Mythos."

Mark Zitzmann berichtet in der NZZ (aber nicht online) von den Stürmen der Entrüstung, die Alain Finkielkraut mit seinem neuem Buch "L'Identité malheureuse" ausgelöst hat, in dem er die Erosion französischer Kultur beklagt. Und er pustet mit: "Finkielkrauts Horrorvisionen von der 'Überfremdung', seine Attacken gegen das 'Regime', die alle republikanischen Parteien über einen Kamm scherten, nährten genau jene Ängste und jene Politikverdrossenheit, denen die Bewegung um Marine Le Pen ihren Zulauf verdanke."
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Überwachung

In der Netzpolitik erinnert sich der DDR-sozialisierte Kai Biermann daran, wie gut es in einem Überwachungsstaat möglich ist, das "Monster in unserer Mitte" zu ignorieren. Der Schrecken folgte später, nach 1989: "Plötzlich zeigte sich, dass jeder ein Staatsfeind gewesen sein konnte, auch wenn er selbst geglaubt hatte, dass er immer artig war. Ein Gerücht genügte, eine Bemerkung eines neidischen Nachbarn, eine Verdächtigung eines Bekannten - für die Stasi war jeder ein Feind. Und alles war ihr Recht, um mehr über die vielen Feinde zu erfahren, die sie überall sah. In den Stasi-Akten standen Freunde und Kollegen als Zuträger, Männer, die ihre Frauen bespitzelten und Kinder, die ihre Eltern verrieten. Die Gründe dafür waren so banal wie niedrig: Geld, Eitelkeit, Missgunst."

Wenn man in der Sache kein Argument hat, muss man die Personen angreifen. Sean Wilentz, Historiker in Princeton, traktiert in der Titelgeschichte der New Republic Edward Snowden, Glenn Greenwald und Julian Assange mit dem Argument, dass sie gar nicht an die Demokratie glauben, und versucht ihren wirklichen politischen Ideen auf die Spur zu kommen: "Das Ergebnis ist keine klar definierte Doktrin oder Philosophie, sondern so etwas wie ein politischer Impuls, den man mit einem Begriff Richard Hofstadters als paranoiden Libertarismus beschreiben kann... In Wirklichkeit hassen sie den modernen freiheitlichen Staat, und sie wollen ihn verletzen." Der Artikel wird heftig diskutiert und hat annähernd 300 Kommentare.

(FAZ) Britannien hat trotz Erfindung der Freiheit ein rigides Presserecht. Gillian Phillips, Justitiarin des Guardian, erzählt Corinna Budras auf der Medienseite, wie sie die Zeitung nach den Snowden-Enthüllungen durch die Attacken der britischen Behörden schleuste.
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Internet

(FAZ) Der amerikanische Germanist und Twitter-Aphorist Eric Jarosinski (@NeinQuarterly) kann Sascha Lobos Enttäuschung über das Internet verstehen und tröstet ihn mit zwei Karl-Kraus-Sprüchen: "'Das sind die wahren Wunder der Technik, dass sie das, wofür sie entschädigt, auch ehrlich kaputtmacht.' Oder, vielleicht in dieser Hinsicht noch treffender und erschütternder: 'Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht.'"
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Weiteres

Tsp - Eine Meldung informiert uns, dass Joachim Sartorius für zwei Jahre neuer Kurator des Hauptstadtkulturfonds sein wird.

(FAZ) Siebzig Jahre nach der Hunger- und Eisblockade begibt sich Sabine Berking auf Spurensuche in Sankt Petersburg.
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