9punkt - Die Debattenrundschau

Herbeigesehnter Phantomschmerz

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.05.2014. In der Welt erzählt der junge russischstämmige Journalist Filipp Piatov, warum seine Generation mit den Siegesfeiern zum 9. Mai nicht mehr so viel anfangen kann. Engadget erklärt, warum Google die Taxi-App Uber in seine Karten aufnimmt, aber nicht deren Konkurrenten. Google und NSA haben eng kooperiert, belegt Heise.de. Alle Zeitungen befassen sich weiter mit der Sammlung von Cornelius Gurlitt. Die SZ fragt: Wird Bayern sie überhaupt in die Schweiz ausreisen lassen?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.05.2014 finden Sie hier

Europa

Der junge russischstämmige Journalist Filipp Piatov beschreibt in der Welt, wie künstlich seiner Generation inzwischen die Siegesfeiern zum 9. Mai erscheinen: "Für junge Russen wirkt es wie Hohn, den Ruhm der Roten Armee zu feiern, während man alles tut, um der eigenen, russischen Armee zu entgehen. Opas Kriegstage sind fort und mit ihnen auch alles Glorreiche, wofür die Rote Armee in Russland einst stand. Nun sind es Geschichten von Soldaten wie Andrej Sychev, der als 19-jähriger Rekrut von betrunkenen Vorgesetzten gefoltert wurde, bis seine Beine und Genitalien amputiert werden mussten. Oder von Soldaten, die von Offizieren im Kaukasus als Sklaven verkauft oder mitten in Sankt Petersburg zwangsprostituiert wurden."

Boris Schumatsky hat in der NZZ ganz ähnliche Erinnerungen: "Der Feiertag des Sieges war in der Sowjetunion zwei Jahrzehnte lang kein arbeitsfreier Tag. Erst später, nachdem viele Soldaten des Zweiten Weltkrieges gestorben waren, begann der Kult um den 'Großen Vaterländischen Krieg'. Uns Schülern wurde die Ehrfurcht für unser 'Siegervolk' und seine glorreiche Regierung eingetrichtert. Offiziell beglaubigte Kriegsveteranen agitierten vor Schulklassen. Im Geschichtsunterricht studierten wir die Kriegsmemoiren von KP-Generalsekretär Breschnew." Kein Wunder, meint Schumatsky, dass die Russen heute wieder an den Krieg glauben.

Weiteres: In der taz berichtet Dirk Knipphals über die "Europäische Schriftstellerkonferenz", die am Donnerstag in Berlin stattfand. Beim Tagesspiegel findet man die Eröffnungsreden von György Dalos (hier) und Frank-Walter Steinmeier (hier). In Polen haben seit einigen Jahren die Neonazis verstärkten Zulauf, erzählt Michal Kokot von der Gazeta Wyborcza bei Zeit online, ohne dass die Behörden gegen Antisemitismus und Rassismus viel unternehmen.
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Gesellschaft

Der Guardian hat Statements von Schulmädchen aus aller Welt zusammengestellt, die gegen die Verschleppung der Mädchen in Nigeria protestieren. Wie wichtig Schulbildung für Mädchen ist, beweist schon der erste selbstbewusste Satz von Aminata Ahmed Dicko, 14, aus Timbuktu, Mali: "Going to school is important to me because I want to be chief prosecutor of the international criminal court, like Fatou Bensouda. We need more justice in Africa. My school was closed for nearly two years when the jihadists occupied Timbuktu. They used the school as a firing range and chopped up the desks for firewood. The men who have taken the Nigerian schoolgirls are the same types as we had here. You cannot called them Muslims. They are just criminals."

Hier Bilder aus dem Twitter-Stream zum Hashtag #bringbackourgilrs mit dem reichlich hilflosen Slogan: "Real Men Don't Buy Girls".


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Internet

Uber gehört zu den umstrittensten Internetdiensten seit Erfindung des Internets und mischt eine ganze Branche auf. Jüngst demonstrierten erst die Londoner Taxifahrer gegen die App, mit der man sich eine Limo rufen kann. Um so aufsehenerregender die Meldung bei Engadget: Google bringt eine neue Version seiner Maps für Android - und integriert die Möglichkeit, ein Auto mit Uber zu rufen: "Natürlich besagt die Integration von Maps und Uber nichts für User, die die App nicht nutzen", schreibt Sarah Silbert, "aber für Abonnenten gibt's die stete Erinnerung, dass ein Auto ein paar Wischbewegungen entfernt ist. Im Zusammenhang bretrachtet, verweist die Integration allerdings auf Googles Investition in Uber und könnte der erste Schritt in einer lang andauernden Partnerschaft sein." Google hat laut Engadget 258 Millionen Dollar in Uber investiert. Nicht nur Taxifahrer werden ich ärgern, sondern auch konkurrierende Apps wie Hailo und Lyft.

Noch eine Branchen-News: Sony gibt den Ereader-Markt auf, meldet das Blog Mobylives: "Leserkonten in den USA, Deutschland, Österreich und Australien werden am 16. Juni zu Kobo transferiert... Bei Sony werden 5.000 Angestellte in diesem Bereich entlassen."
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Kulturpolitik

Im Interview mit Hans-Joachim Müller von der Welt verspricht der Berner Museumschef Matthias Frehner, dass er Cornelius Gurlitts Erbe ganz korrekt antreten will. Auch die Provenienzforschung soll weitergehen: "In einem ersten Telefongespräch mit Gurlitts Anwälten ist mir zugesichert worden, dass die deutschen Kunsthistorikerinnen, die mit der Problematik befasst sind, weiter beschäftigt werden können. Dazu seien Mittel vorhanden." In einem Gespräch mit der SZ sagt Frehner ungefähr dasselbe. Hans Leyendecker und Catrin Lorch bringen in der SZ überdies die Frage ins Spiel, ob Bayern die Kunstwerke überhaupt wird ausreisen lassen. Sie könnten auch ins "Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes" aufgenommen werden, so dass ein Ausfuhr verhindert würde.

In der FAZ ist Jürg Altwegg wenig angetan von der Freude, mit der die Schweiz das Gurlitt-Erbe annimmt. Ausgerechnet die Schweiz! "Nach den Fragen, Bedenken, Skrupeln der unvollendeten Aufarbeitung - auch durch eine Historikerkommission - machte sich in der verschonten Schweiz, die sich nichts habe zuschulden kommen lassen, schnell wieder das intakte Selbstbewusstsein breit, in dem zwei Weltkriege und die Schoa keine tieferen Spuren hinterlassen haben. Selbstgerechtigkeit ist nach der gescheiterten Vergangenheitsbewältigung das Herzstück der helvetischen Identität: Die 'Masseneinwanderung' aus Europa hat sie gerade gestoppt. Seine Bilder nimmt sie gerne - falls es sich lohnt, wenn sie gut genug sind. Ein Geschenk für die Geschichte?"

Joachim Güntner hat für die NZZ bei einigen deutschen Museen nachgefragt, was sie von der Erbregelung halten, aber es wollte sich niemand äußern. "Vielleicht muss man Pensionär wie Ulrich Krempel sein, um frisch von der Leber weg sprechen zu können. Zwanzig Jahre lang, bis letzten Januar, war Ulrich Krempel Direktor des Kunstmuseums Sprengel in Hannover. ... Das Museum hat diese Geschichte aufgearbeitet und nebst Briefwechsel publiziert. Bis heute aber, sagt Krempel, sei nicht klar, was sonst noch alles über Gurlitt in die Bestände des Sprengel-Museums gelangt sei. Das Kunstmuseum Bern als Erben einzusetzen, begrüßt er. Er sei sicher, dass man dort der Provenienzforschung keine Steine in den Weg lege."
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Überwachung

Etwas untergegangen ist der zuerst von Al Jazeera aufgebrachte Mailwechsel zwischen NSA-Chef Keith Alexander und Eric Schmidt von Google, die eine enge Zusammenarbeit belegen. Heise.de kommentiert: "Auch wenn aus den beiden Mailwechseln nicht viel hervorgeht, zeigt es doch die Problematik, die sich daraus ergibt, dass die NSA im Netz sowohl für die Offensive als auch die Defensive zuständig ist. So war vergangenen Herbst bekannt geworden, dass der US-Geheimdienst die Leitungen zwischen Googles Rechenzentren anzapft..."
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Medien

René Martens stellt für den Freitag den niederländischen Dienst Blendle vor, der ein medienübergreifendes Micropayment für Zeitungsinhalte bietet (schon am 14. März hat Netzwertig hierüber berichtet, unser Resümee) - und er fragt, warum deutsche Verlage bei der Idee des Micropayment so zögern: "Befremdlich ist aber, dass Verlage ihre Abwehrhaltung gegen Micropayment nicht zuletzt mit der Befürchtung begründen, Abonnenten würden abspringen, wenn man ihnen die Chance böte, sich die Rosinen herauszupicken. Wer so ängstlich ist, hat schon verloren."

br-Intendant Ulrich Wilhelm verteidigt im Gespräch mit Stefan Fischer und Claudia Fromme von der SZ seinen Plan, den Sender Bayern Klassik nur mehr digital senden zu lassen, damit man eine Jugendwelle auf der UKW-Frequenz senden lassen kann (und benennt nebenbei das eigentliche Problem der jährlich mit über 7 Milliarden Euro versorgten Anstalten): "Wir erschließen der Klassik damit neue Hörerkreise. Wir schieben die Klassik nicht ins Nirwana, wie manche behaupten. Das wichtigste Argument für den Frequenztausch mit Puls ist der besorgniserregende Generationenabriss - für uns eine Existenzfrage. Auch junge Leute müssen bei uns eine Heimat finden. Die Verfassung schreibt uns vor, ein Angebot für die ganze Bevölkerung und alle Altersgruppen zu machen." Ähnlich argumentierte gestern br-Hörspieldirektor Martin Wagner in der FAZ.

Genau das bestreiten die Privatsender, berichtet heute in der FAZ Jörg Michael Seewald und zitiert Philipp von Martius, Vorstandsmitglied des Privatsenderverbands VPRT: "Der Bayerische Rundfunk habe mit seinen Radioprogrammen in der Altersgruppe der Zehn- bis Neunundzwanzigjährigen einen Hörermarktanteil von 36,2 Prozent. ... 'Bei solchen Hörerwerten gleicht die Behauptung des br von einem Generationen-Abriss eher einem selbst herbeigesehnten Phantomschmerz als einer realen Zustandsbeschreibung - außer man verwechselt den Auftrag zur Grundversorgung mit dem Streben nach unumschränkter Marktführerschaft in jeder Altersdekade.'"
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