9punkt - Die Debattenrundschau

Auf 99 Prozent der Landfläche

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.09.2014. In der New Republic erklärt der schottische Autor Angus Roxburgh, warum er für die Unabhängigkeit stimmt. Die NZZ plant offenbar einen radikalen Relaunch - erklärt Verwaltungsratspräsident Etienne Jornod persönlich. Das Handelsblatt probiert neue Varianten freier Meinungsäußerung, die außerdem noch Geld bringen. Der Freitag erklärt, wie Katar es schafft mit absolut jedem und dessen ärgsten Feinden (außer mit den Sklaven auf den Baustellen) Freundschaft zu schließen. Außerdem: Neues über die Kooperation zwischen NSA und BND.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.09.2014 finden Sie hier

Gesellschaft



Als die polnische Künstlerin Ania Dabrowska in London den obdachlosen Libanesen Diab Alkarssifi bei einer Porträtsitzung kennenlernte, befreundete sie sich mit ihm. Nach einiger Zeit brachte er ihr einen Sack voller Fotografien aus dem Libanon der siebziger Jahre mit, berichtet Sean O"Hagan im Observer. Es muss ein riesiger Schatz sein von etwa 27.000 Fotos: "From the late 1960s to the early 1990s, Diab Alkarssifi was an obsessive visual chronicler of the everyday as well as a photojournalist for a Lebanese Communist newspaper. His photographs comprise a social history of ordinary life in Lebanon during that time. But his collection also contains family albums - his own and those given to him by friends and neighbours - as well as formal portraits taken by various commercial photographic studios in Lebanon, passport photographs and anonymous snapshots. Some of the earliest images in his archive date back to 1898." Hier kann man eine Auswahl der Bilder sehen. Das Foto oben hat den Titel: Ashad"s Mother, Chlifa village, 1984 Diab Alkarssifi Photograph: Diab Alkarssifi

Sibylle Berg kommentiert in ihrer Spiegel Online-Kolumne die kaum wahrzunehmenden Reaktionen auf die Vergewaltigungen von Rotherham, die mit Rücksicht auf Multikulti vertuscht worden waren, weil die Täter zumeist pakistanischer Herkunft waren (mehr dazu auch von Slavoj Zizek hier): "Wann immer eine Kritik an Salafisten oder anderen Fundamentalisten in Europa erfolgt, kommt die Rede auf die Schuld des Westens. Und dann geißeln sie sich, teeren und federn sich. Warum kann man nicht sagen: Vergewaltiger sind Vergewaltiger, und Mörder sind Mörder, Terroristen sind Terroristen, egal welche Bullshit-Religion dafür verantwortlich gemacht wird?"

Der Biologe und Autor Josef H. Reichholf wendet sich in einem Essay in NovoArgumente gegen einen weitverbreiteten Diskurs, der "fremde Arten als Bedrohung der heimischen Natur" ansieht und nach "Ausrottung" ruft: "Seit mehr als einem Jahrtausend, seit den mittelalterlichen Waldrodungen, gibt es bei uns keine Naturlandschaft mehr; auch nicht in den kümmerlichen Resten, die als solche bezeichnet und in noch geringerem Umfang unter Naturschutz gestellt wurden. Auf Deutschland bezogen gilt, dass orts- und gebietsfremde Pflanzen auf 99 Prozent der Landfläche wachsen."
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Europa

Die Schotten wollen nicht "gehen", wie seine englischen Freunde sagen, schreibt der schottische Autor Angus Roxburgh, der in der New Republic (warum gerade da?) sein Ja für die schottische Unabhängigkeit begründet: "Wir stimmen doch nur für das Recht, unsere eigene Regierungen zu wählen, uinsere eigenen Steuern zu erheben und sie so auszugeben, wie wir es wollen- wie jedes normale Land. Uns aufzufordern, nicht zu "gehen" ist es bisschen, als würde man sagen: "Du sollst dich nicht selbst um deine Angelegenheiten kümmern. Du sollst die Regierungen haben, wir wir dir geben.""
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Politik

Im Freitag beschreibt Sabine Kebir die Winkelzüge des Emirs von Katar, der die Fußball-WM von 2022 ausrichten will, die Arbeiter dafür aber wie Sklaven behandelt. Der islamistische Extremistengruppen in Libyen und Syrien unterstützt, aber Al Dschasira in seinem Land duldet. Den Islamischen Staat unterstützt er angeblich nicht: "Jedenfalls hat die Führung Katars öffentlich dementiert, die Extremisten auszuhalten. Was daran stimmt, dürften bestenfalls spätere Generationen erfahren. Vielleicht wird sich dann auch erklären lassen, warum Katar seit 2012 Hauptfinanzier der palästinensischen Hamas ist, zugleich aber - in Sichtweite des Senders Al Dschasira - das Hauptquartier der US-Streitkräfte am Golf untergebracht hat, des Hauptverbündeten Israels."

In der NZZ diagnostiziert Paul Widmer den Niedergang der USA als Garant einer liberalen Weltordnung als Niedergang eben dieser Weltordnung: "Die USA nehmen die globale Führung höchstens noch beschränkt wahr. Man mag dafür Verständnis haben. Aber es bleibt ein Faktum. Die liberale Weltordnung ist heute an verschiedenen Fronten ernsthaft gefährdet."
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Ideen

In der NZZ ist eine gekürzte Version von Martin Mosebachs Vortrag über die Seele abgedruckt, den er für das Lucerne Festival erarbeitet hatte. In der Presse erklärt der Philosoph Peter Bieri im Interview, was für ihn der Begriff Würde bedeutet.
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Überwachung

Laut Spiegel speichert der BND in Bad Aichling den gesamten Datenverkehr der von ihm angezapften Verbindungen in Afghanistan, Somalia und dem Nahen Osten, meldet Zeit online. "Betroffen sei "jegliche Art von Kommunikation: Telefonie, Internetnutzung, E-Mail, GPS-Datenverarbeitung", wie das Nachrichtenmagazin Der Spiegel aus als geheim eingestuften Papieren der Bundesregierung zitiert." Und weiter: "Dem Bericht zufolge arbeitet der BND in Bad Aibling eng mit dem US-Geheimdienst NSA zusammen. Für die Auswertung würden "15 bis 20 funktional unterschiedliche Systeme" verwendet werden, die von der NSA stammen. Die Auswerter bekämen von den Amerikanern auch Suchbegriffe, etwa Telefonnummern, E-Mail-Konten und IP-Adressen von Zielpersonen. Die NSA erhalte letztlich "die resultierenden Telekommunikationsverkehre"."

Dazu meint Marcus Beckedahl bei Netzpolitik: "Wenn die Bundesregierung uns bisher erklärt hat, dass man von dem größten Überwachungsskandal in der Geschichte der Menschheit nichts wüsste, dann kann man das nur damit erklären, dass man, diplomatisch ausgedrückt, die Wahrheit sehr weit gedehnt hat. Unser Auslandsgeheimdienst ist viel tiefer und intensiver im Überwachungs-Netzwerk der Five Eyes um NSA & Co eingebunden als unsere Bundesregierung uns bisher mitteilen wollte. Das ist nicht nur ein Skandal, das dürfte auch verfassungswidrig sein."

Ebenfalls auf Zeit online berichten Ben Wagner und Claudio Guarnieri in einer Recherche, wie gut deutsche Firmen am Export von Überwachungstechnologien verdienen - und zwar auch in Staaten, die systematisch Menschenrechte verletzen.
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Medien

Das Handelsblatt legt die russische Propagandapostille Russia Beyond the Headlines bei, die von der SZ vor kurzem mit Zähnekirschen gestoppt worden war. Sie sieht aus wie Journalismus, ist aber eine hochbezahlte Werbung. Die taz zitiert die Presseerklärung des Handelsblatts dazu: "Die Verlagsgruppe Handelsblatt unterstützt keinen wie auch immer gearteten Anzeigenboykott gegen Russland und hält es - ihrer liberalen Tradition verpflichtet - für selbstverständlich, dass für Russland und russische Medien das Recht auf freie Meinungsäußerung genauso gilt wie für jeden Staatsbürger auch."

(Via hemartin) Recht lesenswert eine ausführliche Willenserklärung von Etienne Jornod, Verwaltungsratspräsident der NZZ-Mediengruppe, über die Digitalstrategie der NZZ, die er mit einer Fokussierung auf Journalismus, einem Bezahlmodell und neuen formen vorantreiben will - nicht ohne die bisherigen Strategien der Zeitungen im Netz zu kritisieren. "Wir haben viel Zeit verloren. Entsprechend müssen wir nun rasch und entschieden, aber auch mit großer Sorgfalt reagieren. Eine Lehre ist, sich frühzeitig mit der Zukunft auseinanderzusetzen. Ich kenne keine andere Industrie, die so wenig in Forschung und Entwicklung investiert wie die der Medien. Die Medienbranche hat ihre eigene Revolution verschlafen."

Jornods Text flankiert offenbar ein radikales Relaunch-projekt der NZZ, über das Othmar von Matt und Christof Moser für die Schweiz am Sonntag berichten: "Geplant sei mittelfristig, Aktualität und News in der Tendenz online zu publizieren, Hintergründiges dagegen nur noch in der Printausgabe. Diese soll zu einer Art Best-of aller journalistischen Angebote werden - seitenmäßig deutlich ausgedünnt."

Liest man einen SZ-Bericht Christoph Giesen und Kai Strittmatter, fragt man sich, ob die Deutsche Welle vom deutschen oder vom chinesischen Außenministerium finanziert wird. Regierungsfreundliche Berichterstattung scheint dem Sender nicht auszureichen: "Ende August reist Intendant Peter Limbourg nach Peking. Und setzt noch einen drauf: Die DW plane nun Kooperationen mit dem chinesischen Staatsfernsehen CCTV. Man wolle "kulturelle Brücken schlagen", teilte die DW Ende letzter Woche mit."

Außerdem: Für die Welt berichtet Mara Delius über Medienexperimente im Silicon Valley.
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