9punkt - Die Debattenrundschau

Unzählige Mensuren

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.04.2015. Schon weil er die Annexion Elsass-Lothringens betrieb, war Bismarck nicht der kluge Politiker, als den ihn manche bis heute feiern, meint der Historiker Christoph Nonn in der Zeit. In Amerika und Britannien fragen linke Feministinnen: Schadet der Säkularismus den Frauen und ihrem Recht aufs Kopftuch? Bei Spiegel Online übt Bertelsmann-Chef Thomas Rabe Kritik an seinen Vorgängern. Der Konflikt im Jemen ist nicht nur ein Stellvertreterkrieg, meint die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.04.2015 finden Sie hier

Gesellschaft

Religiöse Positionen zu kritisieren, ist ja in unserem neuesten Koordinatensystem "rechts". Und nein, Feministinnen sind nicht verpflichtet, "rechte" Autorinnen zu unterstützen, schreibt Elizabeth Stoker Bruenig in der New Republic (die leider nur noch ein Schatten ihrer selbst ist), und meint damit Ayaan Hirsi Ali. Sie antwortet auf einen Artikel Rich Lowrys in der New York Post, der findet, dass Hirsi Ali eine perfekte feministische Heldin abgibt: "Aber nein, Feministinnen können Hirsi Alis gefühlt virulente Islamophobie nicht unterstützen. "Unsere Gesellschaft, und speziell die Linke feiert zumindest im Geiste die Dissidenten", schreibt Lowry. "Aber einige Häretiker sind willkommener als andere." Lowrys Fantasie lässt nicht zu, dass jemand das Problem korrekt beschreibt (nämlich den Missbrauch von Frauen und Mädchen unter brutalen religiösen Regimes) und doch unrecht hat mit der Lösung (nämlich einem militanten Atheismus)." Mehr zu Hirsi Alis neuem Buch hier in unserer Magazinrundschau.

Das Middle East Eye veröffentlicht in bester Denunziantenmanier gar eine Art "Most Wanted"-Plakat, mit Millionären, die muslimfeindliche Kampagnen finanzieren, und "Aktivistinnen" wie Ayaan Hirsi Ali, die es wohl als ihre Sprachrohre betrachtet (und die es als indirekt verantwortlich für Verbrechen wie das von Chapel Hill darstellt):



Ebenfalls einen "linken" feministischen Standpunkt nimmt Kristin Aune in Open Democracy ein, wenn sie fragt: "Ist Säkularismus schlecht für Frauen?". Und weiter: "Geschlechtergleichheit sollte nicht gegen Religionsfreiheit ausgespielt werden. Welche politischen Arrangments können dazu beitragen, religiösen Frauen Frauenrechte und volle soziale Integration zu geben?"

Anders sieht es Necla Kelek in der FAZ, die zum jüngsten Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts schreibt: "Wenn jetzt noch der Druck auf die Mädchen durch Lehrerinnen, die offensiv das islamische Frauenbild demonstrieren, zunimmt, wird ein weiterer Weg in die Selbständigkeit verwehrt. Die Eltern werden sagen: "Kleide dich anständig wie deine Lehrerin."" Ebenfalls in der FAZ liest Lena Bopp die Memoiren Fereshta Ludins, jener Lehrerin, die sich das Recht aufs Kopftuch erstritt.

Ingeborg Harms beklagt in der Zeit den Verlust der Landschaften, die im Interesse verschiedener Industrien und Politikzweige immer mehr planiert werden. Schuld ist außerdem das Internet: "Jüngere Generationen sind ganz an die mediale Revolution verloren gegangen. Landschaft hat für die den Stellenwert der Panoramen, die das 19. Jahrhundert ergötzten. Bestenfalls ist sie ein virtuelles Ereignis. Denn während der PC-Bildschirm Zugang zu multiplen Dimensionen eröffnet, bleibt sein blinder Punkt die dritte Dimension." Dazu passt ein Artikel Michal Pilz" in der Welt, der sich in Europas grünster Metropole ergeht, womit er Berlin meint.
Archiv: Gesellschaft

Politik

Die jemenitischen Huthi werden von Teheran unterstützt, aber nicht gesteuert, schreibt Charlotte Wiedemann in der taz und plädiert dafür, den Konflikt im Jemen, nicht nur als Konfessions- oder Stellvertreterkrieg zu verstehen: "Der Ton der Nahostberichterstattung ist heute wieder so wie vor Beginn der Arabellionen. Es gibt Mächte, Religion, Geopolitik. Es gibt keine Bevölkerungen, die für Rechte und Teilhabe kämpfen. In der Vorstellung, ein Teil der Jemeniten ließe sich vom fernen Teheran instrumentalisieren, schwingt viel Verachtung mit. Man braucht für die Huthi keine Sympathie zu haben. Zu sehr hat sie die alte jemenitische Krankheit befallen: auf die Waffe setzen und die Waffe sich ihre Verbündeten suchen lassen. Aber der Westen gibt ihnen aus anderem Grund nicht die Hand: Ebenso wie gegen al-Qaida sind die Huthi gegen den amerikanischen Drohnenkrieg."

Im Blog der NYRB berichtet Robert F. Worth kenntnisreich und hintergründig über die Lage im Jemen und glaubt auch, dass Saudi-Arabien aus reinem Eigennutz den Einfluss des Irans hochspielt. Fatalerweise: "Jemens von den USA gestützter Präsident Ali Abdullah Salehs führte immer wieder Kriege gegen die Huthis, jetzt werden sie von Salehs Bruder Abdulmalik angeführt. Diese Kriege wurden mit solcher Brutalität und Inkompetenz ausgeführt, dass die Huthi-Bewegung schnell an Größe, Kampfkraft und Sympathie unter den nördlichen Stämmen gewann, die unter den Kriegen zu leiden hatten. Seit dem Aufstand 2011, der Saleh zum Rücktritt zwang, wird der Jemen theoretisch von Abd Rabbuh Mansour Hadi regiert. Er lancierte einen von den Golfstaaten und den USA unterstützten Umwandlungsprozess, doch tatsächlich verlor die Regierung die Kontrolle über das Land, al-Qaida und Entführer agierten ungebremst. Die Huthis waren die einzige Gruppe, die in ihrem Gebiet Ordnung und Disziplin aufrechthielten."

Vor hundert Jahren kam D.W. Griffith" grandioser, aber auch rassistischer Film "Birth of a Nation" heraus. In Slate rekapituliert Dorian Lynskey, wie die amerikanische Linke seit Griffith über Meinungs- und Kunstfreiheit diskutiert: "Die Linke ist seitdem über die Frage gespalten, ob ein Kunstwerk so gefährlich sein kann, um ein Verbot zu rechtfertigen."

Vielleicht was für heute abend:



Andreas Zielcke diskutiert im SZ-Aufmacher die noch einmal von Hans Joas aufgebrachte Frage, wie westlich die Menschenrechte sind beziehungsweise der Verstoß gegen sie.
Archiv: Politik

Ideen

In der SZ verteidigt der Basler Philosoph Markus Wild die Pläne der Freiburger Universität, den Heidegger-Lehrstuhl in einen für Sprachphilosophie umzuwidmen. Die Frontstellung gegen die vermeintlich amerkanische Ausrichtung hält er für falsch: "Als Begründer der analytischen Philosophie werden in der Regel deutsche und englische Denker wie Gottlob Frege oder Bertrand Russell genannt. Aber wie ist die analytische Philosophie in die USA gekommen? Interessante Geschichte! Deutschsprachige Philosophen wie Carnap, Herbert Feigl, Otto Neurath oder Gustav Bergmann emigrierten in den 1930er Jahren in die USA - viele von ihnen waren jüdischer Herkunft - und institutionalisierten dort die analytische Philosophie an den großen Universitäten Harvard, Princeton oder Yale. Alle waren sie Logiker, Sprachphilosophen, Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretiker, oftmals Mitglieder des "Wiener Kreises", freidenkende Geister, die in Mitteleuropa nicht mehr leben konnten. Die Freiburger Umwidmung wäre also Teil der anhaltenden Rückkehr einer emigrierten Tradition."
Archiv: Ideen

Geschichte

Die Zeit bringt eine Doppelseite zu Bismarcks 200. Geburtstag und kratzt ein wenig am Bild vom klugen Politiker - er selbst nämlich war es, der auf der Annexion Elsass-Lothringens beharrte, obwohl auch die Bevölkerung des Elsass sich Frankreich zugehörig fühlte, schreibt der Historiker Christoph Nonn, der die Annexion als schweren Fehler beschreibt. Mögliche Alternativen habe Bismarck nicht in Betracht gezogen: "Auch Moltke war nicht zimperlich. Allen Ernstes stritt er sich mit Bismarck darüber, was die "humanere" Methode sei, um die Franzosen zum Aufgeben zu bewegen: Paris in Schutt und Asche zu legen oder es auszuhungern. Im Januar 1871 - die Kämpfe hatten mittlerweile fast 200.000 Menschen das Leben gekostet - stimmte Frankreich der Abtretung Elsass-Lothringens schließlich zu... Das Deutsche Reich, gegründet in einer den Gegner demütigenden Zeremonie im Spiegelsaal des Versailler Schlosses, unternahm in der Folgezeit nichts, um die Bewohner des neuen "Reichslandes" wirklich zu integrieren und das Verhältnis zu Frankreich zu verbessern."

Norbert Lammert erinnert im zweiten Artikel an Parlamentarier aus der Bismarck-Opposition, die für das Zustandekommen der Demokratie in Deutschland mehr getan haben als der eiserne Kanzler.

In der FR will Wilhelm von Sternburg die seiner Ansicht nach beinahe religiöse Bismarck-Verehrung, nicht mitmachen und attestiert dem Reichskanzler vielmehr außergewöhnliche Intelligenz, Machtwille und Brutalität: "Bismarck war ein Renaissancemensch in preußischen Kleidern. Er aß und trank zeitlebens unmäßig, bestritt als Student begeistert unzählige Mensuren, machte am Spieltisch riesige Schulden, die ihn über Jahre belasteten, verliebte sich rasch in schöne Frauen, und er war zeitlebens ein gewaltiger Hasser."
Archiv: Geschichte

Medien

Bertelsmann-Chef Thomas Rabe übt im Gespräch mit Florian Harms und Christian Rickens von Spiegel Online Kritik an seinen Vorgängern: "Das Unternehmen hat auch zu lange auf strukturell rückläufige Geschäfte gesetzt. Zum Beispiel hat Bertelsmann noch 2003 und 2004 massiv in Tiefdruckkapazitäten investiert. Und es wurde versucht, das Clubgeschäft in über 25 Ländern zu transformieren. Viele dieser Investitionen mussten wir in den Folgejahren wertberichtigen." Unter Middelhoff wäre das nicht passiert!

Letzte Woche haut die Zeit zur Germanwings-Katastrophe den aggressivsten Titel überhaupt raus, heute kommt sie als Betschwester: "Die Mediengesellschaft braucht Regeln zur Wahrung der Besonnenheit in besinnungslosen Zeiten." Kreisch!

Den Seite 1-Artikel unter dieser bescheuerten Unterzeile schreibt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, der in einem Satz auch die Zeit-Titelgeschichtder letzten Woche krtisiert (er sei aus einem "Faktizitätsvakuum" entstanden) und konstatiert: "Die schlechte Nachricht lautet also, dass die Mediengesellschaft eine angemessene Katastrophendidaktik, einen klugen Umgang mit der plötzlichen, der totalen Präsenz des Schreckens erst noch lernen muss."
Archiv: Medien