9punkt - Die Debattenrundschau

Fata Morgana der Normalität

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.04.2015. Mehrere Autoren, darunter Michael Ondaatje, Teju Cole und Taiye Selasi, wollen der jährlichen Gala des amerikanischen PEN-Clubs fernbleiben, weil dort Charlie Hebdo geehrt wird, meldet AP. In der Berliner Zeitung graut es Ian Kershaw vor dem deutschen Durchhalten vor der Niederlage 1945. In der Welt geißelt Henryk Broder Frank-Walter Steinmeiers Schweigen zum Völkermord an den Armeniern. Die FAZ macht sich Sorgen um Deutsch in Frankreich. In der NZZ wirft Mark Lilla den französischen Schulen vor, den kulturellen Faktoren nicht zu beachten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.04.2015 finden Sie hier

Ideen

Hundert Peitschenhiebe, falls ihr euch nicht totlacht! Der amerikanische PEN-Club steht laut einem AP-Ticker (online im Guardian) vor der "größten Kontroverse seiner Geschichte": Mindestens sechs sehr bekannte Schriftsteller haben sich entschieden, die jährliche Gala des Clubs zu boykottieren, weil dort Charlie Hebdo geehrt werden soll: Zu den Autoren gehören Peter Carey, Michael Ondaatje, Francine Prose, Teju Cole, Rachel Kushner und Taiye Selasi. "Der Club meldete am Sonntag, dass die Schriftsteller empört seien über die Porträts von Muslimen und "von Benachteiligten insgesamt" in Charlie Hebdo... "Ich konnte mir nicht vorstellen, im Publikum zu sein, wenn es eine standing ovation für Charlie Hebdo gibt", sagt die ehemalige Präsidentin des amerikanischen PEN Francine Prose."

Für die Welt berichtet Hannah Lühmann über einen Heidegger-Kongress, der ausgerechnet im trüben Städtchen Siegen stattfand.
Archiv: Ideen

Geschichte

Sehr böse kommentiert in der Welt Henryk Broder die Weigerung Frank-Walter Steinmeiers, im Blick auf die Geschehnisse in der Türkei vor hundert Jahren das Wort "Völkermord" auszusprechen: "Macht es einen qualitativen Unterschied aus, ob sechs Millionen oder "nur" 1,5 Millionen Menschen ermordet wurden? Haben die Armenier, die in der Wüste verdurstet sind, weniger gelitten als die Juden, die in Auschwitz vergast wurden? Steinmeiers Ansatz ist offenbar ein anderer. Abgesehen davon, dass er die Türken nicht verärgern möchte, steckt in ihm das, was der Philosoph Hermann Lübbe mit dem Begriff "deutscher Sündenstolz" belegt hat. "Den Holocaust macht uns keiner nach! Er ist unser Alleinstellungsmerkmal, das wir mit niemand teilen wollen!""

Jeannine Hayat liest für Huffpo.fr einige Neuerscheinungen, die ein neues Licht auf Albert Camus" Engagement für ein demokratisches Algerien werfen, mit dem er scheiterte - so dass er in seinen letzten Jahren zu dem Thema verstummte: "Die Liberalen, die sich als Pressure Group etablieren wollten, verfügten nur über einen sehr geringen Handlungsspielraum. Sie mussten einerseits gegen die kolonialistischen Vorurteile der extremen Algerien-Franzosen kämpfen und zugleich ihre algerischen Freunde von den Vorteilen des Pluralismus überzeugen."

Im Interview mit Michael Hesse spricht der britische Historiker Ian Kershaw in der Berliner Zeitung über das Kriegsende vor siebzig Jahren, das die NS-Führung aus Hitler, Bormann, Goebbels und Speer bis zum bittersten Ende hinauszog: "Die Tatsache, dass Deutschland eine gut ausgebildete Bürokratie und eine lange Tradition des Staatsdienstes hatte, ließ das System weiter funktionieren. Löhne und Gehälter zum Beispiel wurden noch im März und April 1945 ausgezahlt, wenn auch mit drastisch verringerter Effizienz. Das Regime versuchte alles, um die Fata Morgana der Normalität aufrecht zu erhalten - sogar als sich der totale Zusammenbruch näherte. Es ist ziemlich erstaunlich, dass ein Fußballspiel immer noch stattfinden konnte, eine Woche vor Hitlers Selbstmord."

Weitere Artikel: Barbara Oertel schreibt zum Tod Wladyslaw Bartoszewskis, der als Auschwitz-Überlebender, Widerstandskämpfer, Regimegegner und Außenminister sozusagen ein polnisches Nationaldenkmal war und politische Kontrahenten mitunter auch als "Spinner, Pseudodiplomaten, Esel" abfertigte. Im Standard zitiert der Kulturhistoriker Bernhard Kathan aus Briefen eines jungen Wehrmachtssoldaten, der unbedarft mit seinem Trupp durch Europa zog: "Tatsächlich geht Gruber in Danzig baden, er geht ins Kino, schaut sich Sehenswürdigkeiten an, flirtet mit einem Mädchen. Das Bombardement findet Gruber bestenfalls lästig."
Archiv: Geschichte

Europa

Die französische Erziehungsministerin Najat Vallaud-Belkacem will den Deutsch-Unterricht an französischen Grundschulen einschränken, weil er zu elitär sei, berichtet Jürg Alwegg in der FAZ: "Der Widerstand ist gewaltig. Er kommt auch aus Deutschland. Die Botschafterin in Paris und der Leiter des Goethe-Instituts sind auf nicht sehr diplomatische Weise in der Öffentlichkeit aktiv geworden. In der Tat verletzt die Reform den Geist und die Abkommen der deutschen-französischen Freundschaft. In Paris und Nancy organisiert die Kulturabteilung "Informationsveranstaltungen" mit den Lehrerverbänden. "Noch immer setzt man Deutschland mit den Nazis gleich", stöhnt eine Lehrerin. Sie bezeichnet das Projekt als "Todesstoß für Deutsch"."

Die NZZ übernimmt Mark Lillas Report aus der NYRB über Frankreich nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo. Lilla sieht vor allem die Schulen als zentralen Ort, in dem das Land seine Konflikte um den Islam und die Situation in den Vorstädten austragen muss: "Wenn ich mir die journalistische und akademische Reaktion auf die jüngsten Ereignisse in Frankreich ansehe, fühle ich mich unwillkürlich erinnert an die Rassenpolitik im Amerika der siebziger Jahre. Damals galt es in liberalen Kreisen als rassistisch, zur Erklärung für die anhaltende Armut in afroamerikanischen Vierteln auch auf kulturelle Faktoren hinzuweisen. William Julius Wilson, Soziologieprofessor an der Universität Harvard und schwarz, wies nach, dass dieses Tabu sowohl Wissenschaft als auch Politik daran hinderte, wirksame Gegenmaßnahmen zu finden."
Archiv: Europa

Internet

Ron Amadeo erzählt auf Arstechnica die Geschichte von Youtube, das zehn Jahre alt wird und die Video- und Fernsehwelt revolutioniert. Allerdings hat "Google noch Arbeit. Laut Wall Street Journal ist Youtube immer noch nicht profitabel, es stehe kurz vor dem break-even. Susan Wojcicki - Google-Angestellte Nummer 16, früher Vizepräsidentin für Werbung und Handel und treibende Kraft hinter Adsense - hat 2014 die Leitung von Youtube übernommen. Anzeigen und Rentabilität sind auf der Plattform immer noch in der Projektphase. Aber die Nummer-3-Website im Netz hinter Google und Facebook zu besitzen, hat für Google viele Vorteile."
Archiv: Internet
Stichwörter: Wall Street Journal, Youtube

Medien

In der taz erzählt Daniel Bouhs, welche Technikunternehmen gern welche Medien zu welchen glamurösen Produktpräsentationen einladen.
Archiv: Medien

Politik

In der SZ nennt Benedikt Peters die Erzählung von Kubas "kolossalem Bildungssystem" einen reinen Mythos. Lange schon müssten sich Lehrer als Tagelöhner verdingen, um über die Runden zu kommen. Zum Beispiel Ricardo Prieto: "Prieto unterrichtet Englisch und Französisch an einem Preuniversitario, einer Schule für die kubanische Oberstufe. Dafür zahlt ihm der Staat 550 Pesos monatlich, das sind 21,70 Euro. Früher war das in Kuba viel Geld, doch nach der Wirtschaftskrise der Neunzigerjahre, Subventionskürzungen bei Lebensmitteln und steigenden Preisen reicht es lange nicht mehr zum Leben."

Volker Breidecker berichtet in der SZ ganz begeistert von den Frankfurter Römerberggesprächen zum Islam, bei denen unter anderem Khola Maryam Hübsch über den IS, die RAF und die Dynamik von Jugendprotestbewegungen sprach.

Gabriele Goettle porträtiert in der taz den Greifswalder Biologen und Umweltschützer Michael Succow, der zur Wendezeit dafür sorgte, dass die Müritz ein Nationalpark wurde.
Archiv: Politik