9punkt - Die Debattenrundschau

Die Erkenntnis der Kontinuität

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.03.2016. Die Debatte, ob das nun "Krieg" sei, flammt wieder auf: Nicolas Hénin, einst Geisel der Terroristen, erklärt im Guardian, warum er die Vokabel ablehnt. Im Tagesspiegel erklärt der belgische Autor Stefan Hertmans, wie Molenbeek zum Brennpunkt wurde. Sascha Lobo bei Spiegel online und Christiane Peitz im Tagesspiegel denken über den öffentlichen Raum nach dem Terror nach. "Weshalb diese Dämonisierung?", fragt der Kunsthistoriker Wolfgang Ruppert zwei Jahre nach der Gurlitt-Affäre in der taz. In der FAZ antwortet Reinhard Jirgl sehr polemisch auf Rafik Schami, der ihm und anderen "Islamophobie" vorwarf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.03.2016 finden Sie hier

Europa

Der in Brüssel lebende flämische Lyriker Stefan Hertmans erklärt im Interview mit Gerrit Bartels vom Tagesspiegel, wie Molenbeek zum Brennpunkt der Islamisten in Europa werden konnte: "Wenn in Molenbeek viel investiert wurde, dann von Saudi-Arabien, in Form teurer Moscheen und fanatischer Imame, die die vernachlässigte Jugend radikalisierten, den Salafismus nach Belgien brachten. Petrodollars werden investiert in Brüsseler Moscheen, das ist bigotte Realpolitik, über die wir nachdenken sollten. Das Dritte ist natürlich das Internet, die Kontakte nach Syrien, zum IS - aus einem lokalpolitischen ist ein globales Problem geworden."

Nicolas Hénin, einst Geisel des Islamischen Staats, warnt im Gaurdian vor dem Wort Krieg, das Manuel Valls gebraucht hat: "Die Terroristen wollen nicht nur über Krieg sprechen, sie wollen ihn auslösen, innerhalb Europas. Einen Bürgerkrieg. Aber es ist nicht Krieg. Ich ziehe es vor, von 'politischer Gewalt in großem Ausmaß' zu sprechen. Das wichtige an diesem Ansatz ist, dass wir solche Gewalt in unserer Geschichte schon erlebt haben. Wenn wir eine militaristische Sprache gebrauchen, gibt es keinen Weg. Wir werden unsere Feinde nur stärken." Hm, ist etwas etwas nicht, weil wir es nicht so nennen?

Rafik Schami kann über Reinhard Jirgl fast alles sagen, nur als antisemitisch oder islamfeindlich möchte er bitte nicht beschimpft werden. Damit, so Jirgl, habe Schami die Grenze zur Verleumdung überschritten. In einer erregten Antwort auf das Schami-Interview feuert er jetzt in der FAZ zurück: "Auch die haarsträubende intellektuelle und sprachliche Wirrnis, mit der Herr Schami mir sowohl 'Islamphobie' als auch das Bestreben vorwirft, 'die Aggressionen der Islamisten gegen Christen und Juden in den arabisch-islamischen Ländern zu schüren', selbst diese interviewgewordene Verleumdung folgt nur einer einzigen Strategie: Irgendetwas wird schon hängenbleiben an diesem Jirgl und seiner Fünferbande. Und irgendetwas bleibt auch bereits an mir hängen, das habe ich inzwischen erfahren."
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Kulturpolitik

Sehr freundlich ist Rose-Maria Gropps FAZ-Abschiedsartikel für Max Hollein, der die großen Frankfurter Museen verlässt, um nach San Francisco zu gehen: "Dass Hollein nach anderthalb Jahrzehnten weiterzieht, liegt nicht an Frankfurt; karrieristischen Ambitionen folgend, hätte er längst gehen können. Dass es für ihn freilich nur international weitergehen würde, konnte sich jeder denken, der seiner Arbeit gefolgt ist."
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Medien

Über hundert "führende internationale Schriftsteller" (so der Guardian) haben eine Petition an den türkischen Premier Ahmet Davutoğlu geschrieben und fordern die Freilassung inhaftierter Journalisten. Ihr Statement lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: "In den letzten Jahren haben türkische Behörden außerordentliche Anstrengungen unternommen, um Kritik und abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen. Das hat Auswirkungen in allen Bereichen der türkischen Gesellschaft. Die aktuelle Gesetzgebung und Überwachung reduzieren nicht nur die Meinungsfreiheit für die Autoren und Journalisten des Landes, sondern bedrohen die Grundrechte von Millionen Menschen." Zu den Unterzeichnern gehören JM Coetzee, Yann Martel, Elif Şhafak, Colm Tóibín und Mario Vargas Llosa. Leider setzt der Guardian keinen Link auf den Wortlaut!
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Geschichte

Wolfgang Ruppert, Autor eines Bandes über "Künstler im National­sozialismus", bespricht für die taz Meike Hoffmanns und Nicola Kuhns Biografie über den Kunsthändler Hildebrand Gurlitt, dessen Nachlass vor drei Jahren zur Sensation wurde und seinen Sohn Cornelius in Bedrängnis brachte. Aber mit wenigen Ausnahmen, so Ruppert, war die Sammlung nicht zu beanstanden: "Weshalb aber diese Dämonisierung im November 2013? Um nicht 'mitzumachen' hätte es eines oppositionellen politischen Bewusstseins bedurft, das er wie die ganz überwiegende Mehrheit des national eingestellten deutschen Bürgertums nicht hatte. So mag die Erkenntnis der Kontinuität über die 1950er Jahre hinweg, als Hildebrand erneut als Direktor des Düsseldorfer Kunstvereins amtierte, bis zur Gegenwart der Sammlung einen Teil des Erschreckens unserer Zeitgenossen ausmachen."
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Gesellschaft

Sascha Lobo denkt in seiner Spiegel-online-Kolumne über die Bewältigung von Katastrophen oder Attentaten im Netz und Aufmerksamkeitshierarchien nach: "Mit jedem Opfer, das man hervorhebt, verschweigt man 1.199 andere, wahrscheinlich geht es gar nicht anders. Konzentrische Kreise der Empathie, aus Selbstschutz, um nicht durchzudrehen, Brüssel sticht Ankara, Ankara sticht Aleppo, Aleppo sticht Bagdad, dann kommt lange nichts und dann Dikwa. Dort starben bei einem Selbstmordattentat 58 Menschen, hauptsächlich Frauen. Vor sechs Wochen. Weiß niemand mehr, niemand war Dikwa und niemand hat sich öffentlich beschwert, dass niemand Dikwa war."

Auch die Wahrnehmung des öffentlichen Raums verändert sich, schreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel: "Wer Anschläge ausschließen will, schränkt die offene Gesellschaft mit Sicherheitsmaßnahmen drastisch ein oder schafft sie gar ab - womit die Terroristen ihr Ziel erreicht hätten. Also gehen jetzt nicht die Rechtlosen auf die Straße, um für ihre Rechte zu kämpfen, sondern die bürgerliche Mehrheit drängt ins Offene und verteidigt ihre bedrohte Freiheit."
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