9punkt - Die Debattenrundschau

Unser nationaler Peter Pan

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.05.2017. In der SZ ruft Joschka Fischer die Kanzlerin und die EU-Politiker auf, einen künftigen Präsidenten Macron tatkräftig zu unterstützen. In Le Monde will Régis Debray nicht in den Sumpf zurückkehren, um sich vor dem Regen zu schützen. Le Monde mokiert sich über Marine Le Pens Euro-Programm, das sie nun aus opportunistischen Erwägungen gelockert hat.  Golem und FAZ berichten über Zensur an der Wikipedia in China und der Türkei. In der Berliner Zeitung protestiert Götz Aly gegen Arte, das eine Doku über Antisemitismus nicht zeigen will.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.05.2017 finden Sie hier

Europa

Marine Le Pen hat in der zweiten Wahlrunde eines ihrer Hauptschlachtrösser gezügelt: Sie will nicht mehr so richtig aus dem Euro raus. "Man versteht Madame Le Pen", schreibt Arnaud Leparmentier in Le Monde: "Ihr Projekt war ruinös, das Katastrofenszenario ist tausend Mal beschrieben worden: Kapitalflucht, galoppierende Zinsen, fallende Anleihekurse, Blockade, ja Pleite der Lebensversicherungen, Entwertung des Franc, Inflation und Verlust der Kaufkraft. Irgendwie wissen die Franzosen das und halten Le Pen unter einer 'Glasdecke'."

Bei Régis Debray, dem einstigen Weggenossen Che Guevaras und marxistischen Denker, weiß man heute zwar nicht mehr so recht, was linksradikal und was reaktionär im Sinne eines Botho Strauß ist. Aber in der ersten Runde hat er natürlich den Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon unterstützt und zeigt im Gespräch mit Nicolas Truong von Le Monde, dass er wie jene Mélenchon-Anhänger denkt, die sich in einer "Urabstimmung" zu zwei Dritteln gegen ein Votum für Macron ausgesprochen haben (mehr etwa hier): "Zwischen einem Finanzkapital, dem alles erlaubt ist, und einem Sozialismus, der sein kleines Einmaleins vergessen hat, hat sich eine große Bresche geöffnet, und der Luftzug, der von da kommt, treibt seit zwanzig Jahren die Mühlen Le Pens an. Wer dies fühlt, hat wohl das Recht ein wenig innezuhalten und nachzudenken. Und sich zu fragen, ob man dem Teufelskreis entkommt, wenn man in den Sumpf zurückkehrt, um dem Regen auszuweichen."

Ähnlich negativ die Macron-Beschreibung des von FAZ-Redakteurin Sandra Kegel befragten Autors Laurent Binet: "Natürlich ist die Figur Macron reizvoll: Er ist jung, er kommt scheinbar aus dem Nirgendwo. Aber Macron bedeutet business as usual. Tatsächlich kommt er ja gar nicht aus dem Nichts, wie das seine Bewegung 'En Marche!' inszeniert: Er hat fünf Jahre für die Regierung gearbeitet, zuletzt als Hollandes Wirtschaftsminister. " Etwas Ähnliches lässt sich von dem einstigen Mitterrand-Höfling Mélenchon natürlich nicht behaupten!

Nach dem ersten Wahlgang in Frankreich setzte Pascal Bruckner (dessen Artikel auf Zeit online wir übersehen haben) seine Hoffnung auf Emmanuel Macron. Trotz allem "könnte unser nationaler Peter Pan einen guten Schuss Jugendlichkeit in unser altes politisches System geben: Er ist der einzige Kandidat der proeuropäisch, proatlantisch, modern und wirtschaftsliberal ist und gleichermaßen als Beschützer der Schwächsten der Gesellschaft auftritt. Wird der kleine Prinz von En Marche fähig sein, Marine Le Pen in ihre Schranken zu weisen, die Wutanfälle der extremen Linken zu entwaffnen, den Jugendlichen in den Banlieues und den Außenbezirken eine Chance zu geben?"

In der SZ ruft Joschka Fischer die Kanzlerin und die EU-Politiker auf, einen künftigen Präsidenten Macron tatkräftig zu unterstützen: "Vor allem die EU-Kommission in Brüssel und die deutsche Bundesregierung müssen ein großes Interesse daran haben, dass seine Präsidentschaft ein Erfolg wird, und Frankreich aus seiner über Jahre hinweg anhaltenden Wirtschafts- und Identitätskrise herausfindet. Ein schwaches, wirtschaftlich stagnierendes, sich seiner selbst nicht mehr gewisses Frankreich ist eine akute Gefahr für das gesamte europäische Projekt, wie die derzeitige Situation und die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen."
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Geschichte

Ein Besuch der als Museum wiedereröffneten amerikanischen Botschaft in Teheran lohnt nicht, lernt man in der NZZ von Philipp Breu: "Es übernimmt eins zu eins die aus Iran längst bekannte antiwestliche und im Speziellen antiamerikanische Propaganda."
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Gesellschaft

Die Vorstellung von einer amerikanischen Identität zerfällt, notiert der Religionswissenschaftler und Autor Robert P. Jones in einem Kommentar in der New York Times. So groß wie heute war die Kluft zwischen Liberalen und Konservativen zuletzt im Bürgerkrieg, während der Einwanderungswellen Anfang des 20. Jahrhunderts und in den 1960ern: "Aber in jenen Zeiten verfügten die weißen Christen stets über eine sichere demografische und kulturelle Mehrheit in der Nation. Die Frage war damals, ob sie neuen Gruppen einen Platz an dem Tisch einräumen würden, der ihnen immer noch gehörte. Normalerweise wurde einer Gruppe ein Platz eingeräumt, wenn sie sich der Mehrheitskultur anpasste. Doch in den letzten zehn Jahren habe die weißen Christen die Mehrheit verloren, die übliche Strategie zieht nicht mehr. Weiße Christen kämpfen jetzt mit einer neuen Realität: dem unabwendbaren Verlust des Eigentums am Tisch im Austausch gegen einen gleichberechtigten Sitz. Und es ist dieser hochriskante Wandel, der die großen Auseinandersetzungen befördert, die wir jetzt beobachten."

In der NZZ will Thea Dorn die Hoffnung nicht aufgeben: Amerika sei schon immer zerrissen gewesen zwischen "Fortschrittsfreunden" und jenen, die auswanderten um an ihrer "althergebrachten Lebensform" festzuhalten. "Der ungeheure Erfolg, das Dynamische und letztlich auch das Sympathische, Anti-Totalitäre der amerikanischen Gesellschaft dürften genau darin begründet liegen, dass sie es wie keine zweite geschafft hat, die Spannung zwischen beiden Polen, zwischen ungestümen Modernisierern und sturen Beharrern, auszuhalten."
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Internet

China baut sich seine eigene Internetenzyklopädie, um der Wikipedia Konkurrenz zu machen, berichtet Werner Pluta bei Golem: Es gibt zwar "eine chinesische Ausgabe der Wikipedia, die etwa 940.000 Artikel umfasst. Zum Vergleich: Die deutsche Ausgabe hat über zwei Millionen Einträge, die englischsprachige knapp 5,4 Millionen. Daneben betreiben einige der großen Webanbieter eigene Online-Enzyklopädien, wie die Baidu Baike der Suchmaschine Baidu. Der Zugang zur chinesischen Wikipedia ist teilweise beschränkt. Viele Artikel, vor allem aus den Bereichen Wissenschaft und Technik, sind abrufbar, Einträge wie etwa um den Dalai Lama hingegen nicht." An der neuen chinesischen Enzyklopdäie arbeiten 20.000 Autoren mit. Die Artikel dürfen selbstverständlich nicht vom Publikum verändert werden."

Constanze Kurz berichtet in ihrer FAZ-Kolumne unterdessen über Zensur an der türkischen Wikipedia: "Die türkische Zeitung Hürriyet berichtet über die Vorgeschichte der aktuellen Netzsperre: Behörden hätten Wikipedia aufgefordert, bestimmte Autoren und Links zu entfernen, die der 'Terrorunterstützung' dienten. Dem sei nicht nachgekommen worden. Das Totschlagargument 'Terror' fruchtet nicht in einer Community, die der Sammlung von Wissen und Fakten gewidmet ist." Und Wikipedia-Gründer Jimmy Wales wurde von einem türkischen Kongress ausgeladen, nachdem er die Zensur in der Türkei kritisiert hatte, berichtet afp, hier in der FR.
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Stichwörter: Wikipedia, Wales, Jimmy, Hürriyet

Medien

"Arte verhindert Doku zu Antisemitismus", berichtete gestern Götz Aly in der Berliner Zeitung. Der von WDR-Journalisten für Arte gemachte 90-Minuten-Film wurde von Arte-Chef Alain Le Diberder wegen angeblich fehlender "Multiperspektivität" abgelehnt. In dem Film ist auch von Antisemitismus in der Linken und arabischem Antisemitismus die Rede. "Den in jeder Weise positiven Eindruck von dieser Dokumentation teilt mit mir der Historiker Michael Wolffsohn. Doch konnte die zuständige Redakteurin Rollberg nichts gegen die französische Blockade ausrichten. Deshalb baten die Filmemacher Tom Buhrow, den Intendanten des WDR, um helfendes Eingreifen. Wie Jörg Schönenborn in dessen Auftrag antwortete, respektieren er und Buhrow jedoch die 'nachvollziehbare', angeblich aus 'formellen Gründen' getroffene Ablehnung von Alain Le Diberder."

Götz Aly wird heute übrigens 70 Jahre alt - wir Perlentaucher, die sehr stolz sind, dass wir mit ihm so häufig kooperieren konnten, gratulieren!


Arno Widmann schreibt in der Berliner Zeitung zu Alys Siebzigstem (leider nciht onlline): "Es gibt Menschen, deren Intelligenz ist eins mit ihrer Anpassungsfähigkeit. Zu denen zählt Götz Aly nicht. Er wuchs auf in einem Deutschland, das vorgab, nichts gewusst zu haben von der Judenvernichtung, von dem mörderischen Euthanasieprogramm. Gegen diese Lebenslüge einer inzwischen fast ausgestorbenen Generation schreibt Aly an. Wie er auch anschreibt gegen die Vorstellung, die 68er-Bewegung - 'Brecht dem Staat die Gräten, alle Macht den Räten' - sei als Demokratisierung der bundesrepublikanischen Verhältnisse gemeint gewesen."

Fake News hin oder her. Der Brexit wurde von Zeitungen bewerkstelligt, nicht von Facebook. Katrin Brennholf blickt in einem Hintergrundartikel für die New York Times auf die bleibende Macht der Boulevardblätter in Britannien: "Ihre Leser, meist über fünfzig, Arbeiterklasse und außerhalb von London, sehen sehr stark nach jenen Wählern aus, die das Referendum im letzten Jahr entschieden haben. Diese Bürger des Brexitlands repäsentieren die Tabloids im Herzen des feindlichen Territoriums: Beherbergt in palastähnlichen Gebäuden in Londons teuersten Lagen sehen sie sich als die Londoner Botschaften Mittelenglands."

Simon Hurtz und Hakan Tanriverdi warnen unterdessen in der SZ vor dem "Facebook-Faktor", dem die SZ ein ganzes Dossier widmet. Deutlich geworden sei er in der amerikanischen Provinz, die für Trump stimmte, während die Leitmedien nichts von dieser Tendenz bemerkten: "Je mehr Lokal- und Regionalzeitungen sterben, desto drastischer wird dieser Effekt. In Deutschland ist es noch nicht so weit, aber die Entwicklung geht in dieselbe Richtung. München, Berlin und Hamburg sind großartige Städte, aber ein Großteil der Bevölkerung lebt woanders. Teilweise findet man diese Menschen auf Facebook, teilweise müssen Reporter öfter weiter weg von ihrer Redaktion recherchieren."

Weiteres: In der NZZ analysiert Paul Jandl den Niedergang der Streitkultur, den er vor allem durch die neuen Medien befeuert sieht. In der FAS warnt Bert Rebhandl schon mal vorsorglich vor der annoncierten, aber bisher noch nicht konkretisierten neuen Rechercheplattform des österreichischen Milliardärs Dietrich Mateschitz (Servus TV), denn Mateschitz verbinde gewisse populistische Ansichten (Kritik an den Mainstreammedien oder an der europäischen Russlandpolitik) "mit einer Haltung, die ihn für libertäre wie für ökosoziale Aspekte gleichermaßen anschlussfähig erscheinen lässt: 'Individualismus und Nonkonformismus'".
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Religion

Schon unter den Nazis wurde Martin Luther gefeiert. Ulrich Gutmair erzählt in der taz anlässlich der Ausstellung "Überall Luthers Worte... - Martin Luther im Nationalsozialismus" in der Topografie des Terrors, wie zwiespältig es sich mit der EKD in der Nazizeit verhielt: "Zwar erging es den Anhängern der Bekennenden Kirche, die sich wie Bonhoeffer lautstark kritisch gegenüber dem Regime äußerten, schlecht. Im Jahr 1937 allein wurden fast 800 Pfarrer und Kirchenjuristen der Bekennenden Kirche vor Gericht gestellt, unter ihnen Martin Niemöller. Es gab Protestanten, die für ihren Glauben starben. Aber der evangelischen Kirche ging es unter dem neuen Regime materiell gut: In der Ausstellung wird von dem erstaunlichen Umstand berichtet, dass zwischen 1933 und 1944 über tausend Kirchengebäude umgestaltet oder neu errichtet wurden."

Auch die DDR war nicht einfach ein Terrain der Christenverfolgung. Karsten Krampitz erinnert ebenfalls in der taz etwa an den evangelischen Landesbischof von Thüringen, Moritz Mitzenheim, der am 17. Juni 1953 von einer "faschistischen Provokation" sprach: "Die SED verlieh dem Bischof den Vaterländischen Verdienstorden und den Orden Stern der Völkerfreundschaft. Erst 1970 ging Mitzenheim in den Ruhestand. Sein Nachfolger, der 1933 in die NSDAP und in die SA eingetretene Ingo Braecklein, dessen IM-Akten mehr als 3.000 Seiten ergeben, erhielt von der Stasi schon mal als Dankeschön ein teures Teeservice aus Meißner Porzellan oder eine Brecht-Ausgabe."
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