9punkt - Die Debattenrundschau

Auf den Klippen von Dover

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.06.2017. Trotz der Schwächung ihrer traditionellen Parteien, siegt mit Emmanuel Macron auf paradoxe Art die Fünfte Republik, staunt Libération nach der ersten Runde der französischen Parlamentswahlen. Und der Mann ist schlau! Im NYRB Blog fragt Fintan O'Toole, wer in Britannien überhaupt das Volk ist. Die SZ stellt die peinliche Frage, wer ein rechtsextremes Buch auf die Sachbuchbestenliste des NDR gebracht hat. Die taz fordert Arte auf, die Antisemitismus-Dokumentation von Sophie Hafner und Joachim Schröder zu zeigen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.06.2017 finden Sie hier

Europa

"Feindliche Übernahme", titelt Libération nach der ersten Runde der französischen Parlamentswahlen, die Emmanuel Macron eine absolute Mehrheit in Aussicht stellt. Trotz der Schwächung ihrer traditionellen Parteien der, stellt Macrons Erfolg ein "erstaunliches Comeback der erschöpften Fünften Repbulik" dar, analysiert Grégoire Biseau in Libération - denn die Fünfte Republik ist ein auf die Person des Präsidenten konzentriertes Regime. "Nach der ersten Runde der Präsidentschaftwahlen schien Macron verdammt, mit einer schwachen Mehrheit zu regieren... Nun hat er ein Plebiszit gewonnen. Und es bleibt nichts als anzuerkennen, dass er es diesmal nicht günstigen Umständen, sondern einer beeindruckenden politischen Geschicklichkeit verdankt."

Sein starkes Mandat hat Emmanuel Macron allerdings bei fast schockierend geringer Wahlbeteiligung erhalten. Pierre Briançon und Nicholas Vinocur schreiben in politico.eu dazu: "Umfragen, die Macron eine absolute Mehrheit voraussagten mögen seine Anhänger vom Wählen abgehalten haben. Die republikanischen Wähler scheinen sich in die kommende Niederlage gefügt zu haben, und Wähler populistischer Parteien bei den Präsidentschaftswahlen haben sich diesmal entschlossen, fernzubleiben. Dies sind mögliche Erklärungen für die überraschend geringe Wahlbeteiligung, die einen starken Kontrast zu den letzten drei Parlamentswahlen bilden, bei denen die Wahlbeteiligung bei 61 Prozent lag."

Die französische Linke ist ausgeblutet, stellt Gaël Brustier in slate.fr fest - und nicht nur die französische: Denn "der französische Fall ist nicht zu trennen von einer Entwicklung auf europäischer Ebene. Die Krise der Sozialdemokratie hat sich beschleunigt, während die radikale Linke nicht weiß, wie sie sich neu definieren soll. Im Herzen der sozialdemokratischen Parteien macht weht unterdessen ein neuer radikaler Wind, während die Parteien selbst seit 1980 wirtschaftspolitisch dem europäioschen Konsens folgen. In allen Gesellschaften haben die Krise von 2008 und eine Reihe von technologischen Veränderungen zu tiefgreifenden Konsequenzen geführt."

Jeremy Corbyn und Theresa May haben beide versprochen, den Willen "des Volkes" zu erfüllen. Aber wer ist das Volk, das zur Hälfte hierhin und zur Hälfte dorthin neigt? Fintan O'Toole weiß es im Blog der New York Review of Books auch nicht so recht. Klar ist nach der Wahl nur, dass Theresa May mit ihrer Strategie gescheitert ist, "das Volk" für den unausweichlichen Brexit hinter sich zu sammeln, den sie ursprünglich selbst für falsch hielt: "Um an die Macht zu kommen musste May vorgeben, auch sie träume den unmöglichen Traum. Sie unterstützte einen unechten Populismus, wonach die kleine zweideutige Mehrheit der Brexitbefürworter als 'das Volk' auferstand. Das ist kein Konservatismus, das ist reiner Rousseau. Der Volkswille artikulierte sich am heiligen Referendumstag und darf niemals in Frage gestellt werden." Mays Entscheidung für Neuwahlen, obwohl sie eine starke Mehrheit hatte, war dann auch die "unvermeidliche Folge ihrer völkischen Rhetorik. Eine arbeitsfähige Mehrheit war nicht genug - das vereinigte Volk musste ein vereinigtes Parlament haben und einen einzigen, unangefochtenen Führer: ein Volk, ein Parlament, eine Königin Theresa, die auf den Klippen von Dover steht und ihren Speer der Souveränität gegen die verdammten Kontinentaleuropäer schüttelt."

In der Welt spricht Hanns-Georg Rodek mit dem britischen Regisseur und Aktivisten Ken Loach über den überraschenden Stimmengewinn von Jeremy Corbyn. Der steht nun auch im Innern seiner Partei vor gewaltigen Herausforderungen, sagt Loach: "Die einfachen Mitglieder unterstützen Corbyn, die Fraktion ist ihm feindlich gesinnt. Sie hat zwei Jahre lang versucht, ihn loszuwerden. Corbyn muss die Kontrolle über die Parteimaschine erlangen."
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Ideen

Eine höchst peinliche Geschichte hat SZ-Redakteur Lothar Müller über die NDR-Sachbuchbestenliste zu erzählen: Dort rangiert auf Platz 9 das Buch "Finis Germania" des im Herbst 2016 verstorbenen Historikers Rolf Peter Sieferle, das im rechtsextremen Antaios-Verlag erschienen ist.  In seinem Buch fordert Sieferle "'das indigene Volk' der Deutschen auf, sich gegen die Bedrohung durch die aktuellen Migrationsbewegungen zu behaupten und seine 'spezifische Identität' zu verteidigen. "Offenbar hat es ein Jury-Mitglied geschafft, seine anonym vergebenen Punkte geschickt zu platzieren: "Auf die öffentliche Kritik an der Aufnahme des Sieferle-Buches in die Liste hat bisher kein Jury-Mitglied mit der öffentlichen Erläuterung seiner Gründe reagiert, für Sieferles Buch zu votieren. Jens Bisky, Sachbuch-Redakteur der SZ, der nicht für Sieferles Buch votiert hat, ist am Sonntag aus der Jury ausgetreten." Wer raten will, hier die Liste der Jurorinnen.

Früher nannte man die Unterprivilegierten "Proletariat" und erwartete von ihnen, dass sie die Welt verändern. Heute nennt man sie "Arme" und will sie pflegen und versorgen. Ganz schön herablassend, meint Daniele Giglioli in der NZZ: "Die Ermächtigung derer, denen das Recht vorenthalten wird, der Armut zu entkommen, wird dabei gar nicht mehr ernsthaft erwogen. Sie werden im Diskurs reduziert zu Objekten der Pflege, der Fürsorge, des Mitgefühls: Wer arm genannt wird, sieht sich seiner Eigenständigkeit beraubt. Die einzig wahre Souveränität haben jene inne, die für sie leiden."
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Gesellschaft

Die Formal LGBTI* oder deutsch LSBTI* für alle möglichen Spielarten sexueller Identität kannte man ja schon, nun soll man aber noch "Q" für Queer oder Questioning und "A" für asexuell anhängen. Jan Feddersen will in der taz nicht mehr mitmachen:  Diese "mutierte - ja entgrenzte - Formel markiert nicht mehr ein politisches, sondern ein identitäres Programm, das nicht mehr nach Politiken, nach Rechten und Rechtslagen fragt, sondern nach Einverständnis mit einer Welt, in der die Geschlechter sich auflösen, nur noch als konstruierte scheinen - und alles abgelehnt wird, was irgendwie schlicht und ergreifend heterosexuell sich äußert. Etwa eine Frau, die einen Mann will und mit diesem zusammen ein Kind oder gar mehrere. Ein Verblendungszusammenhang - schwer der Heteronormativität, ließe sich spötteln, auf den Leim gegangen!"

Im Auftakt zum SZ-Schwerpunkt "Männlichkeit in der Krise" erklärt Julian Dörr, warum das ein Thema ist: "Die Angst als große und am Ende vielleicht einzige Triebkraft menschlichen Handels, da taucht sie wieder auf. Angst vor der Arbeitslosigkeit, Angst vor dem Bedeutungsverlust, Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg. Es geht um Männer, die nicht mehr da stehen, wo sie einst standen, die unter einem Gefühl von Verlust leiden. Ihre Antwort ist der Rückzug in die Opferrolle und die Besinnung auf eine traditionelle Vorstellung von Männlichkeit. Deshalb verbirgt sich in der Frage nach den Geschlechterrollen die grundsätzliche Überlegung, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Und während das eine Lager hartnäckig die Leistungsfähigkeit des Mannes als höchstes Gut in der Leistungsgesellschaft unterstreicht und sich dabei auf alte Tugenden beruft, strebt die progressive Position nach einer Verbesserung des Zusammenlebens aller. Noch aber ist die Remaskulinisierung überall zu spüren..."
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Überwachung

"Staatstrojaner" zur "Durchsuchung von Computern bei Verdacht auf schwere Straftaten ihrer Besitzer gibt es längst. Aber ihre Anwendung war bisher begrenzt, schreibt Constanze Kurz in ihrer FAZ-Kolumne. Nun möchte die Regierung aber noch einen kleinen Bruder des Staatstrojaners, der nicht ganz so viel kann: "Um Terrorverdächtige und schwerste Verbrechen geht es bei dieser Änderung der Strafprozessordnung längst nicht mehr, sondern um tägliche Routineermittlungen."
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Medien

Die Diskussion um den Dokumentarfilm "Auserwählt und ausgegrenzt - Der Hass auf Juden in Europa" von Sophie Hafner und Joachim Schröder, der auf Arte laufen sollte und von Arte und WDR gestoppt wurde, reißt nicht ab. Die Jüdische Gemeinde setzt sich für eine Ausstrahlung des Films, der den Antisemitismus nicht nur "rechts" verortet, ein. Auch René Martens plädiert in der taz für den Film: "Die taz hatte mittlerweile die Möglichkeit, den zurückgehaltenen Film zu sehen. Das inhaltliche Spektrum reicht von einer Analyse der Sprache der Antisemiten, die es verstehen, ihrer Ideologie freien Lauf zu lassen, ohne konkret von Juden zu reden, bis zur detaillierten Beschreibung massiver europäischer Finanzhilfen für israelfeindliche NGOs. Diese wiederum fachen mit Falschdarstellungen über israelische Politik den europäischen Antisemitismus an, der bis weit in die Mitte der Gesellschaft - und auch in den Qualitätsjournalismus - hineinreicht."
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