9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Gespinst der Nichtkommunikation

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.07.2018. Facebook zensiert die nackten Busen der Grazien von Rubens - wogegen flämische Museen prostestieren - nicht aber Morddrohungen gegen den FBI-Ermittler Robert Mueller, staunt Buzzfeed. Zeit online prangert eine neue Untat des Rassismus an: Die Wikipedia ist von achtzig Prozent von weißen Männern geschrieben.  Die SZ liest ein Papier der AfD zur Rückgabe von Kunst aus der Kolonialära und findet es argumentativ geschickt. Im Tagesspiegel fordert Zafer Senocak Respekt für Mesut Özil.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.07.2018 finden Sie hier

Gesellschaft

Der türkisch-deutsche Autor Zafer Senocak verteidigt im Tagessiegel Mesut Özil gegen den Rassismus und die Kleingeistigkeit der Deutschen: Deutschland sei ein Einwanderungsland, dem "Einwanderung widerfahren" ist: "Einwanderungsland zu sein aber bedeutet, einen mühsamen Weg der Anwerbung einzuschlagen. Dieser Weg ist lang und vor allem er hört nicht an den Grenzpfosten auf. Zudem ist er mit Respektsteinen markiert. Wir sind dabei, diese Steine einzeln beiseitezuräumen, im Glauben, dass es dann ein besseres Fortkommen geben wird. Ohne Respekt aber wird es keine Anerkennung und ohne Anerkennung kein Auskommen geben."

Wie viele deutsche Medien, Politiker und Publizisten beklagt auch Tayyip Erdogan laut einem Agenturticker in der FAZ, dass Mesut Opfer deutschen Rassismus geworden sei. Er habe Özil telefonisch seine Solidarität übermittelt.

Özil nahm mit seinem Schweigen zu seinem Wahlkampffoto mit Erdogan "dem Deutschen Fußball-Bund jede Möglichkeit, das Problem konstruktiv und vor allem schnell zu lösen", schreibt Markus Völker in der taz. "Beide, der DFB und Özil, waren während der WM auf fatale Weise verwoben in ein Gespinst der Nichtkommunikation. Ein irrer Stillhaltepakt war das. Daraus gab es zunächst kein Entrinnen. Der Knoten löste sich erst mit dem frühen WM-Aus. Es musste einen Knall tun, damit wieder Bewegung in die Sache kommen konnte."

Hart geht im SZ-Gespräch mit Jonathan Fischer die Bloggerin Tuba Sarica mit jenen Deutschtürken ins Gericht, denen sie, auch in ihrem zum Thema erschienenen Buch, Scheinintegration vorwirft. Einen Grund sieht sie auch darin, dass auch in der dritten Generation die Autorität der Eltern nicht in Frage gestellt wird: "Schon den Kindern wird beigebracht, dass alle Deutschen so und so sind. Jedes schreckliche Ereignis wird da zum Schutzschild gegen eine wirkliche Integration missbraucht. Erdogan hat die Schwächen der Parallelgesellschaft, ihr Opferdenken, ihre unterdrückte Sexualität, ihre Neigung zu Gewalt und zu Gehorsam gegenüber allem Religiösen erkannt und für sich instrumentalisiert. In einer Rede sagte er: Die Türken in Deutschland müssen Qualen erleiden. Und: Ihr müsst euch nicht assimilieren. Das löste Begeisterung aus. Wenn Frau Merkel dagegen sagt 'Ich bin auch eure Kanzlerin', wollen das viele gar nicht hören."

Das Internet führt zu einer Zunahme antisemitischer Äußerungen, glaubt Wolfgang Krischke in der FAZ, der sich auf eine Studie der TU Berlin im Netz bezieht (unser Resümee). Besonders geht es um die Kommentarbereiche auf den Internetseiten der Zeitungen, die nach Stichwörtern wie "Israel" oder "Juden" durchsucht wurden: "Der Anteil der Zuschriften, die die Forscher als antisemitisch klassifizierten, stieg bei dieser gemeinhin als seriös geltenden Leserschaft von 7,5 Prozent im Jahr 2007 auf 30 Prozent zehn Jahre später. Diesen Angaben lässt sich nicht entnehmen, ob auch die Zahl der Antisemiten in Deutschland in diesem Zeitraum gestiegen ist." (Man muss allerdings nicht ein Leser der Zeitung sein, um online zu kommentieren.)
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Europa

Wladimir Putin ist ein Schein-Riese, schreibt Marie Mendras im Guardian: "Letztlich wird das Streben nach globaler Macht nicht ausreichen, um eine fragmentierte Gesellschaft und ihre unterschiedlichen Eliten um den starken Mann zu scharen. Die Russen wollen einen besseren Schutz gegen den sinkenden Lebensstandard, und viele fürchten, dass die Rentenreform nur dazu dienen soll, noch mehr Geld in die Rüstungsbudgets und die persönliche Bereicherung zu lenken."
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Kulturpolitik

Mindestens in der Kulturpolitik hat sich die AfD inzwischen auf subtilere Methoden verlegt, schreibt Jörg Häntzschel in der SZ mit Blick auf das AfD-Papier zu Provenienzen von Kunst aus der Kolonialära in deutschen Museen, in dem die Unterzeichner vor der "Ideologisierung von Kulturinstituten" warnen und "besorgt" auf Probleme aufmerksam machen: "Das AfD-Papier funktioniert nicht zuletzt deshalb so gut, weil es die Entwicklung der Debatte Schritt für Schritt nachvollzieht. Statt sich wirklich mit den Theorien der Postkolonialisten zu beschäftigen, statt über Machtverhältnisse im Museum oder die Konstruktion des Fremden nachzudenken, setzen die meisten Tonangeber der deutschen Kulturpolitik darauf, das Thema auf die Verfahrensebene hinunterzukochen, an Kommissionen zu delegieren und im Kleinklein minutiöser Untersuchungen versickern zu lassen. So fällt es der AfD leicht, erst Widersprüche zwischen Absichten und Umsetzung zu entlarven und dann mit der mangelhaften Umsetzung die Absichten zu diskreditieren." Aber auch, wenn Marc Jongen in der "Brüsseler Erklärung" die Bedrohung der Kunstfreiheit anspricht, streift die AfD einen "wunden Punkt", schreibt Petra Kohse in der Berliner Zeitung und meint, politische Korrektheit und Inklusion seien inzwischen wichtiger als freie Fantasie.
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Internet

Rubens, drei Grazien. Prado.
Mark Zuckerberg findet zwar Holocaustleugnung auf Facebook akzeptabel (unser Resümee), hat aber ein Problem mit nackten Brüsten. Darum haben Direktoren flämischer Museen einen offenen Brief an Mark Zuckerberg geschrieben, berichtet unter anderem der Tagesspiegel: "Unanständig. Dies ist das Wort für die Brüste, Gesäße und die Cherubims von Peter Paul Rubens. Nicht unser, sondern Ihr Wort. Sie halten die von unseren Künstlern gemalten nackten Brüste für unangebracht. Wir haben festgestellt, dass Facebook Kunstwerke unseres geliebten Peter Paul Rubens konsequent ablehnt. Auch wenn wir heimlich darüber lachen müssen, macht uns Ihre Kulturszene das Leben schwer. Schließlich wollen wir Ihre Plattform nutzen, um für unsere beiden Flämischen Meister zu werben."

Sehr viel liberaler operiert Facebook im Fall des Alex Jones von der rechtsradikalen Seite Infowars, der den FBI-Ermittler Robert Mueller in einem Facebook-Video der Pädophilie beschuldigte und eine Geste des Erschießens machte, berichtet Charlie Warzel bei Buzzfeed: "Als sich Jones' Clip am Montagabend viral verbreitete, wurde er von mehreren Beobachtern als Gewaltdrohung markiert, was einen Verstoß gegen die Regeln von Facebook darstellen würde. Aber am Dienstagmorgen sagte ein Facebook-Sprecher zu Buzzfeed News, dass Jones' Kommentare nicht gegen die Community-Standards des Unternehmens verstoßen, da sie keine glaubwürdige Absichtserklärung sind, Gewalt zu begehen."

Weiße Männer aus Europa und Nordamerika schreiben rund 80 Prozent der Einträge bei Wikipedia, meldet Julia Jaki bei Zeit Online: "Das prägt die Inhalte. So gibt es auf Wikipedia eine Fülle an Informationen zu US-amerikanischen Fernsehserien oder europäischen Kriegen. Artikel beispielsweise über afrikanische Persönlichkeiten in afrikanischen Sprachen sind hingegen spärlich gesät. Wikipedia enthält heute mehr als 46 Millionen Artikel in fast 300 Sprachen. Wären diese paritätisch verteilt, wären in jeder Sprache etwa 150.000 Beiträge verfügbar. Doch das ist nicht der Fall: Allein fünf Millionen Artikel sind auf Englisch verfasst, nur circa 275.000 Beiträge in afrikanischen Sprachen."
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Politik

Wegen islamistischer Gruppen wie den Taliban oder Boko Haram, zum Teil auch wegen Kriegen wie in der Ukraine können Millionen Kinder nicht zur Schule gehen. Die taz stellt einen Bericht zu dieser Problematik vor, und Ralf Pauli kommentiert: "Von diesen Zusammenhängen ist allenfalls dann die Rede, wenn Gremien der Vereinten Nationen über globale Bildungs- und Entwicklungsziele sprechen. Viele PolitikerInnen in Europa tun aber so, als würde man Fluchtursachen wirksam bekämpfen, wenn man ein paar Jobs schafft. Fakt ist: Die Zivilgesellschaft solcher failed states, in denen der Staat die Sicherheit seiner BildungsbürgerInnen nicht garantieren kann, ist im wahrsten Sinne hilflos." In einem zweiten Artikel berichten taz-Korrespondenten aus den betroffenen Ländern.

Vetternwirtschaft, Korruption und Chaos regieren in Pakistan, schreibt der Historiker Markus Daechsel am heutigen Wahltag in der NZZ -  dank informeller Strukturen und Stärkung von Gruppenidentitäten funktionieren Wirtschaft und Gesellschaft trotzdem noch: "Auch der islamische Extremismus, der für viele, aber bei weitem nicht für alle politischen Gewaltakte verantwortlich ist, funktioniert nicht anders als 'säkulare' Identitäten und Ideologien. Er erzeugt Gruppensolidarität unter jungen Männern, die sich sonst im Kampf ums Überleben auf wenig verlassen können. Er bietet Netzwerke, die es Migranten erlauben, die Distanzen zwischen Stadt und Land und sogar zwischen Ländern und Kontinenten zu überwinden. Auch können von staatlichen Stellen, Arbeitgebern und Großgrundbesitzern Vorteile erpresst werden. Die Gewaltbereitschaft der Islamisten ist schützender Schild und Schwert für die, die dazugehören."

Richard Herzinger skizziert in der Welt einen neuen Konflikt, der nach der brutalen Normalisierung in Syrien anstehen könnte: "Israel will, dass Moskau für den Rückzug seines Kriegsverbündeten Iran aus Syrien sorgt. Diesbezügliche russische Zusagen sind jedoch trügerisch. Denn auch Putin und seinen Strategen dürfte klar sein, dass das von Teheran abhängige Assad-Regime ohne iranische Militärpräsenz kaum an der Macht zu halten wäre - und eine säuberliche Trennung zwischen 'regulärer' syrischer Armee und iranisch gesteuerten Hilfstruppen längst nicht mehr möglich ist."
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