9punkt - Die Debattenrundschau

Moralische Impulse

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.08.2019. Dass mit Mounir Baatour erstmals ein Homosexueller bei den tunesischen Präsidentschaftswahlen kandidiert, ist eine Sensation, schreibt Michaëlle Gagnet bei huffpo.fr - und schildert die drastische Unterdrückung der Schwulen in der einzigen arabischen Demokratie. In Zeit online plädiert der Philosoph Philipp Hübl für Nachdenken. taz und France Culture staunen über die religiöse Aufladung der Klimaproteste.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.08.2019 finden Sie hier

Politik

Dass mit Mounir Baatour erstmals ein Homosexueller bei den tunesischen Präsidentschaftswahlen am 15. September kandidiert, ist eine Sensation, schreibt die Dokumentarfilmerin und Autorin  Michaëlle Gagnet, die gerade ein Buch über Sex und Liebe im Maghreb verfasst hat, bei huffpo.fr. Denn Homosexuelle werden in der einzigen Demokratie der arabischen Welt scharf abgelehnt - auch von den den Modernisten: Nur 7 Prozent der Bevölkerung finden sie akzepabel. Auf Homosexualität steht Gefängnis - und viele Homosexuelle finden sich tatsächlich in Haft, oft zu sechst in Zwölfquadratmeterzellen. "Auf der Straße werden Homosexuelle oft angegriffen oder beleidigt, etwa hundert von ihnen werden Jahr für Jahr angeklagt, so der Verein Shams, der sich für Schwulenrechte in Tunesien einsetzt. Sie werden auch dem 'Analtest' unterworfen, einer Untersuchung, die 'Sodomie' nachweisen soll und die nur in acht Ländern anerkannt wird, darunter Tansania und Uganda. Diese Untersuchung, die auf Verlangen der Justiz von Gerichtsmedizinern durchgeführt wird, ist besonders demütigend und wird oft als eine Vergewaltigung erlebt." Mehr zu dem Buch Gagnats hier.
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Internet

Eine brasilianische Forschergruppe hat herausgefunden, dass die Empfehlungsalgorithmen bei Youtube tatsächlich zur politischen Radikalisierung beitragen (wobei nur die Radikalisierung auf der politischen Rechten untersucht wurde). Leonhard Dobusch resümiert die Studie auf Netzpolitik, weist aber auch auf die schwierige Analysegrundlage hin, da sich die Personalisierung von Empfehlungen in Studien schwer erfassen lasse: "Zusammengefasst befeuern die Ergebnisse der Studie von Ribeiro und Kollegen Diskussionen über unbeabsichtigte Effekte von Empfehlungsalgorithmen auf großen Online-Plattformen. Hinzu kommt, dass die Effekte bei Berücksichtigung von Empfehlungspersonalisierung eher noch stärker ausfallen dürften. Umso wichtiger ist deshalb die Frage, wie alternative Empfehlungsmechanismen gestaltet werden könnten, egal ob man diese dann als 'demokratische Algorithmen' bezeichnen möchte oder nicht."

Twitters vielfach herbeigewünschte "Richtlinie zur Integrität von Wahlen" hat ein kleines Problem: Sie versteht Satire nicht. Opfer des stumpfsinnigen Algorithmus wurde auch der Schriftsteller Tom Hillenbrand, dessen Account seit hundert Tagen gesperrt ist, worüber er sich im Interview mit der SZ aufregt: "Ich habe eine Reihe von satirischen Tweets abgesetzt: AfD-Wähler sollen ihre Wahlzettel unterschreiben und aufessen, FDP-Wähler ihre Stimme verkaufen, Grünen-Wähler mit ihrer Häkelgruppe über ihre Wahlabsichten reden und so weiter. Ein Klischee pro Partei, mittelmäßig originell, ganz bewusst mit Holzhammer-Ironie. Ich wollte Twitter testen." Nun, das ist ja gelungen. Vielleicht würde ein subtilerer Humor weiter tragen?
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Ideen

Es kommt nicht immer nur darauf an, dass man das "Richtige" denkt oder glaubt, meint in einem langen Interview mit Zeit online der Philosoph Philipp Hübl. Oft reicht es auch einfach, seine Emotionen zu zügeln: "Ich glaube, dass wir von der Möglichkeit, unsere emotionalen moralischen Intuitionen durch Nachdenken zu überprüfen, im Alltag zu wenig Gebrauch machen. In meinen Augen ist es Zivilisation, wenn wir es schaffen, unsere moralischen Impulse immer wieder zu überschreiben. Ein Beispiel: Wer in einem homophoben Elternhaus aufgewachsen ist, mag Unwohlsein empfinden, wenn er sieht, wie zwei Männer sich küssen. Die Frage ist dann: Handelt er auch danach und beschimpft die Männer oder kontrolliert er sich?"

Braucht der Liberalismus immer einen Gegner - Islamisten, Orban, Trump -, der ihm hilft, das eigene Profil zu schärfen, fragt sich in der SZ der Politologe Jan-Werner Müller und winkt gleich ab:  "Ein Liberalismus, der sich nur an Gegnern in der unmittelbaren Gegenwart abarbeitet und um der normativen Eindeutigkeit willen keine größeren strukturellen Herausforderungen sieht, verengt seine Perspektive ungebührlich - und produziert blinde Flecken."

Außerdem: In der NZZ skizziert der Historiker Niall Ferguson die neuesten "Feiglingsspiele" in der Weltpolitik.
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Europa

Russland dehnt die Grenze des abtrünnigen Südossetien zu Georgien durch Verschiebung der unklaren Demarkationslinie Stück für Stück aus. Die EU hat in der Gegend eine Beobachterkommission und schaut buchstäblich zu, erzählt Barbara Oertel in der taz, für die diese Politik die russische Taktik beispielhaft illustriert: Die Ohnmacht der EU "macht sich Moskau zunutze, um seine Politik in den ehemaligen Sowjetrepubliken durchzuziehen. Deren Prinzipien sind so absolut wie schlicht und durchsichtig: Konflikte, wie um Südossetien, maximal am Köcheln zu halten und innen- und außenpolitische Instabilität zu produzieren. Mit dem erwünschten Nebeneffekt, Beitrittsbestrebungen zu EU und Nato zu torpedieren, wenn nicht sogar zunichte zu machen. So versucht der Kreml seinen Einfluss in der Region zu zementieren."
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Stichwörter: Georgien, Russland, Südossetien, Nato

Gesellschaft

In der SZ resümiert Jörg Häntzschel zustimmend eine von der IFA in Auftrag gegebene, 150 Seiten starke Studie der Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel, die eine ganz neue auswärtige Kulturpolitik fordert, während sie die alte als rundheraus heuchlerisch anprangert. Deutschland solle aufhören, vermeintlich "deutsche" oder "europäische" Werte zu exportieren und statt dessen die eigene Gesellschaft umbauen: "Sigrid Weigel macht eine Reihe von Vorschlägen für europäische Kooperationen und Kulturnetzwerke. Doch viel wichtiger wäre es, Deutschlands Wandlung zu einer 'kulturell diversen Einwanderungsgesellschaft' zu akzeptieren und zu unterstützen. Die Grundlage dafür wäre ein neues Einwanderungsrecht und ein neues Konzept für Integration jenseits der gescheiterten Modelle Assimilation und Multikulturalismus. Weigel schwebt eine Integration als 'sozial und räumlich differenzierte kulturelle Praxis' vor, 'die im Alltag und überall stattfindet' und deren Schlüssel eine 'gesellschaftliche Kultur der Anerkennung' sei." Allerdings gilt das nur für eingewanderte Kulturen. Die deutsche Kultur braucht keine Anerkennung, denn sie existiert gar nicht, wird uns beschieden.

(Nachtrag vom 29.8.2019: Sigrid Weigel hat an unserem Absatz zwei Punkte beanstandet: Zunächst habe sie an keiner Stelle gesagt, die bestehende auswärtige Kulturpolitik sei rundheraus heuchlerisch, sondern vielmehr das Problem der Glaubwürdigkeit deutscher Politik thematisiert. Und zum zweiten habe sie nie behauptet, die deutsche Kultur brauche keine Anerkennung, weil sie nicht existiere, sondern dass die deutsche Nationalkultur im Sinne einer homogenen deutschen Kultur, wie sie dem Diskurs der Leitkultur zugrunde liegt, eine Fiktion sei.)

Wir befinden uns im "Greta-Moment" der politischen Linken, der totalen Kulpabilisierung des Konsumenten, konstatiert Isolde Charim in ihrer taz. Ihre Formel besage: "Nur strenge Konsumaskese des Einzelnen sei ein effizientes Vorgehen gegen die Klimakrise. Eine asketische Ideologie mit allem, was dazugehört: strenge Gewissens- und Schulddiskurse. Denunziation, gesellschaftliche Ächtung, Sozialkontrolle für Klimasünder. Mit steigender Tendenz."

Eine ähnliche Tendenz zur Moralisierung, ja zur religiösen Überhöhung, beobachtet Hervé Gardette in einer Kolumne für France Culture, dem Hashtags wie #PrayforAmazonia aufgefallen sind: "Es ist die Wahl des kollektiven Gebets als Mittel der Mobilisierung, die hier Fragen aufwirft. Erstens, weil ein Gebet es bis zum Beweis des Gegenteils nie vermocht hat, ein Feuer zu löschen (nicht einmal das von Notre Dame), zweitens, weil es von einem grundlegenden Trend zeugt, bei dem Umweltkämpfe immer mehr mit dem Spirituellen und dem Religiösen flirten. Und im Hintergrund spielt die morbide kleine Musik vom Ende der Welt. Lasst uns beten, denn das ist alles, was uns noch bleibt."

Passend dazu: Die Zeit hat Thomas E. Schmidts Artikel über die "Fallen grüner Politik" online nachgereicht: "Das Problem, an dem ein tatsächlich durchgesetzter Klimaschutz laboriert, besteht darin, dass er zwar Wissenschaft und Moral hinter sich weiß, selbst aber keine starke politische Idee ist."
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